Vier Fotografien des Kirioloj-Deltas

Es ist schwer, die Verrücktheit dieser Zeit wiederzugeben.

An manchen Tagen schien es fast wie eine Befreiung. Jenseits der Illusion des Himmels dehnte sich die Sonne weiter aus, Sterne verglühten oder wurden geboren, ein toter Planet war zum Leben erweckt worden und hatte eine Zivilisation hervorgebracht, die unserer eigenen gewachsen, wenn nicht gar überlegen war. In etwas näherer Umgebung wurden Regierungen gestürzt, und die an ihre Stelle traten, wurden ebenfalls zum Teufel gejagt, Religionen, Philosophien und Ideologien verwandelten sich, verschmolzen miteinander und zeugten mutierte Sprösslinge. Die alte, geordnete Welt zerbröckelte, neue Dinge sprossen in den Ruinen. Wir pflückten Liebesgrün und labten uns an seiner Säure. Molly Seagram, so meine Vermutung, liebte mich, weil ich verfügbar war. Und warum auch nicht? Der Sommer war am Schwinden und die Ernte ungewiss.

Die längst verblichene New-Kingdom-Bewegung erschien in der Rückschau sowohl vorausdeutend als auch etwas putzig, ihre schüchterne Rebellion gegen den alten kirchlichen Konsens war nur ein blasser Vorschein neuerer, verschärfter Formen der Hingabe. Überall in der westlichen Welt schossen Dionysoskulte aus dem Boden, ohne die Frömmigkeit und Heuchelei der alten NK — die letzten Endes auch nichts anderes gewesen war als ein mit Fahnen oder heiligen Symbolen drapierter Fickverein. Die menschliche Eifersucht wurde nicht verschmäht, sondern vielmehr bejaht oder sogar zelebriert: gekränkte Liebhaber griffen zur Pistole, erklärten sich auf kurze Entfernung und hinterließen eine rote Rose auf dem Körper des Opfers. Es war die Trübsalszeit, neu inszeniert als elisabethanisches Drama.

Simon Townsend, wäre er zehn Jahre später zur Welt gekommen, hätte sich vielleicht in einer dieser Spielarten von Spiritualität à la Quentin Tarantino wiedergefunden. Doch das Scheitern von NK hatte ihn desillusioniert und ihm die Sehnsucht nach etwas Schlichterem eingeimpft. Diane rief mich noch immer von Zeit zu Zeit an — vielleicht einmal im Monat, wenn die Vorzeichen günstig waren und Simon außer Haus —, um mich auf den neuesten Stand zu bringen oder einfach von früher zu reden, in den Erinnerungen zu stochern wie in der Ofenglut und sich daran zu wärmen. Zu Hause gab es offenbar nicht allzu viel Wärme, wenn sich auch die finanzielle Situation ein wenig verbessert hatte. Simon arbeitete Vollzeit beim Jordan Tabernacle, ihrer kleinen unabhängigen Kirche, und war zuständig für Wartungsarbeiten aller Art. Diane hatte einen Bürojob, eine unregelmäßige Tätigkeit, die ihr viel Zeit ließ, unruhig in der Wohnung herumzupusseln oder in die örtliche Bibliothek zu schleichen, um Bücher zu lesen, die Simon missbilligte: zeitgenössische Romane, aktuelle Sachbücher. Jordan Tabernacle, erklärte sie, sei eine Art »Aussteiger«-Kirche, die Gemeindemitglieder würden ermuntert, den Fernseher abzuschaffen und sich von Büchern, Zeitungen und anderen kurzlebigen kulturellen Erscheinungen fernzuhalten. Anderenfalls sie Gefahr liefen, der Entrückung in einem unreinen Zustand zu begegnen.

Diane verteidigte diese Ideen nicht — nie sprach sie zu mir im Predigerton —, aber sie beugte sich ihnen, vermied es aufs Sorgfältigste, sie in Zweifel zu ziehen. Manchmal verlor ich darüber ein bisschen die Geduld. »Diane«, sagte ich eines Abends. »Glaubst du ernsthaft an dieses ganze Zeug?«

»Welches Zeug, Tyler?«

»Such’s dir aus. Keine Bücher im Haus zu haben. Die Hypothetischen als Auslöser der Parusie. Dieser ganze Scheiß.« Ich hatte unter Umständen ein Bier zu viel getrunken.

»Simon glaubt daran.«

»Ich hab dich nicht nach Simon gefragt.«

»Simon ist gläubiger als ich, und ich beneide ihn darum. Ich weiß, wie sich das anhören muss. Wirf diese Bücher in den Müll — als würde er sich grässlich und arrogant aufführen. Eigentlich aber ist es ein Akt der Demut, ein Akt der Unterwerfung. Simon kann sich Gott auf eine Weise hingeben, die mir verschlossen ist.«

»Der Glückspilz.«

»Er ist ein Glückspilz. Du kannst es nicht sehen, aber er ist friedlich und gelassen. Er hat bei Jordan sein inneres Gleichgewicht gefunden. Er kann dem Spin ins Gesicht sehen und dabei lächeln, weil er weiß, dass er gerettet ist.«

»Was ist mit dir? Bist du nicht gerettet?«

Sie ließ ein langes Schweigen durch die Telefonleitung kriechen. »Ich wünschte, das wäre eine einfach zu beantwortende Frage. Ganz im Ernst. Ich denke immer wieder, dass es vielleicht gar nicht um meinen Glauben geht, vielleicht reicht Simons Glauben für uns beide aus. Weil er so stark ist, dass ich ein Stück weit davon getragen werde. Er ist wirklich sehr geduldig mit mir. Das Einzige, worum wir uns streiten, ist die Kinderfrage. Simon würde gern Kinder haben. Die Kirche ermuntert dazu. Und ich kann das verstehen, aber solange das Geld so knapp ist und — na ja — die Welt so ist, wie sie ist…«

»Das ist keine Entscheidung, die man unter Druck treffen sollte.«

»Ich wollte nicht andeuten, dass er mich unter Druck setzt. Leg es in Gottes Hände, sagt er. Leg es in Gottes Hände, und es wird gut werden.«

»Aber du bist zu klug, um das zu glauben.«

»Bin ich das? O Tyler, ich hoffe nicht. Ich hoffe wirklich, dass ich das nicht bin.«


Molly hingegen hatte keine Verwendung für »diesen ganzen Gott-Mist«, wie sie es nannte. Jeder ist seines Glückes Schmied, war ihre Philosophie. Vor allem, wenn die Welt in die Binsen gehe und keiner von uns älter als fünfzig werden würde. »Ich habe nicht die Absicht, bis dahin auf den Knien herumzurutschen.«

Sie war von Natur aus zäh. Sie kam aus einer Familie von Milchbauern, die einen zehnjährigen Rechtsstreit geführt hatte wegen eines Projekts zur Ölförderung aus Teersand, das an ihr Land grenzte und es langsam vergiftete. Im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung tauschten sie am Ende ihr Land gegen eine Abfindung, die groß genug war, um für einen sorgenfreien Ruhestand und eine anständige Ausbildung der Tochter aufzukommen. Trotzdem war es eine dieser Erfahrungen, so Molly, bei denen »selbst ein Engelsarsch Ausschlag kriegen würde«.

Was die gesellschaftlichen Entwicklungen betraf, konnte sie kaum etwas überraschen. Eines Abends saßen wir vor dem Fernseher und sahen einen Bericht über die Unruhen in Stockholm: Eine aus Kabeljaufischern und religiösen Fanatikern zusammengesetzte Menge warf Fenster ein und setzte Autos in Brand; Polizeihubschrauber beschossen den Mob mit klebrigem Gel, bis große Teile von Gamla Stan aussahen wie etwas, was ein Godzilla mit Tuberkulose ausgehustet haben könnte. Ich machte eine alberne Bemerkung darüber, wie schlecht sich die Leute benehmen würden, wenn sie Angst hätten, und Molly sagte: »Na komm, Tyler, hast du ernsthaft Verständnis für diese Arschlöcher?«

»Das hab ich nicht gesagt, Moll.«

»Wegen des Spins kriegen sie grünes Licht, ihr Parlamentsgebäude in Schutt und Asche zu legen. Warum? Weil sie Angst haben

»Es ist keine Entschuldigung. Es ist ein Motiv. Sie haben keine Zukunft. Sie glauben, sie haben nicht mehr lange zu leben.«

»Tja, willkommen im Klub. Wie originell. Sie müssen sterben, du musst sterben, ich muss sterben — wann wäre es je anders gewesen?«

»Nun, früher hatten wir den Trost, zu wissen, dass die menschliche Spezies auch ohne uns fortbestehen würde.«

»Aber Spezies sind auch sterblich. Geändert hat sich nur, dass dieses Ereignis nicht mehr in ferner nebliger Zukunft liegt. Gut möglich, dass wir alle zusammen in ein paar Jahren auf irgendeine spektakuläre Weise sterben werden — aber selbst das ist nur eine Möglichkeit. Könnte auch sein, dass die Hypothetischen uns noch ein bisschen länger leben lassen. Aus welchen Gründen auch immer.«

»Und das macht dir keine Angst?«

»Doch, natürlich. Das alles macht mir Angst. Aber das ist kein Grund, auf die Straße zu gehen und Leute umzubringen.« Sie deutete auf den Fernseher — jemand hatte eine Granate auf den Riksdag abgefeuert. »Das ist so überwältigend dumm. Es bewirkt gar nichts. Ein reines Abreagieren der Hormone. Auf dem Niveau von Affen.«

»Du kannst nicht so tun, als würde es dich nicht berühren.«

Sie überraschte mich dadurch, dass sie lachte. »Nein, das ist dein Stil, nicht meiner.«

»Ach ja?«

Sie wandte sich ab, kam dann aber wieder und sah mich fast trotzig an. »Du tust doch immer so cool, was den Spin angeht. Genau wie du cool tust, wenn es um die Lawtons geht. Sie benutzen dich, sie ignorieren dich, und du lächelst, als sei das die natürliche Ordnung der Dinge.« Sie wartete auf eine Reaktion. Ich war zu störrisch, ihr damit zu dienen. »Ich finde einfach, dass es bessere Möglichkeiten gibt, sich ins Ende der Welt zu ergeben.«

Sie wollte aber nicht sagen, was für Möglichkeiten das waren.


Jeder, der bei Perihelion arbeitete, hatte bei der Einstellung eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterzeichnet, und wir alle waren einer gründlichen Überprüfung durch das Heimatschutzministerium unterzogen worden. Wir waren diskret und sahen ein, dass Interna welcher Art auch immer nicht nach draußen sickern durften. Indiskretionen konnten parlamentarische Ausschüsse beunruhigen, mächtige Freunde in Verlegenheit bringen, Geldgeber abschrecken.

Aber jetzt hatten wir einen Marsianer im Gebäude — weite Teile des Nordflügels waren in eine vorübergehende Unterkunft für Wun Ngo Wen und seine Helfer umgewandelt worden —, und das war ein nur schwer zu hütendes Geheimnis.

Viel länger konnte es jedenfalls nicht mehr gewahrt werden. Als Wun in Florida eintraf, waren etliche Angehörige der Washingtoner Elite und einige ausländische Staatsoberhäupter bereits über ihn informiert. Das Außenministerium hatte ihm ad hoc vollen rechtlichen Status gewährt und beabsichtigte, ihn zum geeigneten Zeitpunkt auf internationaler Ebene vorzustellen. Seine Helfer waren schon dabei, ihn für den unvermeidlichen Medienaufruhr zu trainieren.

Das alles hätte anders gehandhabt werden können und vielleicht sogar sollen. Man hätte ihn den Vereinten Nationen überantworten und seine Anwesenheit sofort bekannt machen können. Die Regierung Garland musste mit scharfem Protest rechnen, weil sie ihn versteckt gehalten hatte. Die Christlich-Konservative Partei streute bereits Andeutungen, wonach »die Regierung über das Ergebnis des Terraformungprojekts mehr weiß, als sie zu erkennen gibt«, in der Hoffnung, damit den Präsidenten aus der Reserve zu locken oder Lomax, seinen designierten Nachfolger, der Kritik auszuliefern. Kritik würde es unvermeidlich geben, aber Wun hatte seinen Wunsch bekundet, nicht zum Wahlkampfthema zu werden. Er wolle sich der Öffentlichkeit stellen, sagte er, doch er werde damit bis zum November warten.

Wun Ngo Wens Existenz war allerdings nur das auffälligste der mit seiner Ankunft verbundenen Geheimnisse. Es gab noch andere. Und daraus entwickelte sich ein seltsamer Sommer bei Perihelion.

Jason bestellte mich im August in den Nordflügel. Ich traf ihn in seinem Büro — seinem wirklichen Büro, nicht der geschmackvoll eingerichteten Suite, in der er offizielle Gäste und die Presse begrüßte —, einem fensterlosen Würfel mit einem Schreibtisch und einem Sofa. Wie er so in Jeans und Sweatshirt auf seinem Stuhl hockte, rings um ihn Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften, sah er aus, als sei er aus dem ganzen Durcheinander herausgewachsen wie eine hydroponische Gemüsesorte. Er schwitzte. Kein gutes Zeichen bei Jason.

»Ich verliere wieder meine Beine«, sagte er.

Ich räumte ein bisschen Platz auf dem Sofa frei, setzte mich und wartete auf nähere Einzelheiten.

»Ein paar Wochen lang habe ich kleine Anfälle gehabt. Das Übliche. Nichts, was man nicht überspielen könnte. Aber es geht nicht weg. Es wird sogar schlimmer. Vielleicht müssen wir die Medikation anpassen.«

Vielleicht. Doch eigentlich gefiel es mir nicht, was die Medikamente in letzter Zeit mit ihm angestellt hatten. Jason nahm inzwischen täglich eine Hand voll von Pillen ein: Myelinaufbauer, um den Verlust von Nervengewebe zu verlangsamen, neurologische Anreger, die dem Gehirn helfen sollten, beschädigte Regionen neu zu vernetzen, und Sekundärmedikation gegen die Nebenwirkungen der Primärmedikation. Konnten wir die Dosis erhöhen? Möglicherweise. Doch das Verfahren hatte eine Toxizitätsgrenze, die schon jetzt bedenklich nahe gerückt war. Er hatte nicht nur einiges an Gewicht verloren, auch etwas womöglich noch Wichtigeres schien vom Verlust bedroht: ein gewisses emotionales Gleichgewicht. Jason redete schneller und lächelte seltener. Während er früher vollkommen in seinem Körper zu ruhen schien, bewegte er sich nun wie eine Marionette — wenn er etwa nach einem Becher griff, schoss seine Hand übers Ziel hinaus und musste behutsam zurückgesteuert werden.

»In jedem Fall«, sagte ich, »müssen wir Dr. Malmsteins Meinung einholen.«

»Es ist völlig ausgeschlossen, dass ich lange genug weg kann, um ihn aufzusuchen. Hier hat sich einiges verändert, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Können wir nicht eine telefonische Konsultation durchführen?«

»Vielleicht. Ich frage ihn.«

»Und könntest du mir inzwischen auch noch einen anderen Gefallen tun?«

»Was für einen, Jase?«

»Erkläre Wun mein Problem. Stell ein paar Bücher über das Thema für ihn zusammen.«

»Medizinische Bücher? Warum, ist er Arzt?«

»Nicht direkt, aber er hat eine Menge Informationen mitgebracht. In den biologischen Wissenschaften sind uns die Marsianer weit voraus.« Er sagte das mit einem schiefen Grinsen, das ich nicht interpretieren konnte. »Er meint, dass er vielleicht helfen kann.«

»Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst. Schau nicht so schockiert. Wirst du dich mit ihm unterhalten?«

Ein Mann von einem anderen Planeten. Ein Mann vor dem Hintergrund von einhunderttausend Jahren marsianischer Geschichte. »Nun… ja. Es wäre mir eine Ehre, mich mit ihm zu unterhalten.«

»Dann arrangiere ich das.«

»Aber sollte er über medizinische Kenntnisse verfügen, mit denen man AMS wirksam behandeln kann, dann müssen sie besseren Ärzten als mir zugänglich gemacht werden.«

»Wun hat ganze Enzyklopädien mitgebracht. Es sind bereits einige Leute dabei, sie zu durchforsten — Teile davon jedenfalls — und nach nützlichen Informationen, auch medizinischer Art, Ausschau zu halten. Das hier ist nur eine kleine Ablenkung für ihn.«

»Überrascht mich, dass er noch Zeit für kleine Ablenkungen hat.«

»Er langweilt sich häufiger, als du glaubst. Ihm fehlen einfach ein paar Freunde. Ich dachte mir, es würde ihm gefallen, sich einmal mit jemandem zu unterhalten, der ihn nicht für einen Erlöser hält. Oder für eine Bedrohung. Aber trotzdem möchte ich, dass du mit Malmstein redest.«

»Natürlich.«

»Und ruf ihn von dir zu Hause aus an. Ich traue den Telefonen hier nicht mehr.«

Er lächelte, als habe er etwas sehr Amüsantes gesagt.


In jenem Sommer ging ich hin und wieder am Strand spazieren, der von meinem Haus aus auf der anderen Seite des Highways lag.

Es war kein besonders toller Strand. Eine lange, unbebaute Landzunge schützte ihn vor Erosion und machte ihn für Surfer uninteressant. An heißen Nachmittagen begutachteten die alten Motels den Sand mit glasigen Augen, und ein paar schüchterne Touristen badeten ihre Füße in der Brandung.

Ich ging hinunter und setzte mich auf das heiße Holz eines über struppigem Gras schwebenden Laufstegs, um zuzusehen, wie sich die Wolken am östlichen Horizont versammelten, und über das nachzudenken, was Molly gesagt hatte: dass ich immer so gelassen täte, was den Spin — und die Lawtons — anging, und einen Gleichmut vor mich her trüge, der schlechterdings nicht echt sein konnte.

Ich wollte Molly Gerechtigkeit widerfahren lassen; vielleicht war das wirklich der Eindruck, den ich auf sie machte.

»Spin« war ein dummer, aber wohl unvermeidlicher Ausdruck für das, was mit der Erde geschehen war. Physikalisch gesehen lag er völlig daneben — es gab nichts, was sich schneller oder irgendwie heftiger drehte als früher —, doch als Metapher mochte er funktionieren. In Wirklichkeit war die Erde statischer als je zuvor — aber fühlte es sich nicht so an, als würde sie außer Kontrolle geraten? In jeder gewichtigen Hinsicht: ja. Man musste sich an irgendetwas festhalten, wenn man nicht ins Nichts trudeln wollte.

Vielleicht hielt ich mich also an den Lawtons fest, nicht nur an Jason und Diane, sondern an ihrem gesamten Universum, das Große Haus und das Kleine Haus, die verlorenen Kindheitsbindungen. Vielleicht war das der einzige Griff, den ich zu fassen kriegen konnte. Und vielleicht war das nicht unbedingt etwas Schlechtes. Wenn Molly Recht hatte, dann mussten wir uns alle an irgendetwas klammern, sonst waren wir verloren. Diane hatte sich an den Glauben geklammert, Jason an die Wissenschaft.

Und ich hatte mich an Jason und Diane geklammert.

Ich verließ den Strand, als die Wolken heraufzogen; der unvermeidliche Augustnachmittagsschauer näherte sich, am östlichen Himmel tobten bereits die Blitze, der Regen begann die traurigen Pastellbalkone der Motels zu peitschen. Als ich dann nach Hause kam, war ich klatschnass, und die Kleidung brauchte Stunden, um in der feuchten Luft zu trocknen. Bis zum Einbrach der Dunkelheit war der Sturm vorbei; er hinterließ eine übel riechende, dampfende Stille.

Nach dem Essen kam Molly und wir luden uns einen aktuellen Film herunter, eines von diesen viktorianischen Salonstücken, die sie so gern sah. Hinterher ging sie in die Küche, um uns Drinks zu mixen, während ich vom Telefon im Gästezimmer aus David Malmstein anrief. Er sagte, er würde Jason gern sehen, »so bald es sich einrichten lässt«, meinte aber, es sei in Ordnung, die Medikamentendosis ein bisschen zu erhöhen, solange Jase wie auch ich ein wachsames Auge auf eventuelle negative Reaktionen hätten.

Nach dem Gespräch verließ ich das Zimmer wieder und fand Molly im Flur, in jeder Hand ein Getränk und im Gesicht Verwirrung. »Wo warst du?«

»Hab nur mal eben telefoniert.«

»Irgendwas Wichtiges?«

»Nein.«

»Patientenkontrolle?«

»So ungefähr«, sagte ich.


Einige Tage später arrangierte Jason ein Treffen zwischen mir und Wun Ngo Wen in Wuns Unterkunft bei Perihelion.

Der marsianische Botschafter wohnte in einem Zimmer, das er, mit Hilfe von Katalogen, ganz nach seinem eigenem Geschmack eingerichtet hatte. Die Möbel waren leichtgewichtig, Rattan, niedrig gebaut; ein Flickenteppich bedeckte den Linoleumfußboden, auf einem schlichten Schreibtisch aus unbehandeltem Kieferholz stand ein Computer; es gab mehrere zum Schreibtisch passende Bücherborde. Marsianer richteten sich offenbar genauso ein wie jung verheiratete Studenten.

Ich versorgte Wun mit dem Studienmaterial, das er sich gewünscht hatte: Bücher über Ätiologie und Behandlung der multiplen Sklerose, dazu eine Reihe von Sonderdrucken der JAMA über AMS. AMS hatte nach neuerer Auffassung gar nichts mit MS zu tun; es war eine völlig andere Krankheit, eine genetische Funktionsstörung mit MS-artigen Symptomen und einem ähnlichen Verschleiß der Myelinhüllen, die das menschliche Nervengewebe schützen; erkennbar an der Schwere der Symptome, dem raschen Fortschreiten und der Resistenz gegen die Standardbehandlung. Wun erklärte, er sei mit dem beschriebenen Zustand zwar nicht vertraut, werde aber in seinen Archiven nach Informationen suchen.

Ich dankte ihm, wandte allerdings zugleich ein, dass er kein Arzt und die marsianische Physiologie überaus ungewöhnlich sei. Selbst wenn er eine geeignete Therapie finden würde — würde sie auch bei Jason wirken?

»Wir sind nicht so verschieden, wie Sie vielleicht glauben. Eine der ersten Maßnahmen, die Ihre Leute ergriffen haben, bestand darin, meine Genomsequenz zu entschlüsseln. Sie ist von Ihrer nicht zu unterscheiden.«

»Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kränken.«

»Ich bin nicht gekränkt. Hunderttausend Jahre sind eine lange Zeit der Separation, lang genug für das, was die Biologen als Artbildung bezeichnen. Und doch sind unsere beiden Populationen, Ihre und meine, untereinander uneingeschränkt fortpflanzungsfähig. Die auffälligen Unterschiede zwischen uns sind nur oberflächliche Anpassungen an kältere, trockenere Lebensbedingungen.« Er sprach mit einer Autorität, die seiner Statur widersprach. Seine Stimme war höher als die eines durchschnittlichen Erwachsenen, hatte jedoch nichts Jugendliches an sich; ein singender, fast femininer Tonfall, der zugleich immer staatsmännisch klang.

»Dennoch würden wir es unter Umständen mit rechtlichen Problemen zu tun bekommen, falls es um eine Therapie geht, die nicht die einschlägigen Genehmigungsverfahren durchlaufen hat.«

»Ich bin sicher, Jason wäre bereit, auf die offizielle Anerkennung zu warten. Seine Krankheit ist allerdings womöglich weniger geduldig.« Wun hob die Hand, um weiteren Einwänden zuvorzukommen. »Lassen Sie mich erst einmal lesen, was Sie mir gebracht haben. Dann sprechen wir weiter.«

Daraufhin bat er mich, noch ein wenig zu bleiben und zu plaudern. Ich fühlte mich geschmeichelt. Ungeachtet seiner fremdartigen Erscheinung hatte Wuns Präsenz etwas Beruhigendes, eine auf sein Gegenüber ausstrahlende Entspanntheit. Er lehnte sich in seinem Rattansessel zurück, ließ die Füße baumeln und hörte sich mit augenscheinlicher Faszination einen kurzen Abriss meines Lebens an. Er stellte einige Fragen über Diane — »Jason erzählt nicht viel von seiner Familie« — und über die medizinische Ausbildung — das Konzept der Sektion von Leichen war ihm neu; er zuckte zusammen, als ich den Vorgang beschrieb.

Dann, als ich ihn meinerseits über sein Leben befragte, griff er in den kleinen grauen Ranzen, den er bei sich trug, und zog eine Reihe vom Ausdrucken hervor, Fotografien, die er als Digitaldateien mit auf seine Reise genommen hatte. Vier Bilder vom Mars.

»Nur vier?«

Er zuckte mit den Achseln. »Keine Zahl wäre groß genug, die Erinnerungen zu ersetzen. Und natürlich befindet sich noch viel mehr Bildmaterial in den offiziellen Archiven. Dies hier sind meine Bilder. Meine persönlichen. Möchten Sie sie sehen?«

»Ja, natürlich.«

Er reichte sie mir.

Foto 1: Ein Haus. Offensichtlich, trotz der seltsamen Techno/ Retro-Architektur, eine menschliche Wohnstatt, niedrig und rund, wie das Porzellanmodell einer Grashütte. Der Himmel dahinter war strahlend türkisfarben, jedenfalls hatte der Drucker ihn so wiedergegeben. Der Horizont war seltsam nahe, aber geometrisch flach, unterteilt in immer kleiner werdende Rechtecke von Anbaufeldern. Die Feldfrucht konnte ich nicht identifizieren, doch sie war zu fleischig, als dass es Weizen oder Mais sein konnte, und zu groß für Feldsalat oder Grünkohl. Im Vordergrund standen zwei erwachsene Marsianer, Mann und Frau, mit komisch ernsten Gesichtern. Marsianische Gotik. Fehlte nur noch eine Heugabel und die Signatur von Grant Wood. »Meine Mutter und mein Vater«, sagte Wun schlicht.

Foto 2: »Ich als Kind.« Dieses Bild war verblüffend. Die faltige Haut der Marsianer entwickelt sich, wie Wun erläuterte, in der Pubertät. Im Alter von ungefähr sieben terrestrischen Jahren hatte Wun ein glattes, lächelndes Gesicht. Er sah aus wie ein normales Erdenkind, wenn man auch die ethnische Zugehörigkeit nicht so recht hätte zuordnen können — blonde Haare, kaffeebraune Haut, schmale Nase und großzügige Lippen. Das Ambiente, in dem er posierte, sah aus wie ein exzentrischer Themenpark, war jedoch, so Wun, eine marsianische Stadt. Ein Marktplatz. Läden und Lebensmittelstände, die Gebäude aus dem gleichen porzellanartigen Material wie das Farmhaus, in knalligen Primärfarben. Auf der Straße hinter ihm drängte sich der Verkehr auf zwei Rädern und zu Fuß. Nur ein schmaler Himmelsstreifen war zwischen den höchsten Gebäuden zu sehen, und auch hier war im Augenblick der Aufnahme ein Fahrzeug hindurchgefahren, dessen windrädchenartige Blätter in dem blassen Oval verschwammen.

»Sie sehen glücklich aus«, sagte ich.

»Die Stadt heißt Voy Voyud. Wir sind an diesem Tag zum Einkaufen hingefahren. Weil es Frühling war, haben meine Eltern mir erlaubt, Murkuds zu kaufen. Kleine Tiere, wie Frösche. Als Haustiere. In dem Beutel, den ich in der Hand halte — sehen Sie?«

Wun umklammerte einen weißen Stoffbeutel, der einige Klumpen enthielt. Murkuds.

»Sie leben nur fünf Wochen«, sagte er. »Aber ihre Eier sind köstlich.«

Foto 3: Bot einen Panoramablick. Im Vordergrund: noch ein marsianisches Haus, eine Frau in einem bunten Kaftan — seine Ehefrau, erläuterte Wun — und zwei glatthäutige hübsche Mädchen in sackartigen goldgelben Kleidern — seine Töchter. Das Bild war von einem erhöhten Punkt aus aufgenommen worden. Hinter dem Haus: grüne sumpfige Felder, die sich unter einem wiederum türkisfarbenen Himmel sonnten. Das Ackerland war durch erhöhte Straßen unterteilt, auf denen einige klobige Fahrzeuge unterwegs waren, und auf den Feldern stand landwirtschaftliches Gerät, schwarze, seltsam anmutige Erntemaschinen. Und am Horizont, dort wo die Straßen zusammenliefen: die Stadt, dieselbe Stadt, so Wun, wo er als Kind Murkuds gekauft hatte, Voy Voyud, die Hauptstadt der Provinz Kirioloj mit ihren hohen, terrassenförmig angelegten, auf die geringe Gravitation ausgerichteten Türmen.

»Sie können den größten Teil des Kiriolojdeltas auf diesem Bild sehen.« Der Fluss war ein blaues Band, das einen See speiste, dessen Farbe der des Himmels glich. Die Stadt Voy Voyud sei auf erhöhtem Grund erbaut worden, dem erodierten Rand eines Meteoritenkraters, erklärte Wun, aber für mich sah es wie eine gewöhnliche Hügelkette aus. Schwarze Punkte auf dem fernen See mochten Boote oder Lastkähne sein.

»Das ist sehr schön«, sagte ich.

»Ja.«

»Die Landschaft, aber auch Ihre Familie.«

»Ja.« Er sah mich an. »Sie sind tot.«

»Ah — das tut mir Leid.«

»Vor einigen Jahren bei einer Überschwemmung ums Leben gekommen. Die letzte Fotografie, sehen Sie? Das ist der gleiche Bildausschnitt, kurz nach der Katastrophe aufgenommen.«

Ein ungewöhnlich heftiger Sturm hatte nach einer langen Trockenzeit Rekordmengen von Regen auf die Hänge der Solitary Mountains abgeladen, und der Großteil des Regenwassers war in die ausgedörrten Nebenflüsse des Kirioloj geleitet worden. Der terrageformte Mars war in mancher Hinsicht noch immer eine junge Welt, deren hydrologische Kreisläufe noch nicht stabil waren, deren Landschaften sich noch in Entwicklung befanden. In der Folge des plötzlichen extremen Regens bildeten sich Unmengen von oxidrotem Schlamm, der den Kirioloj hinunterdonnerte und wie ein flüssiger Güterzug in das landwirtschaftliche Delta einfiel.

Foto 4: Danach. Von Wuns Haus waren nur das Fundament und eine einzelne Mauer geblieben, die wie Keramikscherben aus einem wüsten Durcheinander von Schlamm und Schutt ragten. Die ferne Stadt auf dem Hügel war unangetastet geblieben, aber das fruchtbare Ackerland lag unter Schlamm begraben. Von dem glitzernd braunem Wasser des Sees abgesehen, war dies ein in seinen jungfräulichen Zustand zurückgekehrter Mars, lebloser Regolith. Mehrere Luftfahrzeuge schwebten über der Szenerie, vermutlich auf der Suche nach Überlebenden.

»Ich hatte mit Freunden zusammen einen Tag im Vorgebirge verbracht, und bei der Rückkehr fand ich dies hier vor. Viele Menschen sind umgekommen, nicht nur meine Familie. Ich bewahre diese Fotografien auf, um mich daran zu erinnern, wo ich herkomme. Und warum ich nicht zurück kann.«

»Es muss unerträglich gewesen sein.«

»Ich habe meinen Frieden damit geschlossen, so weit das überhaupt geht. Als ich den Mars verließ, hatte man das Delta wiederhergestellt. Nicht so wie früher, natürlich. Aber fruchtbar, lebendig.«

Das schien alles zu sein, was er zu dem Thema sagen wollte.

Ich sah mir die Bilder noch einmal an und machte mir bewusst, was ich da sah: Nicht irgendwelche raffinierten CGI-Effekte, sondern gewöhnliche Fotos. Fotos einer anderen Welt. Fotos vom Mars, einem Planeten, der schon lange als Objekt unserer maßlosen Fantasie diente. »Es ist nicht Burroughs, ganz bestimmt nicht Wells, vielleicht ein bisschen Bradbury…«

Wun runzelte die Stirn. »Entschuldigung, diese Wörter sind mir nicht bekannt.«

»Das sind Schriftsteller. Romanschriftsteller, die über Ihren Planeten geschrieben haben.«

Nachdem ich ihm das erläutert hatte — dass bestimmte Schriftsteller, lange vor der tatsächlichen Terraformung, sich einen lebendigen Mars vorgestellt hatten —, war Wun völlig fasziniert. »Wäre es möglich, dass ich einige dieser Bücher lesen kann? Und wir bei Ihrem nächsten Besuch darüber sprechen?«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Aber glauben Sie, dass Sie die Zeit erübrigen können? Sicherlich gibt es etliche Staatsoberhäupter, die sich gern mit Ihnen unterhalten würden.«

»Ganz bestimmt. Aber die können warten.«

Ich sagte ihm, dass ich mich darauf freue.

Auf der Rückfahrt machte ich mich über ein Antiquariat her, und am nächsten Morgen lieferte ich einen Packen von Taschenbüchern bei Wun ab, genauer gesagt, bei den wortkargen Männern, die sein Quartier bewachten. »Krieg der Welten«, »Die Prinzessin vom Mars«, »Die Mars-Chroniken«, »Fremder in einer fremden Welt«, »Roter Mars«.

Etliche Wochen lang hörte ich nichts mehr von ihm.


Die Bauarbeiten bei Perihelion gingen weiter. Bis Ende September hatte sich ein massives Betonfundament auf dem neuen Gelände breitgemacht, dort, wo vorher Kiefergestrüpp und einige jämmerliche Palmen gestanden hatten, und eine mächtige Takelage aus Stahlträgern und Aluminiumrohren erhob sich.

Ein weiteres Abendessen im Champs, die meisten Gäste starrten gebannt auf den plakatwandgroßen Plasmabildschirm, auf dem ein Spiel der Martins zu sehen war, während Molly und ich uns in einer dunklen Ecke einen Vorspeisenteller teilten. Sie hatte gehört, dass in der folgenden Woche sündhaft teure Labor- und Kühlungsgeräte erwartet wurden. »Wozu brauchen wir Laborausrüstung, Ty? Bei Perihelion geht’s doch um Weltraumforschung und den Spin. Ich versteh das nicht.«

»Ich habe keine Ahnung. Niemand redet darüber.«

»Du könntest ja mal Jason fragen, an einem der Nachmittage, die du im Nordflügel verbringst.«

Ich hatte ihr nicht erzählt, dass mich ein Marsianer zum regelmäßigen Gesprächspartner auserkoren hatte, sondern vorgegeben, ich würde mich mit Jase treffen. »Dazu reicht mein Sicherheitsstatus nicht.« Was für Molly natürlich erst recht galt.

»Allmählich glaube ich, dass du mir nicht traust.«

»Ich halte mich nur an die Regeln, Moll.«

»Genau. Du bist ja so ein Heiliger.«


Ohne sich vorher anzukündigen — zum Glück an einem Abend, an dem Molly nicht da war —, stand plötzlich Jason vor meiner Tür, um über seine Medikamente zu sprechen. Ich gab weiter, was Malmstein gesagt hatte, dass es wohl okay sei, die Dosis zu erhöhen, wir aber auf Nebenwirkungen würden aufpassen müssen. Die Krankheit entwickele sich weiter, und unsere Möglichkeiten, die Symptome zu unterdrücken, würden irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Das bedeute aber nicht, dass sein Schicksal besiegelt sei, sondern, dass er früher oder später seine Geschäfte eben auf andere Weise würde betreiben müssen — sich der Krankheit anpassen, statt sie zu unterdrücken. (Jenseits davon wartete eine weitere Schwelle, auf die ich aber nicht einging: Schwerstbehinderung und Demenz.)

»Ich verstehe«, sagte Jason. Er saß, die Beine übereinander geschlagen, auf einem Sessel am Fenster und warf gelegentlich einen Blick auf sein darin erscheinendes Spiegelbild. »Alles, was ich brauche, sind noch ein paar Monate.«

»Ein paar Monate wofür?«

»Ein paar Monate, um E. D. Lawton zu Fall zu bringen.« Ich starrte ihn an, hielt es für einen Witz. Doch er lächelte nicht. »Muss ich das erklären?«

»Wenn du willst, dass ich es begreife, ja.«

»E. D. und ich haben divergierende Ansichten über die weitere Zukunft von Perihelion. Für ihn existiert Perihelion nur, um die Raumfahrtindustrie zu unterstützen. Das war von Anfang an das Einzige, was ihn interessierte. Er hat nie geglaubt, dass wir etwas gegen den Spin unternehmen können.« Jason zuckte mit den Achseln. »Nun, er hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Recht — in dem Sinne, dass wir ihn nicht beseitigen können. Aber das heißt nicht, dass wir ihn nicht verstehen könnten. Wir können natürlich keinen Krieg gegen die Hypothetischen führen, aber wir können ein wenig Guerilla-Wissenschaft betreiben. Das ist es, worum es bei Wuns Besuch geht.«

»Ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Wun ist nicht einfach nur ein interplanetarischer Goodwill-Botschafter. Er ist mit einem Plan hierher gekommen, mit einem Vorschlag für ein gemeinsames Unternehmen, das uns einige Informationen über die Hypothetischen verschaffen könnte — woher sie kommen, was sie wollen, was sie mit den beiden Planeten anstellen. Die Reaktionen auf diese Idee sind gemischt. E. D. versucht, das Ganze zu torpedieren — er hält es für unnütz und befürchtet, dass es das politische Kapital gefährdet, das uns nach der Terraformung noch verblieben ist.«

»Und deshalb willst du ihn absägen?«

Er seufzte. »Es mag grausam klingen, aber E. D. begreift nicht, dass seine Zeit vorbei ist. Mein Vater ist genau das, was die Welt vor zwanzig Jahren gebraucht hat. Ich bewundere ihn dafür. Er hat Erstaunliches, ja Unglaubliches geleistet. Hätte E. D. den Politikern nicht Dampf gemacht, gäbe es kein Perihelion. Aber eine der Ironien des Spins liegt darin, dass sich die langfristigen Folgen von E. D. Lawtons Genie jetzt gegen ihn wenden — wenn es keinen E. D. gegeben hätte, würde Wun Ngo Wen heute nicht existieren. Das ist kein ödipaler Konflikt, der mich hier umtreibt, ich weiß genau, wer mein Vater ist und was er getan hat. Er ist in den Fluren der Macht zu Hause, Garland ist sein Golfkamerad. Großartig. Aber er ist auch ein Gefangener, ein Gefangener seiner Kurzsichtigkeit. Die Zeiten, als er noch visionär gedacht hat, sind vorbei. Er mag Wuns Plan nicht, weil er der Mars-Technologie misstraut, er mag keine Sachen, an denen er nicht selber rumbasteln kann, mag es nicht, dass die Marsianer ganz selbstverständlich über Technologien verfügen, von denen wir allenfalls eine leise Ahnung haben. Und er kann es überhaupt nicht ab, dass ich auf Wuns Seite stehe. Ich und, wie ich hinzufügen möchte, eine neue Generation von Politikern, einschließlich Preston Lomax, der wahrscheinlich nächste Präsident. Plötzlich ist E. D. umgeben von Leuten, die er nicht manipulieren kann. Jüngere Leute, die den Spin auf eine ganz andere Weise erfahren, verarbeitet haben als E. D.s Generation. Leute wie wir, Ty.«

Ich fühlte mich durchaus geschmeichelt, war aber gleichzeitig erschrocken, in dieses Pronomen mit eingeschlossen zu sein. »Du mutest dir ganz schön viel zu, Jase?«

Er sah mich scharf an. »Ich tue genau das, was E. D. mir beigebracht hat. Von Geburt an. Er wollte nie einen Sohn, er wollte einen Erben, einen Lehrling. Er hat diese Entscheidung lange vor dem Spin getroffen. Er wusste genau, wie intelligent ich war, und er hatte eine genaue Vorstellung davon, was ich mit dieser Intelligenz anstellen sollte. Ich habe mich darauf eingelassen, und als ich längst alt genug war, um zu begreifen, was er vorhatte, habe ich weiter mitgemacht. Und hier bin ich also, eine E. D.-Lawton-Produktion: das aufgeweckte, gutaussehende, medienkompatible Objekt, das du vor dir siehst — ein vermarktbares Image, ein gewisser intellektueller Weitblick und keinerlei Loyalitäten, die nicht von vorn bis hinten auf Perihelion gerichtet sind. Aber da war immer eine kleine Zusatzklausel in diesem Vertrag, auch wenn E. D. daran nicht gern erinnert wird. Wo ein Erbe ist, muss es auch eine Erbschaft geben. Woraus folgt, dass an irgendeinem Punkt mein Urteil gewichtiger wird als seins. Nun, dieser Punkt ist erreicht. Die Chance, die sich uns eröffnet, ist einfach zu kostbar, um sie ungenutzt zu lassen.«

Seine Hände, fiel mir auf, waren zu Fäusten geballt und seine Beine zitterten. War das den starken Emotionen geschuldet oder ein Symptom seiner Krankheit? Ja, wie viel von seinem Monolog war echt und wie viel davon ein Produkt der Neurostimulanzien, die ich ihm verordnete?

»Du siehst aus, als wärst du gegen eine Wand gelaufen«, sagte Jason.

»Von was für einer marsianischen Technologie sprechen wir hier eigentlich?«

Er grinste. »Sie ist wirklich sehr clever. Quasibiologisch. Sehr klein. Molekulare autokatalytische Rückkopplungsschleifen mit ins Reproduktionsprotokoll eingeschriebener kontingenter Programmierung.«

»Könntest du das übersetzen?«

»Kleine, winzige, künstliche Replikatoren.«

»Lebendig?«

»In gewissem Sinne ja, lebende Dinge. Künstliche lebende Dinge, die wir ins All schießen können.«

»Und was tun sie dann?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Sie fressen Eis und sie scheißen Information.«

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