Die kalten Orte des Universums

Nach einer späten Sitzung bei Perihelion fuhr ich freitagabends nach Hause, schloss die Wohnungstür auf und sah Molly an meinem Computer sitzen.

Der Schreibtisch im Wohnzimmer stand vor einem Fenster, von der Tür abgewandt. Molly drehte sich halb um und warf mir einen erschrockenen Blick zu. Gleichzeitig klickte sie auf ein Symbol und schloss das laufende Programm.

»Molly?«

Ich war nicht überrascht, sie hier anzutreffen. Sie verbrachte die meisten Wochenenden bei mir und besaß einen Zweitschlüssel. Aber bislang hatte sie nie ein Interesse an meinem PC gezeigt.

»Du hast nicht angerufen«, sagte sie.

Ich hatte eine Besprechung mit Vertretern jener Versicherung gehabt, die den Schutz der Perihelion-Angestellten garantierte. Man hatte mir gesagt, ich solle mich auf eine zweistündige Sitzung einrichten, doch dann stellte sich heraus, dass es nur um ein paar Neuerungen im Rechnungsverfahren ging, und als dies nach zwanzig Minuten erledigt war, fand ich, es wäre unkomplizierter, einfach gleich nach Hause zu fahren — vielleicht würde ich sogar noch vor Molly ankommen, falls sie irgendwo angehalten hatte, um Wein zu besorgen. Jedenfalls war die Wirkung von Mollys langem festem Blick, dass ich mich bemüßigt fühlte, ihr all dies erst zu erklären, bevor ich sie fragte, was sie da in meinen Dateien suche.

Sie lachte, so ein verlegenes, entschuldigendes Lachen: Na, da hast du mich aber bei was Komischem erwischt… Ihre rechte Hand schwebte weiter über dem Touchpad. Sie drehte sich wieder zum Bildschirm. Der Cursor wischte auf das Shutdown-Symbol zu.

»Warte«, sagte ich und ging zu ihr hinüber.

»Willst du auch noch mal ran?«

Der Cursor setzte sich auf sein Ziel. Ich legte meine Hand über Mollys. »Eigentlich würde ich gern wissen, was du da gemacht hast.«

Sie war angespannt, eine Ader pochte in der rosigen Haut direkt vor ihrem Ohr. »Hab’s mir gemütlich gemacht. Ähm, ein bisschen zu gemütlich? Dachte nicht, dass du was dagegen haben würdest.«

»Wogegen, Moll?«

»Dagegen, dass ich deinen Computer benutze.«

»Wofür benutzen?«

»Nichts weiter. Nur mal angucken.«

Doch es konnte kaum das Gerät sein, auf das Molly neugierig war. Es war fünf Jahre alt, praktisch eine Antiquität — bei Perihelion war sie viel besser ausgerüstet. Und ich hatte das Programm erkannt, das sie so eilig verlassen hatte, als ich durch die Tür kam. Es war mein Haushaltsorganisator, das Programm, das ich verwendete, um Rechnungen zu bezahlen, mein Konto zu führen und meine privaten und beruflichen Kontakte zu verwalten.

»Sah irgendwie aus wie eine Tabellenkalkulation«, sagte ich.

»Ich bin nur ein bisschen rumgewandert. Dein Desktop hat mich verwirrt. Du weißt ja, jeder organisiert seine Sachen auf andere Weise. Tut mir Leid, Tyler. Da war ich wohl ein bisschen unverschämt.« Sie zog ihre Hand unter meiner weg und klickte auf Shutdown. Der Desktop schrumpfte zusammen, das Belüftungsgeräusch des Prozessors erstarb mit einem klagenden Ton. Sie stand auf, strich ihre Bluse glatt. Molly strich immer irgendetwas glatt, wenn sie sich erhob, immer alles auf Vordermann bringen. »Wie wär’s, wenn ich jetzt das Abendessen mache.« Sie kehrte mir den Rücken zu und ging Richtung Küche.

Ich sah zu, wie sie durch die Schwingtüren verschwand. Nachdem ich bis zehn gezählt hatte, folgte ich ihr.

Sie war dabei, Töpfe aus dem Wandregal zu ziehen. Sie drehte mir den Kopf zu, sah dann wieder weg.

»Molly«, sagte ich. »Wenn es irgendetwas gibt, was du wissen möchtest, brauchst du nur zu fragen.«

»Ach, brauch ich nur? Okay.«

»Molly…«

Sie stellte einen Topf auf die Herdplatte, mit übertriebener Vorsicht, so als sei er zerbrechlich. »Soll ich mich noch einmal entschuldigen? Na gut, Tyler. Es tut mir Leid, dass ich mit deinem Computer gespielt habe, ohne dich um Erlaubnis zu fragen.«

»Ich habe keine Anschuldigungen erhoben, Molly.«

»Warum reden wir dann noch darüber? Ich meine, warum sieht es so aus, als würden wir den ganzen Rest des Abends noch darüber reden müssen?« Ihre Augen wurden feucht, ihre getönten Linsen nahmen eine noch dunklere Grünfärbung an. »Ich hab mich eben nur ein bisschen für dich interessiert.«

»Wofür interessiert, für meine Warmwasserrechnung?«

»Für dich.« Sie zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor. Ein Stuhlbein verfing sich an einem Tischbein, und Molly riss den Stuhl energisch los. Sie setzte sich und verschränkte die Arme. »Ja, vielleicht sogar für so triviales Zeug.« Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. »Ich sage das, und es klingt, als wäre ich irgendeine Art Stalker. Aber ja, deine Wasserrechnung, deine Zahnpastamarke, deine Schuhgröße. Ja, ich möchte das Gefühl haben, dass ich ein bisschen mehr für dich bin als dein Wochenendfick. Geb ich zu.«

»Dafür müsstest du nicht in meine Dateien gehen.«

»Hätt ich vielleicht nicht getan, wenn…«

»Wenn?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mit dir streiten.«

»Manchmal ist es besser, etwas zu Ende zu bringen, was man angefangen hat.«

»Na ja, das zum Beispiel: Immer wenn du dich bedroht fühlst, ziehst du diese distanzierte Nummer ab. Machst einen auf sachlich, ganz kühl und analytisch, als wäre ich eine Naturdoku im Fernsehen oder so was. Die Glaswand. Die Glaswand ist immer da, nicht wahr? Und die ganze Welt ist auf der anderen Seite. Deshalb redest du nicht über dich selbst. Deshalb muss ich ein ganzes Jahr warten, bis du mal merkst, dass ich mehr bin als ein Stück Mobiliar. Dieser kühle Blick, der das Leben beobachtet, als wären’s die Abendnachrichten, als wäre es irgendein Krieg am anderen Ende der Welt, wo die Leute alle unaussprechliche Namen haben.«

»Molly…«

»Ist mir schon klar, dass wir alle irgendwie verkorkst sind, Tyler, hineingeworfen in dieses Leben mit dem Spin. Kein Wunder. Prätraumatische Belastungsstörung, oder wie habt ihr das noch mal genannt? Die Generation der Grotesken. Deswegen sind wir alle geschieden oder promisk oder hyperreligiös oder depressiv oder manisch oder leidenschaftslos. Wir alle haben eine wirklich gute Entschuldigung für unser schlechtes Benehmen, ich eingeschlossen, und wenn es diese unerschütterliche Säule kalkulierter Hilfsbereitschaft ist, die du darstellen musst, damit du über die Runden kommst, dann ist das okay, dann verstehe ich das. Aber es ist genauso okay, wenn ich mehr möchte. Nein, es ist nicht nur okay, sondern es ist sogar ein ganz natürliches Bedürfnis, wenn ich dich berühren möchte. Nicht nur mit dir vögeln. Dich berühren.« Als sie merkte, dass sie fertig war, faltete sie die Arme wieder auseinander, sah mich an, wartete auf eine Reaktion.

In Gedanken entwarf ich eine Antwortrede. Ich empfände durchaus leidenschaftlich für sie. Es mochte nicht so offensichtlich gewesen sein, aber ich hätte sie von Anfang an, seit ich zu Perihelion gekommen sei, sehr bewusst wahrgenommen. Die Konturen und Bewegungen ihres Körpers, die Art, wie sie stand oder ging, sich streckte oder gähnte, ihre pastellfarbene Kleidung und den Schmetterling, den sie an einer dünnen silbernen Kette trug. Sehr wohl hätte ich all das wahrgenommen, ihre Stimmungen und Launen und den ganzen Katalog ihres Lächelns, ihres Stirnrunzelns, ihrer Gesten. Wenn ich meine Augen schlösse, sähe ich ihr Gesicht, wenn ich schlafen ginge, sei es das, was ich vor Augen hätte. Ich liebte ihre Oberfläche und ihre Substanz: den Salzgeschmack ihres Halses und die Modulationen ihrer Stimme, die Kurven ihrer Finger und die Worte, die diese auf meinen Körper schrieben… Ich dachte an all das und brachte es doch nicht über mich, es ihr zu sagen. Nicht, dass es unbedingt gelogen gewesen wäre. Aber es war auch nicht unbedingt die Wahrheit.

Am Ende versöhnten wir uns mit unverbindlicheren Nettigkeiten, mit zwei, drei Tränen und beschwichtigenden Umarmungen, wir ließen das Thema fallen und ich spielte den Hilfskoch, während sie eine sehr gute Pastasoße zusammenbraute. Die Spannung löste sich langsam, und als es Mitternacht war, hatten wir schon eine Stunde zu den Spätnachrichten gekuschelt (steigende Arbeitslosenzahlen, eine Wahlkampfdebatte, irgendein Krieg am anderen Ende der Welt) und waren bereit fürs Bett. Molly machte das Licht aus, bevor wir uns liebten, und das Schlafzimmer war dunkel, das Fenster offen und der Himmel vollständig leer. Sie krümmte den Rücken, als sie kam, und ihr Atem war süß und milchig. Nicht mehr vereinigt, aber noch Arm in Arm, die Hand auf dem Schenkel des anderen, redeten wir in unvollständigen Sätzen. Ich sagte: »Leidenschaft, weißt du«, und sie sagte: »Im Schlafzimmer. Gott, ja.«

Sie schlief schnell ein. Ich war nach einer Stunde immer noch wach.

Ich stieg sachte aus dem Bett, registrierte keine Veränderung in ihrer Atmung. Ich zog eine Jeans über und schlich aus dem Zimmer. In schlaflosen Nächten wie dieser half normalerweise ein Gläschen Drambuie, um die nagenden inneren Monologe abzuschalten, die beim müden Vorderhirn vom Zweifel eingereichten Petitionen. Diesmal jedoch setzte ich mich an meinen Computer und rief den Haushaltorganisator auf.

Es war nicht zu erkennen, was sich Molly angesehen hatte; soweit ich feststellen konnte, war nichts verändert. Alle Namen und Zahlen schienen unberührt. Vielleicht hatte sie hier irgendetwas gefunden, was ihr ein Gefühl größerer Nähe zu mir vermittelte. Falls es wirklich das war, was sie wollte.

Vielleicht war es aber auch eine ergebnislose Suche gewesen. Vielleicht hatte sie nicht das Geringste gefunden.


In den Wochen vor den Novemberwahlen sah ich Jason häufiger. Trotz der gesteigerten Medikation wurde seine Krankheit aktiver, was möglicherweise auf den Stress zurückzuführen war, den ihm der fortgesetzte Konflikt mit seinem Vater bereitete. (E. D. hatte angekündigt, er wolle sich Perihelion »zurückholen« — die Firma befinde sich in den Klauen einer Clique von Emporkömmlingen aus Bürokratie und Wissenschaft, die mit Wun Ngo Wen gemeinsame Sache machten. Eine leere Drohung Jasons Auffassung nach, aber potenziell Unruhe stiftend und peinlich.)

Jason achtete darauf, dass ich in seiner Nähe war, für den Fall, dass es in einem kritischen Moment nötig würde, ihm ein Antispasmodikum zu verabreichen. Ich war auch bereit, das zu tun, sofern es im Rahmen der Gesetze und des ärztlichen Berufsethos blieb. Ihn kurzfristig funktionstüchtig zu machen, war das Äußerste, was die Medizin für Jason tun konnte, und so lange funktionstüchtig zu bleiben, wie es erforderlich war, um E. D. Lawton auszumanövrieren, war alles, worauf es ihm ankam.

Also verbrachte ich viel Zeit in Perihelions V.I.P.-Flügel, meist mit Jason, oft aber auch mit Wun Ngo Wen. Die Folge war, dass ich von denen, die offiziell mit dem Marsianer zu tun hatten, argwöhnisch beäugt wurde, hauptsächlich Regierungsbeamte — Vertreter des Außenministeriums, des Weißen Hauses, des Heimatschutzes, der Raumfahrtbehörde etc. — und Wissenschaftler, die die marsianischen Archive übersetzten, studierten und klassifizierten. Mein privilegierter Zugang zu Wun Ngo Wen war in den Augen dieser Leute nicht ordnungsgemäß. Ich war ein Mietling. Ein Niemand. Aber gerade deshalb zog Wun meine Gesellschaft vor. Ich hatte kein Anliegen vorzubringen. Und weil er darauf bestand, wurde ich also von Zeit zu Zeit von mürrischen Speichelleckern durch die diversen Türen geführt, die die klimatisierten Wohnräume des marsianischen Gesandten von der Hitze Floridas und der ganzen weiten Welt dahinter trennten.

Bei einer dieser Gelegenheiten traf ich ihn auf seinem Rattansessel sitzend an — jemand hatte ihm einen dazu passenden Schemel besorgt, sodass er die Füße nicht mehr baumeln lassen musste —, wie er nachdenklich den Inhalt einer reagenzglasgroßen Phiole betrachtete. Ich fragte ihn, was das sei.

»Replikatoren«, erwiderte er.

Er trug einen Anzug, der für einen stämmigen Zwölfjährigen hätte geschneidert sein können — er hatte eben erst einen Vortrag für eine Delegation des Kongresses gehalten. Obwohl seine Existenz noch nicht formell bekanntgemacht worden war, gaben sich seit einiger Zeit Besucher aus dem In- und Ausland die Klinke in die Hand. Die offizielle Erklärung des Weißen Hauses sollte kurz nach den Wahlen erfolgen, und dann würde für Wun eine turbulente Zeit anbrechen.

Mit dem nötigen Abstand beäugte ich den Glasbehälter. Replikatoren. Eisfresser. Saat einer anorganischen Biologie.

Wun lächelte. »Haben Sie Angst davor? Bitte, das brauchen Sie nicht. Ich versichere Ihnen, der Inhalt ist vollkommen inaktiv. Ich dachte, Jason hätte es Ihnen erklärt.«

Hatte er. Ein bisschen. Ich sagte: »Es sind mikroskopisch kleine Vorrichtungen. Halborganisch. Sie pflanzen sich unter extremen Bedingungen von Kälte und Vakuum fort.«

»Ja, das ist im Wesentlichen korrekt. Und hat Jason auch ihren Zweck erläutert?«

»Sie werden rausgeschickt, um die Galaxis zu bevölkern. Und uns Daten zu schicken.«

Wun nickte langsam, so als sei auch diese Antwort zwar im Wesentlichen korrekt, aber keineswegs befriedigend. »Das hier ist das raffinierteste Stück Technologie, das die Fünf Republiken jemals produziert haben. Wir hätten nie industrielle Aktivitäten auf einem solch erschreckenden Niveau betreiben können, wie es Ihre Leute tun — Ozeandampfer, Reisen zum Mond, riesige Städte…«

»Nach dem, was ich gesehen habe, sind Ihre Städte auch recht eindrucksvoll.«

»Weil wir sie in einem sanfteren Schwerkraftgefälle bauen. Auf der Erde würden die Türme unter ihrem eigenen Gewicht einstürzen. Was ich aber sagen wollte, ist: dies hier, der Inhalt dieser Röhre, das ist unser Triumph der Technik, etwas, das so komplex, so schwer herzustellen ist, dass wir darauf sogar ein bisschen stolz sind.«

»Das glaube ich ohne Weiteres.«

»Dann kommen Sie und staunen Sie. Haben Sie keine Angst.« Er winkte mich näher heran. Ich folgte der Aufforderung, setzte mich auf einen Sessel ihm gegenüber. Von weitem sahen wir wohl wie zwei Freunde oder Bekannte aus, die sich ganz normal unterhielten. Aber mein Blick war starr auf die Phiole gerichtet. Er hielt sie mir hin. »Nur zu, nehmen Sie.«

Ich nahm die Röhre zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie ins Licht. Der Inhalt sah wie ganz gewöhnliches Wasser aus, mit einem leicht öligen Glanz. Das war alles.

»Um es richtig würdigen zu können, müssen Sie verstehen, was Sie da eigentlich in der Hand halten. In dieser Phiole, Tyler, befinden sich etwa dreißig- oder vierzigtausend künstlich erzeugte Zellen in einer Glyzerinlösung. Jede Zelle ist eine Eichel.«

»Sie kennen Eicheln?«

»Ich hab darüber gelesen. Es ist eine gebräuchliche Metapher. Eicheln und Eichen, nicht wahr? Wenn man eine Eichel vom Boden aufhebt, hält man die Möglichkeit einer Eiche in der Hand, und zwar nicht nur eine einzelne Eiche, sondern die gesamte Nachkommenschaft dieser Eiche über Jahrhunderte hinweg. Genügend Eichenholz, um ganze Städte zu bauen. Werden Städte aus Eichenholz gebaut?«

»Nein, aber das spielt keine Rolle.«

»Was Sie da halten, ist eine Eichel. Vollkommen untätig, wie gesagt, und diese spezielle Probe ist vermutlich sogar ziemlich tot, wenn man bedenkt, wie viel Zeit sie unter terrestrischen Bedingungen verbracht hat. Wenn Sie sie analysieren, werden Sie allenfalls ein paar ungewöhnliche Substanzen finden.«

»Aber?«

»Aber wenn Sie sie in eine eisige, luftleere Umgebung bringen, eine Umgebung etwa wie die Oortsche Wolke, dann, Tyler, erwacht sie zum Leben. Dann beginnt sie, sehr langsam, aber sehr geduldig, zu wachsen und sich fortzupflanzen.«

Die Oortsche Wolke. Die kannte ich aus Gesprächen mit Jason und aus den Science-Fiction-Romanen, die ich noch immer gelegentlich las. Die Oortsche Wolke war eine Ansammlung kometartiger Himmelskörper in einem Raum, der sich ungefähr von der Umlaufbahn des Pluto bis halb zum nächstgelegenen Stern erstreckte. Die kleinen Objekte waren alles andere als dicht gedrängt — sie nahmen einen unvorstellbar großen Raum ein —, aber die Summe ihrer Masse, meist in der Form von schmutzigem Eis, übertraf die Masse der Erde um ein Zwanzig- bis Dreißigfaches.

Jede Menge zu fressen, falls Eis und Staub das ist, was man gerne frisst.

Wun beugte sich vor. Seine Augen, gebettet in eine Haut aus zerknittertem Leder, waren hell. Er lächelte, was ich als ein Zeichen von Ernsthaftigkeit zu interpretieren gelernt hatte: Marsianer lächeln, wenn das, was sie sagen, von Herzen kommt.

»Das war nicht ganz unumstritten bei uns, wissen Sie. Was Sie in der Hand halten, hat die Fähigkeit, nicht nur unser Sonnensystem, sondern auch viele andere umzuwandeln. Und was dabei herauskommt, ist ungewiss. Die Replikatoren sind zwar nicht organisch im herkömmlichen Sinne, aber sie sind lebendig. Es sind lebende autokatalytische Rückkopplungsschleifen, die sich unter bestimmten Einflüssen verändern. Genau wie Menschen. Oder Bakterien. Oder…«

»Oder Murkuds.«

Er grinste. »Oder Murkuds.«

»Mit anderen Worten, sie können sich entwickeln.«

»Sie werden sich entwickeln, und zwar auf eine Weise, die wir nicht vorhersehen können. Allerdings haben wir dieser Entwicklung Grenzen gesetzt. Oder jedenfalls glaube ich das. Wie gesagt, das Thema wurde sehr kontrovers diskutiert.«

Wenn Wun über marsianische Politik sprach, stellte ich mir immer lauter faltige Männer und Frauen in pastellfarbenen Togen vor, die von einem Podium herab abstrakte Diskussionen führten. In Wirklichkeit, versicherte Wun, benahmen sich die marsianischen Parlamentarier eher wie mit Geldscheinen wedelnde Farmer bei einer Getreideauktion. Und die Kleidung — nun ja, ich versuchte erst gar nicht, mir die Kleidung bildlich vorzustellen; bei gesellschaftlichen Anlässen, so Wun, kleideten die Marsianer beiden Geschlechts sich wie die Herzkönigin in einem Kartenspiel.

Während also die Diskussionen ausdauernd und sehr engagiert geführt wurden, war der Plan selbst relativ einfach. Die Replikatoren sollten in die fernen, kalten Außenbereiche des Sonnensystems expediert werden. Ein kleiner Teil davon würde sich auf zwei oder drei der Kometenkerne niederlassen, die die Oortsche Wolke bildeten. Dort würden sie dann anfangen, sich fortzupflanzen.

Ihre genetische Information, so Wun, war in Moleküle eingeschrieben, die instabil wurden, sobald sie höheren Temperaturen als auf den Neptunmonden ausgesetzt waren. Doch in der hyperkalten Umgebung, für die sie gemacht waren, setzten submikroskopische Fasern einen langsamen, gründlichen Stoffwechselprozess in Gang. Die Replikatoren wuchsen in einem Tempo, neben dem sich das Wachstum einer Bristlecone-Pinie vergleichsweise überstürzt ausnahm, aber sie wuchsen, assimilierten dabei organische Moleküle, formten Eis zu Zellwänden, -rippen, -sparren und -klebern.

Sobald sie, grob gerechnet, etwa zehn bis zwanzig Kubikmeter Kometenstoff verbraucht hatten, wurden ihre Verbindungen untereinander allmählich komplexer und ihr Verhalten zielgerichteter. Hoch entwickelte Anhängsel formten sich, Augen aus Eis und Kohlenstoff, um die mit Sternen übersäte Dunkelheit zu durchdringen.

So mauserte sich die Replikatorenkolonie im Laufe etwa eines Jahrzehnts zu einem hoch entwickelten Gemeinwesen, mit der Fähigkeit, elementare Daten aus seiner Umgebung aufzuzeichnen und zu senden. Es betrachtete den Himmel und fragte: Gibt es dort einen planetengroßen dunklen Körper, der den nächstgelegenen Stern umkreist?

Die Frage zu stellen und sie zu beantworten, nahm weitere Jahrzehnte in Anspruch, und zumindest anfänglich war die Antwort eine, die von vornherein feststand: Ja, zwei Welten, die diesen Stern umkreisten, waren dunkle Körper — die Erde und der Mars.

Dennoch sortierten die Replikatoren — geduldig, beharrlich, langsam — diese Daten und sandten sie an ihren Ursprungsort zurück: an uns, oder jedenfalls an unsere Empfangssatelliten.

Im Zuge ihres Alterungsprozesses gliederte sich die Replikatorenkolonie alsdann in einzelne Cluster aus einfachen Zellen auf, identifizierte einen weiteren hellen oder nahegelegenen Stern und schleuderte unter Verwendung akkumulierter, aus dem Kometenkern gewonnener flüchtiger Substanzen ihre Saat ins Sonnensystem hinaus (wobei die Zellen ein winziges Bruchstück ihrer selbst hinterließen, das als Funk-Repeater fungierte, als passiver Knoten in einem sich ausweitenden Netzwerk).

Diese Samen der zweiten Generation trieben über Jahre, Jahrzehnte, Jahrtausende im interstellaren Raum. Die meisten gingen, auf eine fruchtlose Bahn geworfen oder von Gravitationswirbeln erfasst, schließlich zugrunde. Manche, die der wenn auch schwachen Anziehungskraft der Sonne nicht entfliehen konnten, stürzten in die Oortsche Wolke zurück und wiederholten den ganzen Prozess, stumpfsinnig, aber geduldig Eis fressend und redundante Information aufzeichnend. Wenn zwei Arten einander begegneten, tauschten sie zelluläres Material aus, glichen durch Zeit oder Strahlung verursachte Kopierfehler aus und produzierten Nachwuchs, der ihnen fast vollständig glich, aber eben nur fast.

Einige wenige jedoch erreichten den eisigen Halo eines nahen Sterns und begannen ihrerseits den Zyklus von neuem, wobei sie diesmal neue Informationen sammelten, die sie später nach Hause schickten, als eine Eruption von Daten, einen kurzen digitalen Orgasmus. Binärer Stern, mochten sie sagen, keine dunklen Planetenkörper; oder vielleicht: Weißer Zwerg, ein dunkler Planetenkörper.

Und der Zyklus begann von neuem.

Und noch einmal.

Und noch einmal, von einem Stern zum nächsten, schrittweise, Jahrhunderte über Jahrtausende, quälend langsam, aber schnell genug nach dem Zeitmaß der Galaxis — nach dem Maß, das wir aus unserer Gruft heraus an das Universum anlegen konnten. Unsere Tage umfassten hunderttausende ihrer Jahre, in einem Jahrzehnt unserer Zeit hatten sie den Großteil des Spiralarms befallen.

Mit Lichtgeschwindigkeit von Knoten zu Knoten weitergegebene Information verbreitete sich, modifizierte Verhalten, lenkte neue Replikatoren in unerforschtes Gebiet und unterdrückte Redundanzen, sodass zentrale Knoten nicht überlastet wurden. Letzten Endes war die Galaxis so verkabelt, dass eine Art rudimentäres Denken entstand. Die Replikatoren erzeugen ein Neuronennetz, so groß wie der Nachthimmel — und dieses Netz sprach zu uns.

Gab es Risiken? Selbstverständlich gab es Risiken.

Ohne den Spin, so Wen, hätten die Marsianer einer solch arroganten Aneignung der galaktischen Ressourcen niemals ihre Zustimmung erteilt. Immerhin war dies nicht nur ein Forschungsunternehmen, es war ein Eingriff, eine Neuordnung der galaktischen Ökologie. Wenn es da draußen eine andere bewusstseinsbegabte Spezies gab — und die Existenz der Hypothetischen hatte diese Frage ja wohl ziemlich eindeutig beantwortet —, könnte diese die Verbreitung der Replikatoren als aggressiven Akt missverstehen. Und sie zu einem Vergeltungsschlag veranlassen.

Erst als sie die Spin-Gebilde entdeckten, die über ihren nördlichen und südlichen Polen errichtet wurden, hatten die Marsianer dieses Risiko in einem neuem Licht betrachtet.

»Der Spin bringt die Einwände zum Verstummen«, sagte Wun. »Fast jedenfalls. Wenn wir Glück haben, werden die Replikatoren uns etwas Wichtiges über die Hypothetischen mitteilen, oder wenigstens über das Ausmaß ihres Wirkens in der Galaxis. Vielleicht sind wir dann imstande, den Zweck des Spins zu erkennen. Wenn nicht, werden die Replikatoren immerhin als eine Art Warnsignal für andere intelligente Spezies dienen, die mit dem gleichen Problem konfrontiert sind. Durch sorgfältige Analyse wird ein aufmerksamer Beobachter ermitteln können, warum dieses Netzwerk errichtet wurde. Andere Zivilisationen werden sich vielleicht einklinken. Das Wissen kann ihnen helfen, sich zu schützen. Erfolgreich zu sein, wo wir gescheitert sind.«

»Sie glauben, dass wir scheitern werden?«

Wun zuckte mit den Achseln. »Sind wir nicht bereits gescheitert? Die Sonne ist inzwischen sehr alt. Es gibt nichts, dessen Dauer unbegrenzt ist. Und unter den gegebenen Umständen ist selbst ›unbegrenzt‹ keine sehr lange Zeit für uns.«

Vielleicht lag es an der Art, wie er es sagte, vorgebeugt in seinem Rattansessel, das traurige marsianische Aufrichtigkeitslächeln im Gesicht — jedenfalls empfand ich seine Worte als zutiefst schockierend.

Nicht, dass sie mich überrascht hätten. Wir wussten alle, dass wir zum Untergang verdammt waren. Oder zumindest dazu, unser Leben unter einer dünnen Schale zu fristen, die das Einzige war, was uns vor einem feindseligen Sonnensystem schützte. Die Sonnenstrahlen, die den Mars bewohnbar gemacht hatten, würden die Erde zerkochen, falls die Spinmembran entfernt wurde. Und auch der Mars — in seiner eigenen dunklen Umhüllung — rutschte mit großer Geschwindigkeit aus der sogenannten bewohnbaren Zone heraus. Der Stern, der der Ursprung allen Lebens war, hatte sein blutrotes Altersstadium erreicht und würde uns töten, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen.

Das Leben war am Rande einer instabilen Kernreaktion entstanden. So war es immer gewesen; auch vor dem Spin, als der Himmel noch klar war und ferne Sterne die Sommernächte funkeln ließen. So war es gewesen, und es hatte keine Rolle gespielt, weil das menschliche Leben kurz war — unzählige Generationen lebten und starben während eines einzigen Herzschlags der Sonne. Doch jetzt waren wir dabei, die Sonne zu überleben, und entweder würden wir als ein Haufen Asche ihren Leichnam umkreisen oder wir würden in ewiger Nacht konserviert, eine verkapselte Kuriosität, ohne Heimat im Universum.

»Tyler? Alles in Ordnung?«

»Ja.« Ich dachte an Diane, warum auch immer. »Ein bisschen was zu verstehen, bevor der Vorhang fällt, vielleicht ist das das Äußerste, was wir uns erhoffen können.«

»Der Vorhang?«

»Bevor es zu Ende geht.«

»Ein großer Trost ist es nicht. Aber, ja, das ist vielleicht wirklich das Äußerste.«

»Ihr Volk lebt seit Jahrtausenden mit dem Spin. Und in dieser ganzen Zeit ist es Ihnen nicht gelungen, etwas über die Hypothetischen herauszufinden?«

»Nein, tut mir Leid, damit kann ich nicht dienen. Auch was die physikalische Natur des Spins betrifft, können wir höchstens ein paar Spekulationen anbieten.« Welche Jason mir kürzlich zu erläutern versucht hatte: es hatte mit Zeitquanten zu tun, war reine Mathematik und weit jenseits praktischer Anwendbarkeit, ob mit marsianischer oder mit terrestrischer Technik. »Über die Hypothetischen selbst können wir gar nichts sagen. Was sie von uns wollen könnten…« Wun zuckte mit den Achseln. »Nur weitere Spekulationen. Die Frage, die wir uns gestellt haben, lautete: Was war das Besondere an der Erde, als sie umhüllt wurde? Warum haben die Hypothetischen so lange gewartet, bis sie den Mars ›eingespinnt‹ haben, und warum haben sie dann diesen speziellen Moment in unserer Geschichte gewählt?«

»Und haben Sie Antworten darauf gefunden?«

Einer der Aufpasser klopfte an die Tür und öffnete sie, ein Mann mit schütterem Haar, in schwarzem Anzug. Er sprach zu Wun, sah aber mich an. »Nur zur Erinnerung, wir erwarten einen Repräsentanten der EU. In fünf Minuten.« Er hielt die Tür offen, erwartungsvoll, auffordernd. Ich erhob mich.

»Nächstes Mal«, sagte Wun.

»Recht bald, hoffe ich.«

»So schnell ich es einrichten kann.«

Es war bereits spät am Nachmittag, und ich hatte keine Termine mehr. Ich verließ das Gebäude durch den Nordausgang. Auf dem Weg zum Parkplatz blieb ich an dem Bauzaun stehen, hinter dem der Perihelion-Ergänzungskomplex hochgezogen wurde. Durch Lücken in der Sicherheitsumgrenzung konnte ich ein schlichtes Steingebäude erkennen, riesige externe Druckbehälter, durch Betonlaibungen gelegte Rohre, so dick wie Fässer. Der Boden war übersät mit gelber PTFE-Isolierung und gewundenem Kupferrohr. Ein Vorarbeiter mit weißem Schutzhelm bellte Anweisungen, und Männer mit Schubkarren, Schutzbrillen und Stahlkappenstiefeln befolgten sie.

Männer, die einen Brutkasten für eine neue Art Leben bauten. Hier würden die Replikatoren in einer Wiege aus flüssigem Helium heranwachsen, bis sie bereit waren, in die kalten Zonen des Universums hinausgeschossen zu werden — in gewissem Sinne unsere Erben, dazu bestimmt, länger zu leben und weiter zu reisen, als es dem Menschen gegeben war. Unser abschließender Dialog mit dem Universum. Es sei denn, E. D. würde sich durchsetzen und das ganze Projekt abblasen.


An diesem Wochenende machten Molly und ich einen Strandspaziergang. Es war ein wolkenloser Samstag Ende Oktober. Wir waren erst einen halben Kilometer über den mit Zigarettenkippen übersäten Sand marschiert, als wir feststellten, dass es unangenehm warm wurde. Die Sonne brannte intensiv, das Meer reflektierte ihr Licht in funkelnden kleinen Punkten, als würden Schwärme von Diamanten vor der Küste schwimmen. Molly trug Shorts, Sandalen, ein weißes Baumwoll-T-Shirt, das auf reizvolle Weise an ihr zu kleben begann, und eine Schirmmütze.

»Also, das hab ich nie begriffen.« Sie wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn und blieb stehen, wandte sich ihren Fußspuren im Sand zu.

»Was denn, Moll?«

»Die Sonne. Ich meine, den Sonnenschein. Dieses Licht. Es ist gefälscht, sagen alle, aber meine Güte, die Hitze ist verdammt echt.«

»Gefälscht ist eigentlich nicht ganz korrekt. Die Sonne, die wir sehen, ist nicht die richtige Sonne, aber dieses Licht würde von dort herkommen. Es wird von den Hypothetischen kontrolliert, die Wellenlängen werden runtergesetzt und gefiltert…«

»Ich weiß, aber ich meine die Art, wie sie über den Himmel zieht. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Wenn es nur eine Projektion ist, wie kommt es, dass es überall gleich aussieht, von Kanada aus, von Südamerika aus? Wenn die Spin-Barriere nur ein paar hundert Kilometer weit oben ist?«

Ich gab an sie weiter, was Jason mir einmal erzählt hatte: die Pseudosonne war keine auf eine Leinwand projizierte Illusion, es war eine gesteuerte Sonnenlichtkopie, die von einer 150 Millionen Kilometer entfernten Quelle aus durch die Leinwand strahlte, wie ein in einem Riesenmaßstab ablaufendes Bildberechnungsprogramm.

»Verdammt aufwändiger Bühnenzauber«, sagte Molly.

»Würden sie es anders machen, wären wir alle schon vor Jahren gestorben. Die Ökologie des Planeten benötigt einen Vierundzwanzigstundentag.« Wir hatten bereits einige Arten eingebüsst, die für ihre Nahrungssuche oder Paarung auf das Mondlicht angewiesen waren.

»Aber es ist eine Lüge.«

»Wenn du es so nennen willst.«

»Ja, ich nenne es eine Lüge. Ich stehe hier mit dem Licht einer Lüge auf meinem Gesicht. Einer Lüge, von der man Hautkrebs bekommen kann. Aber ich begreife es immer noch nicht. Wahrscheinlich werden wir das erst können, wenn wir die Hypothetischen verstanden haben. Falls es dazu je kommt. Was ich bezweifle.« Eine Lüge, sagte Molly, während wir parallel zu einer alten, vom Salz weiß gewordenen Uferpromenade weitergingen, könne man nicht begreifen, wenn man das ihr zugrunde liegende Motiv nicht kenne. Dabei sah sie mich von der Seite an, die Augen von der Mütze beschattet, und in ihrem Blick lagen irgendwelche Botschaften, die ich nicht entschlüsseln konnte.

Wir verbrachten den Rest des Nachmittags in meinem klimatisierten Haus, lasen ein wenig, hörten Musik. Doch Molly war rastlos, und ich hatte noch immer nicht ganz ihren Übergriff auf meinen Computer verwunden — ein anderer nicht zu entschlüsselnder Vorgang. Ich liebte Molly. Oder wenn das, was ich für sie empfand, nicht Liebe war, dann jedenfalls eine glaubwürdige Imitation, ein überzeugender Ersatz.

Sorge machte mir, dass sie so unberechenbar war, spingeschädigt wie wir alle. Ich konnte ihr keine Geschenke machen — zwar gab es Dinge, die sie sich wünschte, aber ich erriet nie, was das sein könnte, außer sie bewunderte etwas ausdrücklich, das sie in einem Schaufenster sah. Ihre tiefsten Bedürfnisse ließ sie tief im Dunkeln, und wie die meisten verschlossenen Menschen nahm sie an, dass ich meinerseits wichtige Geheimnisse hütete.

Wir hatten zu Abend gegessen und spülten gerade ab, als das Telefon klingelte. Molly nahm ab, während ich mir die Hände trocknete. »Hallo. Nein, er ist da. Einen Moment.« Sie hielt die Hand vor die Sprechmuschel. »Jason ist dran. Willst du mit ihm sprechen? Er klingt reichlich durchgedreht.«

»Natürlich will ich mit ihm sprechen.«

Ich nahm den Hörer und wartete. Molly warf mir einen langen Blick zu, verdrehte dann die Augen und verließ die Küche. Vertraulichkeit. »Jase? Was ist los?«

»Ich brauche dich hier, Tyler.« Seine Stimme war angespannt, halb erstickt.

»Hast du ein Problem?«

»Ja, ich habe ein Scheißproblem. Und du musst kommen und es beheben.«

»So dringend ist es?«

»Würde ich dich sonst anrufen?«

»Wo bist du?«

»Zu Hause.«

»Okay. Es dauert vielleicht ein bisschen, wenn der Verkehr…«

»Hauptsache, du kommst.«

Ich sagte Molly, ich hätte noch etwas Dringendes zu erledigen. Sie lächelte — vielleicht grinste sie auch spöttisch — und sagte: »Was denn? Hat jemand einen Termin verpasst? Musst du Geburtshilfe leisten? Oder was?«

»Ich bin Arzt, Moll. Schweigepflicht.«

»Arzt zu sein, heißt nicht, dass du Jason Lawtons Schoßhund spielen musst. Du musst nicht jedes Mal apportieren, wenn er das Stöckchen wirft.«

»Tut mir Leid, dass ich den Abend so abbreche. Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«

»Nein. Ich bleibe hier, bis du zurückkommst.« Sie starrte mich dabei herausfordernd, ja streitlustig an, sie wartete nur darauf, dass ich Einspruch erhob.

Aber das tat ich nicht. Es hätte bedeutet, dass ich ihr nicht traute. Und ich traute ihr ja. Weitgehend zumindest. »Ich weiß nicht genau, wie lange es dauert.«

»Macht nichts. Ich kuschel mich aufs Sofa und mach die Glotze an. Falls dir das recht ist?«

»Solange du dich nicht langweilst.«

»Ich verspreche, dass ich mich nicht langweilen werde.«


Jasons spärlich möblierte Wohnung war dreißig Kilometer Highway-Fahrt entfernt, und auf dem Weg dorthin wurde ich um den Tatort eines Verbrechens herumgeleitet, ein fehlgeschlagener Überfall auf einen Geldtransporter, bei dem offenbar einige Touristen ums Leben gekommen waren. Der Summer ließ mich in das Gebäude ein, und als ich an Jasons Wohnungstür klopfte, rief er: »Es ist offen.«

Das große vordere Zimmer war so karg eingerichtet wie eh und je, eine Parkettwüste, in der Jason sein Beduinenlager aufgeschlagen hatte. Er lag auf dem Sofa. Die Stehlampe tauchte ihn in ein hartes, unvorteilhaftes Licht. Er war blass, die Stirn von Schweiß bedeckt. Seine Augen glitzerten.

»Ich dachte schon, du kommst nicht«, sagte er. »Dachte, deine Provinzlerfreundin würde dich vielleicht nicht weglassen.«

Ich erzählte ihm von der Polizeisperre. »Und tu mir einen Gefallen«, fügte ich hinzu. »Sprich nicht so von Molly.«

»Ich soll sie nicht als Landpomeranze aus Idaho mit Wohnwagenparksensibilität bezeichnen? Aber sicher doch. Alles, was du willst.«

»Was ist los mit dir?«

»Interessante Frage, viele denkbare Antworten. Sieh her.«

Er stand auf.

Es war ein elender, mühsamer, quälend langsamer Vorgang. Jason war immer noch groß, immer noch schlank, doch die körperliche Grazie, die ihm einst so selbstverständlich zu Eigen gewesen war, hatte ihn verlassen. Als es ihm endlich gelungen war, sich in eine aufrechte Position zu bringen, zitterten seine Beine wie bei einer Gliederpuppe. Er blinzelte krampfartig. »Das ist los mit mir.« Dann brach sich, mit einer weiteren konvulsiven Bewegung, die Wut Bahn — sein emotionaler Zustand war so unberechenbar wie seine Gliedmaßen: »Sieh es dir an! S-s-scheiße, Tyler, sieh mich an!«

»Leg dich wieder hin, Jase. Damit ich dich untersuchen kann.« Ich hatte meinen Arztkoffer mitgebracht. Ich krempelte seinen Ärmel auf und wickelte eine Blutdruckmanschette um seinen dürren Arm. Ich spürte, wie sich der Muskel darunter zusammenzog, kaum zu kontrollieren. Der Blutdruck war hoch, und der Puls raste. »Deine Antispasmodika hast du eingenommen?«

»Natürlich hab ich die beschissenen Antispasmodika genommen.«

»Regelmäßig? Keine Doppeldosierung? Wenn du nämlich zu viel davon nimmst, schadet es eher, als dass es nützt.«

Er seufzte ungeduldig. Dann tat er etwas Überraschendes. Er griff um meinen Kopf herum, packte eine Hand voll meiner Haare und zog mich ziemlich grob herunter, bis sich unsere Gesichter ganz nah waren. Worte sprudelten aus ihm heraus, ein tobender Strom. »Werd hier jetzt nicht pedantisch, Tyler, das ist das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann. Vielleicht hast du das eine oder andere Problem, was meine Behandlung angeht. Aber tut mir Leid, das ist jetzt nicht die Zeit, deine Scheißprinzipien hochzuhalten. Zu viel steht auf dem Spiel. E. D. wird morgen einfliegen. Er glaubt, er hätte einen Trumpf in der Hand. Er würde lieber den ganzen Laden zumachen, bevor er mich seinen Scheißthron besteigen lässt. Das kann ich nicht zulassen. Aber schau mich an — seh ich so aus, als wäre ich in der Lage, einen Vatermord zu begehen?« Sein Griff wurde fester, bis es richtig wehtat — so kräftig war er also noch —, dann ließ er los und stieß mich mit der anderen Hand weg. »Bring mich in Ordnung! Dafür bist du schließlich da, oder?«

Ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich schweigend hin und wartete, bis er auf das Sofa zurücksank, erschöpft von seinem Ausbruch. Dann holte ich eine Spritze aus meinem Koffer und zog sie mit dem Inhalt einer kleinen braunen Flasche auf.

»Was ist das?«

»Vorübergehende Linderung.« Tatsächlich war es ein harmloses Vitamin-B-Präparat, versetzt mit einem leichten Beruhigungsmittel. Jason sah die Spritze misstrauisch an, ließ sie sich aber in den Arm setzen. Ein winziger Blutstropfen trat aus dem Einstichloch. »Was ich dir sagen muss, weißt du bereits. Es gibt kein Heilmittel.«

»Kein irdisches Heilmittel.«

»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«

»Du weißt, was es bedeutet.«

Er bezog sich auf Wun Ngo Wens Langlebigkeitskur. Der Wiederaufbau, hatte Wun gesagt, sei auch eine Heilkur für eine ganze Reihe genetisch bedingter Krankheiten. Die AMS-Schleife würde aus Jasons DNA herausgeschnitten, und die aggressiven Proteine, die sein Nervensystem beeinträchtigen, würden in ihre Schranken gewiesen. »Aber das würde Wochen dauern. Und außerdem kann ich es nicht verantworten, dich zum Versuchskaninchen für eine unerprobte Behandlung zu machen.«

»Unerprobt ist sie wohl kaum. Die Marsianer verwenden sie seit Jahrhunderten, und sie sind Menschen wie du und ich. Und es tut mir Leid, Tyler, aber deine beruflichen Skrupel interessieren mich nicht. Sie sind schlicht und einfach nicht entscheidungsrelevant.«

»So weit es mich betrifft, schon.«

»Dann stellt sich die Frage: Wie weit betrifft es dich? Wenn du nicht mitmachen willst, tritt beiseite.«

»Das Risiko…«

»Es ist mein Risiko, nicht deins.« Er schloss die Augen. »Halte es nicht für Arroganz oder Eitelkeit, aber es spielt eine Rolle, ob ich lebe oder sterbe, oder ob ich auch nur geradeaus laufen kann oder meine beschissenen Konsonanten richtig rausbringe. Es spielt eine Rolle für die Welt, meine ich. Weil ich mich in einer exzeptionell wichtigen Position befinde. Nicht durch Zufall. Nicht, weil ich so intelligent oder so tugendhaft bin. Ich wurde gekürt. Im Grunde genommen, Tyler, bin ich ein Artefakt, ein produzierter Gegenstand, entworfen und hergestellt von E. D. Lawton, auf die gleiche Art, wie er und dein Vater früher Tragflächen hergestellt haben. Ich mache die Arbeit, für die er mich konstruiert hat — Perihelion leiten, die menschliche Antwort auf den Spin formulieren.«

»Der Präsident sieht das womöglich anders. Vom Kongress gar nicht zu reden. Oder von der UNO.«

»O bitte, ich mache mir doch nichts vor. Das ist ja der springende Punkt. Perihelion zu leiten, bedeutet, den interessierten Parteien zuzuspielen. Und zwar allen. E. D. weiß das und verhält sich entsprechend. Er hat Perihelion zu einem Dollarsegen für die Raumfahrtindustrie gemacht, und das ist ihm gelungen, indem er an den höchsten Stellen Freundschaften geschlossen und politische Bündnisse geschmiedet hat. Durch Schmeicheleien und Bittgänge, durch Lobbyarbeit und Wahlkampfunterstützung. Er hatte eine Vision, er besaß Kontakte und er war zur rechten Zeit am rechten Ort. Er hat das Aerostat-Programm eingeführt und damit die Telekom-Industrie vor dem Spin gerettet, was ihm wiederum Zutritt zu den Kreisen der Mächtigen verschaffte — und solche Gelegenheiten versteht er zu nutzen. Ohne E. D. gäbe es keine Menschen auf dem Mars. Ohne E. D. würde ein Wun Ngo Wen nicht einmal existieren. Das wollen wir dem alten Scheißer zubilligen. Er ist ein großer Mann.«

»Aber?«

»Aber er ist ein Mann seiner Zeit. Prä-Spin. Seine Motive sind archaisch. Die Fackel ist weitergereicht. Oder wird es, wenn es nach mir geht.«

»Was heißt das?«

»E. D. glaubt immer noch, dass aus dieser ganzen Sache irgendwelche persönlichen Vorteile zu ziehen sind. Er ärgert sich über Wuns Anwesenheit und er hasst das Replikatoren-Projekt, nicht weil er es für zu ehrgeizig hält, sondern weil es schlecht ist fürs Geschäft. Das Mars-Projekt hat Billionen von Dollar in die Raumfahrt gepumpt. Es hat E. D. reicher und mächtiger gemacht, als er sich je erträumt hätte. Sein Name ist ein Begriff. Und er hält das immer noch für wichtig. Er glaubt, es komme darauf immer noch an, so wie früher, vor dem Spin, als man Politik wie ein Spiel betreiben und um Preise zocken konnte. Aber mit Wuns Vorschlag lassen sich keine großen Profite erzielen. Die Replikatoren ins All zu schießen, ist eine triviale Investition, verglichen mit der Terraformung des Mars. Das können wir mit ein paar Delta-7-Raketen und einem billigen Ionenantrieb bewerkstelligen. Eine Schleuder und ein Reagenzglas, das ist alles, was man dazu braucht.«

»Und warum ist das schlecht für E. D.?«

»Es trägt nicht viel dazu bei, eine vom Zusammenbruch bedrohte Industrie zu stützen. Seine finanzielle Basis wird ausgehöhlt. Schlimmer noch, er verschwindet aus dem Scheinwerferlicht. Plötzlich werden alle auf Wun blicken — in wenigen Wochen wird ein Medienwirbel von noch nie dagewesenen Ausmaßen losbrechen —, und Wun hat mich als Leiter dieses Projekts ausgewählt. Das aber wäre für E. D. die größte anzunehmende Katastrophe — wenn sein undankbarer Sohn gemeinsam mit einem runzeligen Marsianer sein Lebenswerk demontiert und eine Armada in den Weltraum schickt, deren Produktion weniger kostet als die eines einzigen Verkehrsflugzeugs.«

»Was schlägt er denn vor, stattdessen zu tun?«

»Er hat ein Riesenprogramm ausgearbeitet. Voll-System-Aufklärung, so nennt er es. Die Suche nach Hinweisen auf Aktivitäten der Hypothetischen. Planetarische Geometer vom Merkur bis zum Pluto, technisch avancierte Lauschposten im interplanetarischen Raum, Fly-By-Missionen, um die Spin-Artefakte hier und über den marsianischen Polen zu erkunden.«

»Ist das so eine schlechte Idee?«

»Nun, ein paar triviale Informationen könnten dabei wohl herausspringen. Ein paar Daten zusammenkratzen und Geldmittel in die Industrie leiten, dazu ist es gedacht. Was aber E. D. nicht begreift, was seine ganze Generation letzten Endes nicht begreift…«

»Ja?«

»Ist, dass das Fenster sich schließt. Das menschliche Fenster. Unsere Zeit auf der Erde. Die Zeit der Erde im Universum. Sie geht zu Ende. Wir haben, glaube ich, nur mehr eine einzige realistische Möglichkeit zu begreifen, was es bedeutet — was es bedeutet hat —, eine menschliche Zivilisation zu errichten.« Jasons Augenlider schlossen und öffneten sich, langsam, ein-, zweimal. Die extreme Anspannung hatte sich gemildert. »Was es bedeutet, für diese seltsame Form der Auslöschung ausgewählt worden zu sein. Aber mehr noch als das. Was es bedeutet… was es bedeutet…« Er sah auf. »Was zum Teufel hast du mir gegeben, Tyler?«

»Nichts Schwerwiegendes. Ein mildes Anxiolytikum.«

»Schnelle Besserung?«

»War’s nicht das, was du wolltest?«

»Vermutlich. Morgen Früh muss ich vorzeigbar sein, alles andere ist zweitrangig.«

»Es ist aber keine Heilbehandlung. Was du von mir erwartest, ist so, als wolle man eine fehlerhafte elektrische Verbindung dadurch reparieren, dass man ordentlich Spannung hindurchjagt. Kurzfristig funktioniert es vielleicht sogar. Aber es ist unverlässlich und überlastet auf Dauer andere Teile des Systems. Nur zu gern würde ich dir einen guten, sauberen, symptomfreien Tag bescheren. Ich will dich nur nicht umbringen.«

»Wenn du mir den symptomfreien Tag nicht gibst, könntest du mich genauso gut umbringen.«

»Alles, was ich dir bieten kann, ist mein ärztliches Urteil.«

»Und was kann ich von deinem ärztlichen Urteil erwarten?«

»Ich denke schon, dass ich dir helfen kann. Ein bisschen. Diesmal. Diesmal, Jason. Aber es bleibt nicht mehr viel Spielraum. Das musst du dir klar machen.«

»Keiner von uns hat noch viel Spielraum. Das müssen wir uns alle klar machen.« Aber er seufzte lächelnd, als ich den Arztkoffer wieder öffnete.


Molly lag auf dem Sofa, als ich nach Hause kam, und sah sich einen vor einiger Zeit sehr erfolgreichen Film über Elfen an (vielleicht waren es auch Engel). Auf dem Bildschirm waren lauter verschwommene blaue Lichter zu sehen. Sie schaltete den Apparat aus, als ich durch die Tür kam. Ich fragte sie, ob während meiner Abwesenheit irgendetwas gewesen sei.

»Nicht viel. Du hast einen Anruf gekriegt.«

»Ach? Von wem denn?«

»Jasons Schwester. Wie heißt sie gleich, Diane. Aus Arizona.«

»Hat sie gesagt, was sie wollte?«

»Einfach nur reden. Also haben wir ein bisschen geredet.«

»Aha. Und worüber habt ihr geredet?«

Sie drehte sich halb weg, zeigte mir ihr Profil vor dem gedämpften Licht, das aus dem Schlafzimmer kam. »Über dich.«

»Irgendwas Spezielles?«

»Ja. Ich habe ihr gesagt, sie solle aufhören, dich anzurufen, denn du hättest jetzt eine neue Freundin. Ich habe ihr gesagt, dass von nun an ich deine Anrufe entgegennehmen würde.«

Ich starrte sie an.

Molly fletschte die Zähne, was offenbar als Lächeln gemeint war. »Komm schon, Tyler, du musst auch mal einen Witz vertragen. Ich habe ihr gesagt, du bist weggegangen. War das okay?«

»Weggegangen?«

»Ja. Wohin, habe ich ihr nicht gesagt. Das wusste ich ja auch nicht.«

»Hat sie gesagt, ob es was Dringendes ist?«

»Klang nicht so. Ruf doch zurück, wenn du willst. Na los — mach ruhig, ich hab nichts dagegen.«

Aber das war natürlich auch ein Test. »Das kann warten.«

»Gut.« Ihre Wangen röteten sich. »Ich hab nämlich noch etwas anderes mit dir vor.«

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