Besessen von der bevorstehenden Ankunft E. D. Lawtons, hatte Jason es versäumt zu erwähnen, dass noch ein anderer Gast bei Perihelion erwartet wurde: Preston Lomax, amtierender Vizepräsident und aussichtsreichster Kandidat bei den in Kürze stattfindenden Präsidentschaftswahlen.
Es gab strenge Sicherheitsvorkehrungen an den Toren, und auf dem Dachlandeplatz des Hauptgebäudes stand ein Hubschrauber. Ich kannte diese ganze Prozedur schon von den Besuchen Präsident Garlands im letzten Monat. Der Wärter am Haupteingang, der mich immer »Doc« nannte und dessen Cholesterinwerte ich einmal im Monat überprüfte, verriet mir, dass es sich diesmal um Lomax handelte.
Ich war gerade durch die Tür der Ambulanz getreten — Molly war nicht da, eine Aushilfe namens Lucinda machte heute ihre Arbeit —, als ich auf dem Pager die Nachricht erhielt, dass ich in Jasons Büro im Vorstandsflügel benötigt wurde. Vier Sicherheitsüberprüfungen später war ich allein mit ihm. Ich hatte Sorge, dass er eine zusätzliche Medikamentendosis verlangen würde, doch nach der Behandlung von gestern Abend befand er sich in einem überzeugenden, wenn auch vorübergehenden Zustand der Remission. Er erhob sich und kam mit demonstrativ ausgestreckter, zitterfreier Hand auf mich zu. »Ich möchte dir dafür danken, Ty.«
»Keine Ursache. Aber ich muss mich wiederholen: ohne Garantie.«
»Zur Kenntnis genommen. Solange ich nur diesen Tag überstehe. E. D. ist für mittags angekündigt.«
»Gar nicht zu reden vom Vizepräsidenten.«
»Lomax ist seit heute Morgen sieben Uhr hier. Der Mann ist ein Frühaufsteher. Er hat ein paar Stunden mit unserem marsianischen Gast konferiert, und nun mache ich mit ihm den Goodwill-Rundgang. Apropos, Wun würde dich gern sprechen, falls du ein paar Minuten erübrigen kannst.«
»Wenn er nicht von nationalen Angelegenheiten in Anspruch genommen wird.« Lomax würde die Wahl in der nächsten Woche aller Voraussicht nach gewinnen, mit haushohem Vorsprung, wenn man den Umfragen trauen konnte. Jase hatte den Kontakt zu ihm schon lange vor Wuns Ankunft gepflegt — und Lomax war von Wun fasziniert. »Wird dein Vater auch an dem Rundgang teilnehmen?«
»Es gibt keine Möglichkeit, ihn davon auszuschließen, ohne die Gebote der Höflichkeit zu verletzen.«
»Siehst du da Probleme?«
»Ich sehe viele Probleme.«
»Körperlich ist aber alles in Ordnung?«
»Ich fühle mich gut. Aber du bist der Arzt. Ein paar Stunden, das ist alles, was ich brauche. Das sollte doch drin sein, oder?«
Sein Puls ging ein wenig schnell — was nicht verwunderlich war —, aber seine AMS-Symptome waren erfolgreich unterdrückt. Und eine erregende oder irgendwie verwirrende Wirkung der Medikamente war auch nicht zu erkennen, im Gegenteil schien Jason beinahe strahlend ruhig, eingeschlossen in einen kühlen, klaren Raum in den Tiefen seines Kopfes.
Also ging ich, Wun Ngo Wen meine Aufwartung zu machen. Er war allerdings nicht in seinen Wohnräumen, sondern hatte sich in die kleine Cafeteria der leitenden Angestellten verdrückt, bewacht von großen Männern mit kleinen Kabeln hinterm Ohr. Er sah auf, als ich am Tresen vorbeiging, und bedeutete den Sicherheitsklonen, die schon Anstalten machten, mich aufzuhalten, sich zu entfernen.
Ich setzte mich ihm gegenüber. Er stocherte mit seiner Gabel an einem blassen Stück Lachssteak herum und lächelte abgeklärt. Er hätte einen Stuhlaufsatz gebrauchen können. Ich nahm eine krumme Haltung ein, damit wir halbwegs auf gleicher Höhe saßen.
Das Essen bekam ihm gut. Mir schien, er hatte während seines Aufenthalts bei Perihelion ein wenig zugenommen. Sein Anzug, vor ein paar Monaten maßgeschneidert, spannte inzwischen über dem Bauch. Auch seine Wangen waren voller geworden, blieben allerdings so faltig wie eh und je, sanfte Furchen in der dunklen Haut.
»Wie ich höre, hatten Sie einen Besucher«, sagte ich.
Wun nickte. »Nicht zum ersten Mal. Ich bin Präsident Garland in Washington verschiedentlich begegnet, und ich habe Vizepräsident Lomax zweimal getroffen. Man erwartet, dass die Wahlen ihn an die Macht bringen werden.«
»Aber nicht, weil er so beliebt wäre.«
»Es steht mir nicht zu, ihn als Kandidaten zu beurteilen. Aber er stellt wirklich interessante Fragen.«
»Nun, bestimmt kann er sehr liebenswürdig sein, wenn er möchte. Und sein Amt hat er auch anständig versehen. Aber über weite Strecken seiner Karriere war er der meistgehasste Mann auf dem Capitol Hill. Chef und Einpeitscher der Mehrheitsfraktion für drei aufeinander folgende Regierungen. Er ist mit allen Wassern gewaschen.«
Wun grinste. »Halten Sie mich für naiv, Tyler? Befürchten Sie, dass Vizepräsident Lomax mich ausnutzen wird?«
»Nicht unbedingt naiv…«
»Ich bin ein Neuling, zugegeben. Die feineren Nuancen der hiesigen Politik entgehen mir sicherlich. Aber ich bin ein paar Jährchen älter als Preston Lomax und habe selbst einmal ein politisches Amt bekleidet.«
»Tatsächlich?«
»Ja, drei Jahre lang«, sagte er mit spürbarem Stolz. »Ich war Landwirtschaftlicher Administrator des Eiswind-Kantons.«
»Aha.«
»Die oberste Behörde für einen Großteil des Kirioloj-Deltas. Es war nicht das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten von Amerika, einer landwirtschaftlichen Verwaltung stehen keine Atomwaffen zur Verfügung. Aber ich habe einen korrupten Beamten überführt, der die Gewichtsangaben in den Ernteberichten gefälscht und die Fehlmenge auf dem freien Markt verkauft hat.«
»Ah, ein abgekartetes Provisionsgeschäft?«
»Wenn das der Ausdruck dafür ist.«
»Dann sind die Fünf Republiken also nicht frei von Korruption?«
Wun blinzelte, ein Vorgang, der sich über die gesamte verschlungene Geografie seines Gesichts ausbreitete. »Nein, wie sollten sie auch? Warum lassen sich nur so viele Erdbewohner von dieser Annahme leiten? Wäre ich aus irgendeinem anderen Land der Erde hierher gekommen — aus Frankreich, China oder Texas —, würde sich niemand verblüfft zeigen, wenn er von Bestechung, Betrug oder Diebstahl hören würde.«
»Vermutlich nicht. Aber es ist nicht das Gleiche.«
»Nicht? Aber Sie arbeiten doch hier bei Perihelion. Sie müssen einigen Personen der Gründergeneration begegnet sein, so seltsam mir diese Vorstellung noch immer anmutet — den Männern und Frauen, deren entfernte Abkömmlinge wir Marsianer sind. Waren sie solch vollkommene Geschöpfe, dass Sie ihrer Nachkommenschaft zutrauen, ohne Sünde zu sein?«
»Nein, aber…«
»Und dennoch ist diese irrige Vorstellung allgemein verbreitet. Sogar in den Büchern, die Sie mir gegeben haben, die vor dem Spin geschrieben wurden.«
»Sie haben sie gelesen?«
»Ja, mit großem Interesse. Vielen Dank dafür. Aber selbst in diesen Romanen sind die Marsianer…« Er suchte nach dem richtigen Ausdruck.
»Na ja, einige von ihnen sind wohl ziemlich heiligenmäßig gezeichnet.«
»Entrückt. Weise. Scheinbar schwach. In Wirklichkeit sehr mächtig. Die Alten. Aber für uns, Tyler, sind Sie die Alten. Die ältere Spezies, der alte Planet. Die Ironie ist doch nicht zu übersehen.«
Ich dachte darüber nach. »Der Roman von H. G. Wells…«
»Seine Marsianer sind kaum konturiert. Sie sind auf abstrakte, undifferenzierte Weise böse. Nicht weise, sondern schlau. Aber Teufel und Engel sind eng verschwistert, wenn ich die einschlägige Folklore recht verstehe.«
»Aber die neueren Geschichten…«
»Fand ich hochinteressant, die Protagonisten waren immerhin menschlich. Aber das wahre Vergnügen bei diesen Geschichten liegt in den Landschaften, finden Sie nicht? Und selbst da handelt es sich um transformierende Landschaften. Hinter jeder Düne ein Schicksal.«
»Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Ihr seid einfach nur Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Der Mars ist nicht das Paradies. Einverstanden. Aber das heißt nicht, dass Lomax nicht versuchen würde, Sie für seine politischen Zwecke einzuspannen.«
»Und ich versichere Ihnen, dass ich mir dieser Möglichkeit vollkommen bewusst bin. Dieser Gewissheit, wäre wohl korrekter. Es liegt auf der Hand, dass ich politischen Nutzen bringen soll, aber es steht in meiner Macht, mein Einverständnis zu gewähren oder zu verweigern. Zu kooperieren oder mich störrisch zu zeigen. Die Macht, das richtige Wort zu sagen.« Er lächelte erneut, seine Zähne waren allesamt perfekt und strahlend weiß. »Oder auch nicht.«
»Und welchen Zweck verfolgen Sie?«
Er zeigte mir seine Handteller, eine sowohl marsianische als auch terrestrische Geste. »Gar keinen. Ich bin ein Heiliger vom Mars. Aber es wäre mir eine Genugtuung, wenn die Replikatoren losgeschickt würden.«
»Um der reinen Erkenntnis willen?«
»Ja. Wenigstens ein bisschen was über den Spin zu erfahren…«
»Und die Hypothetischen zu provozieren?«
Er blinzelte wieder. »Ich hoffe doch sehr, dass die Hypothetischen, wer oder was sie auch sein mögen, dies nicht als Provokation auffassen werden.«
»Falls sie es aber doch tun…«
»Warum sollten sie?«
»Falls sie es doch tun, werden sie glauben, dass die Provokation von der Erde ausging, nicht vom Mars.«
Wun blinzelte noch ein paarmal. Dann kroch das Lächeln in sein Gesicht zurück — nachsichtig, billigend. »Sie können ja selbst überraschend zynisch sein, Dr. Dupree.«
»Wie unmarsianisch von mir.«
»Ganz recht.«
»Und hält Preston Lomax Sie für einen Engel?«
»Diese Frage kann nur er selbst beantworten. Das Letzte, was er zu mir sagte…« Unvermittelt sprang Wun aus seiner Oxford-Redeweise heraus und lieferte eine perfekte Preston-Lomax-Imitation: »Es ist mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen, Botschafter Wen. Sie sind offen und freimütig. Sehr erfrischend für ein altes Politikerschlachtross wie mich.«
Die Imitation war um so erstaunlicher, als sie von jemandem kam, der erst seit etwas über einem Jahr Englisch sprach. Ich brachte meine Bewunderung zum Ausdruck.
»Ich bin Gelehrter von Beruf. Ich habe schon als Kind Englisch gelesen. Sprechen ist natürlich noch etwas anderes, aber ich denke, ich habe eine gewisse Begabung für Sprachen. Das ist ja auch einer der Gründe, warum ich hier bin. Dürfte ich Sie noch einmal um einen Gefallen bitten, Tyler? Könnten Sie mir mehr Romane bringen?«
»Mehr Marsgeschichten kenne ich leider nicht.«
»Nein, nicht vom Mars. Egal, welche Sorte Roman. Irgendetwas, das Sie für wichtig halten, das Ihnen etwas bedeutet oder Vergnügen bereitet hat.«
»Es gibt bestimmt jede Menge Englisch-Professoren, die mit Freuden bereit wären, eine Leseliste für Sie zu erstellen.«
»Sicher. Aber ich wende mich an Sie.«
»Nun, ich lese zwar gern, aber ziemlich wahllos, und meistens zeitgenössische Literatur.«
»Um so besser. Ich bin häufiger allein, als Sie sich vielleicht vorstellen. Meine Wohnung ist bequem, aber ohne aufwändige Planung kann ich sie nicht verlassen. Ich kann zum Beispiel nicht einfach so ins Restaurant gehen. Ich kann mir keine Filme im Kino ansehen oder irgendeinem Verein beitreten. Ich könnte meine Aufpasser um Bücher bitten, doch gerade das möchte ich eben nicht: Literatur lesen, die von irgendeinem Komitee abgesegnet wurde. Ein ehrliches Buch dagegen ist fast so viel wert wie ein Freund.«
Das war mehr oder weniger die deutlichste Klage über seine Stellung bei Perihelion, seine Stellung in der Welt überhaupt, zu der Wun sich in meiner Gegenwart je hinreißen ließ. Tagsüber sei er eigentlich ganz zufrieden, sagte er, viel zu beschäftigt, um sich in Nostalgie zu ergehen, fasziniert von all den Merkwürdigkeiten dieser Welt, die für ihn doch immer eine fremde bleiben würde. In der Nacht jedoch, beim Einschlafen, stellte er sich manchmal vor, wie er am Ufer eines marsianischen Sees spazierenging und die Vögel beobachtete, die in Schwärmen über die Wellen segelten, und in seiner Vorstellung war es immer ein diesiger Nachmittag, das Licht getönt von Partikeln jenes uralten Staubs, der sich aus den Wüsten Noachis’ erhob. In diesem Traum, dieser Vision sei er allein, sagte er, aber er wisse, dass hinter der nächsten Biegung des felsigen Ufers Leute auf ihn warteten. Es mochten Freunde oder Fremde sein, vielleicht sogar seine Familie, die er verloren hatte — er wusste nur, dass er von ihnen begrüßt werden würde, willkommen geheißen, berührt, umarmt, an die Brust gezogen. Doch es war nur ein Traum.
»Wenn ich lese«, sagte er, »höre ich das Echo dieser Stimmen.«
Ich versprach, ihm Bücher zu bringen. Erst einmal aber hatten wir etwas anderes zu tun: Der Sicherheitskordon am Eingang zur Cafeteria geriet in Bewegung. Einer der Anzugträger kam herein und sagte: »Oben verlangt man nach Ihnen.«
Wun kletterte von seinem Stuhl herunter. Ich sagte, dass wir uns dann später sehen würden.
Der Sicherheitsmann wandte sich mir zu. »Sie auch. Es wird nach Ihnen beiden verlangt.«
Wir wurden in einen an Jasons Büro angrenzenden Konferenzraum geschleust, wo Jason und eine Hand voll von Perihelion-Abteilungsleitern einer Delegation gegenüberstanden, der E. D. Lawton und der mutmaßlich neue Präsident Preston Lomax angehörten. Keiner von ihnen machte einen sonderlich glücklichen Eindruck.
Ich hatte E. D. seit längerem nicht mehr gesehen. Seine Hagerkeit hatte mittlerweile etwas beinahe Krankhaftes, als würde der Lebenssaft langsam aus ihm heraussickern. Gestärkte weiße Manschetten, knochige braune Handgelenke. Sein Haar war schütter, kraftlos, aufs Geratewohl gekämmt. Aber seine Augen waren noch immer wieselflink; schon immer waren E. D.s Augen um so lebendiger gewesen, je wütender er war.
Lomax dagegen wirkte einfach nur ungeduldig. Er war zu Perihelion gekommen, um sich mit Wun fotografieren zu lassen — die Fotos sollten nach der offiziellen Bekanntgabe veröffentlicht werden — und um über das Replikator-Projekt zu sprechen, für das er sich einzusetzen beabsichtigte. E. D.s Anwesenheit war seiner Reputation geschuldet — er hatte so lange geredet, bis er an der Wahlkampfvisite des Vizepräsidenten teilnehmen durfte, und hatte offenbar mit dem Reden seither nicht mehr aufgehört.
Während des einstündigen Rundgangs durch die Anlage hatte E. D. praktisch jede Äußerung von Jasons Abteilungsleitern in Frage gestellt, offen angezweifelt oder mit Häme beziehungsweise dick aufgetragener Besorgnis kommentiert, insbesondere, als die Besuchergruppe sich im Bereich der neuen Inkubator-Labore bewegte. Jason — so berichtete mir später Jenna Wylie, die Leiterin des Kryonik-Teams — hatte jeden Ausbruch seines Vaters mit geduldigen, vermutlich wohlvorbereiteten Darlegungen gekontert. Woraufhin E. D. sich nur noch mehr in Rage redete und schließlich, Jenna zufolge, an einen »zum Wahnsinn getriebenen Lear« gemahnte, der sich über »hinterhältige Marsianer« ereiferte.
Die Schlacht war noch im Gange, als Wun und ich eintraten. E. D. stützte sich gerade auf den Konferenztisch und sagte: »Kurzum, es hat so etwas noch nie gegeben, es ist unerprobt und es stützt sich auf eine Technologie, die wir weder verstehen noch kontrollieren können.«
Jason lächelte wie jemand, der viel zu höflich ist, um einen angesehenen, aber leicht verschrobenen Älteren zu beschämen. »Es liegt auf der Hand, dass alles, was wir tun, mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Aber…«
Aber jetzt waren wir gekommen. Einige von den Anwesenden hatten Wun noch nie gesehen und gaben dies deutlich zu erkennen, indem sie ihn wie eine aufgescheuchte Herde Schafe anstarrten. Lomax räusperte sich vernehmlich. »Entschuldigen Sie, aber ich müsste mich jetzt unbedingt einmal mit Jason und unseren Neuankömmlingen unterhalten — ungestört, falls das möglich ist? Dauert wirklich nur eine Minute.«
Und so begaben sich alle, die damit angesprochen waren, gehorsam nach draußen, E. D. eingeschlossen, der freilich keinen hinauskomplimentierten, sondern eher einen triumphierenden Eindruck hinterließ.
Die Türen wurden geschlossen, und die gepolsterte Stille des Konferenzsaals senkte sich wie frisch fallender Schnee. Lomax wandte sich Jason zu. »Ich weiß, Sie haben gesagt, wir würden unter Beschuss stehen. Trotzdem…«
»Es ist ziemlich starker Tobak, das ist mir klar.«
»Es passt mir nicht, wenn E. D. uns von außen ins Zelt pinkelt. Aber er kann uns letztlich nichts anhaben, vorausgesetzt…«
»Vorausgesetzt, seine Aussagen sind unbegründet. Ich versichere Ihnen, dass das der Fall ist.«
»Sie sagen, er ist senil.«
»So weit würde ich nicht gehen. Wenn Sie mich aber fragen, ob ich glaube, dass sein Urteil fragwürdig geworden ist, dann allerdings ist die Antwort ja.«
»Ihnen ist klar, dass diese Unterstellung in beide Richtungen geht.«
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich in der Gegenwart eines amtierenden Präsidenten befunden. Lomax war zwar noch nicht gewählt, aber zwischen ihm und dem höchsten Amt standen nur noch reine Formalitäten. Als Vize hatte er immer ein wenig düster gewirkt, allzu nachdenklich, wie der felsige Bundesstaat Maine im Vergleich zu Garlands ausgelassenem Texas, der ideale Repräsentant bei einem Staatsbegräbnis. Im Wahlkampf hatte er gelernt, ein bisschen mehr zu lächeln, aber so richtig überzeugend kam es nicht rüber, und die politischen Karikaturisten ließen es sich nicht nehmen, das Stirnrunzeln herauszustreichen, die zwischen die Zähne geklemmte Unterlippe, so als würde er sich gerade eine üble Beschimpfung verbeißen, und die kalten Augen, so eisig wie der Winter in Cape Cod.
»Beide Richtungen? Sie beziehen sich auf E. D.s Andeutungen über meine Gesundheit?«
Lomax seufzte. »Also, offen gesagt, der Standpunkt Ihres Vaters hinsichtlich der Durchführbarkeit des Replikatoren-Projekts fällt nicht übermäßig ins Gewicht. Er ist damit in der Minderheit, und das wird voraussichtlich auch so bleiben. Aber ja, ich muss zugeben, dass das, was er heute vorgebracht hat, ein wenig beunruhigend ist.« Unvermittelt wandte er sich mir zu. »Das ist der Grund, warum Sie hier sind, Dr. Dupree.«
Auch Jason richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Seine Stimme klang vorsichtig, betont neutral. »Offenbar hat E. D. einige ziemlich wilde Behauptungen aufgestellt. Er sagt, ich leide an einer, was war es noch, einer aggressiven Gehirnkrankheit?«
»Einem unheilbaren neurologischen Verfall«, sagte Lomax, »der Jasons Fähigkeit beeinträchtigt, anstehende Unternehmungen hier bei Perihelion zu leiten. Was sagen Sie dazu, Dr. Dupree?«
»Nun, ich würde sagen, dass Jason recht gut für sich selbst sprechen kann.«
»Das habe ich bereits«, sagte Jason. »Ich habe dem Vizepräsidenten alles über meine MS erzählt.«
An der er in Wahrheit ja gar nicht litt. Es war ein Wink für mich. Ich räusperte mich. »Multiple Sklerose ist nicht hundertprozentig heilbar, aber wir können sehr viel mehr tun, als sie lediglich unter Kontrolle zu halten. Ein MS-Patient hat heutzutage eine Lebenserwartung wie jeder andere auch. Vielleicht hat Jason sich bislang gescheut, darüber zu sprechen, und das ist sein gutes Recht, aber MS ist nichts, dessen man sich zu schämen hätte.«
Jason musterte mich auf eine Weise, die ich nicht interpretieren konnte.
»Danke für die Information«, sagte Lomax trocken. »Übrigens, kennen Sie zufällig einen Dr. Malmstein? David Malmstein?«
Eine Stille folgte, in die wir blickten wie in eine weit aufgerissene Fallklappe.
»Ja«, erwiderte ich, vielleicht einen Tick zu spät.
»Dieser Dr. Malmstein ist Neurologe, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Haben Sie ihn in der Vergangenheit konsultiert?«
»Ich konsultiere viele Spezialisten. Das gehört zu meiner Tätigkeit als Arzt.«
»E. D. zufolge haben Sie diesen Dr. Malmstein herangezogen, um Jasons, äh, schwere neurologische Störung zu behandeln.«
Womit sich der kalte Blick erklärte, den Jason auf mich richtete. Jemand hatte mit E. D. über dieses Thema gesprochen, jemand aus Jasons näherem Umfeld. Ich versuchte nicht daran zu denken, wer es gewesen sein könnte. »Das würde ich bei jedem Patienten mit einer möglichen MS-Diagnose so machen. Ich führe eine recht gute Ambulanz hier bei Perihelion, aber natürlich haben wir hier nicht die Diagnoseinstrumente, die Malmstein zur Verfügung stehen.«
Lomax, glaube ich jedenfalls, registrierte dies als eine Nichtantwort. Dennoch spielte er Jason wieder den Ball zu. »Sagt Dr. Dupree die Wahrheit?«
»Selbstverständlich.«
»Sie trauen ihm?«
»Er ist mein Arzt. Natürlich traue ich ihm.«
»Denn nichts für ungut, Jason, ich wünsche Ihnen alles Gute, aber im Grunde interessieren mich Ihre gesundheitlichen Probleme einen Dreck. Was mich interessiert, ist, ob Sie dieses Projekt bis zum Ende durchziehen können. Können Sie das?«
»Solange wir die dazu nötigen Mittel bekommen, ja. Ich werde das Meine dafür tun, Sir.«
»Und wie steht’s mit Ihnen, Botschafter Wen? Haben Sie in diesem Zusammenhang irgendwelche Bedenken? Irgendwelche Sorgen oder Fragen bezüglich der Zukunft von Perihelion?«
Wun schürzte die Lippen, drei Viertel eines marsianischen Lächeln. »Nicht im Geringsten. Ich vertraue Jason Lawton voll und ganz. Ebenso vertraue ich Dr. Dupree. Er ist auch mein Arzt.«
Letztere Bemerkung nötigte sowohl Jason als auch mich, unsere Verblüffung zu verbergen, aber sie besiegelte die Vereinbarung mit Lomax. Der Vizepräsident zuckte mit den Achseln. »Na schön. Ich hoffe, Jason, Sie bleiben bei guter Gesundheit, und ich hoffe, dass der Tonfall der Fragen Sie nicht gekränkt hat, aber angesichts von E. D.s Status war ich der Ansicht, dass ich sie stellen musste.«
»Das verstehe ich. Was E. D. betrifft…«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen Ihrem Vater.«
»Es wäre nicht schön, ihn gedemütigt zu sehen.«
»Er wird ganz diskret ins Abseits gestellt. Wenn er allerdings an die Öffentlichkeit gehen will…« Erneutes Achselzucken. »Dann, fürchte ich, wird es sein eigener Geisteszustand sein, den man in Frage stellt.«
Jason nickte. »Natürlich hoffen wir alle, dass das nicht nötig sein wird.«
Die folgende Stunde verbrachte ich in der Praxis. Molly war heute Morgen nicht erschienen, Lucinda hatte alle Termine gemacht. Ich dankte ihr und gab ihr für den Rest des Tages frei. Ich erwog, ein paar Telefonate zu führen, doch zog es vor, mich damit nicht dem Perihelion-Netz anzuvertrauen.
Ich wartete, bis Lomax’ Hubschrauber und seine Autokolonne abgedampft waren; dann räumte ich meinen Schreibtisch auf und überlegte, was ich machen wollte. Ich stellte fest, dass meine Hände leicht zitterten. Keine MS. Wut vielleicht. Empörung. Schmerz. Ich wollte es diagnostizieren, nicht erleiden. Ich wollte es ins Register des »Diagnostisch-statistischen Handbuchs« bannen.
Ich stand gerade im Rezeptionsbereich, als Jason durch die Tür kam. »Ich möchte dir dafür danken, Ty, dass du mich unterstützt hast. Das bedeutet ja wohl, dass du es nicht warst, der E. D. von Malmstein erzählt hat.«
»Das würde ich nie tun, Jase.«
»Ich glaube dir. Aber jemand hat es getan. Und damit haben wir ein Problem. Denn wie viele Personen wussten davon, dass ich bei einem Neurologen war?«
»Du, ich, Malmstein, Malmsteins Mitarbeiter…«
»Malmstein wusste nicht, dass E. D. im Dreck wühlte, und seine Mitarbeiter auch nicht. E. D. muss es aus einer anderen, einer näheren Quelle erfahren haben. Wenn ich es nicht war und du nicht…«
Molly. Er brauchte es nicht auszusprechen. »Ohne Beweise können wir sie nicht beschuldigen.«
»Das sagst du. Du bist derjenige, der mit ihr geschlafen hast. Hast du irgendwelche Unterlagen über meine Besuche bei Malmstein?«
»Nicht hier im Büro.«
»Zu Hause?«
»Ja.«
»Hast du sie ihr gezeigt?«
»Natürlich nicht.«
»Aber sie könnte ohne dein Wissen Zugang dazu gehabt haben?«
»Möglich.« Ja.
»Und jetzt ist sie nicht hier. Hat sie sich krank gemeldet?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Sie hat sich überhaupt nicht gemeldet. Lucinda hat versucht sie zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon.«
Er seufzte. »Nicht, dass ich dir Vorwürfe mache, Ty, aber du musst zugeben, dass du in dieser Sache einige fragwürdige Entscheidungen getroffen hast.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Ich weiß, dass du wütend bist. Verletzt und wütend. Ich will nicht, dass du losrennst und etwas tust, das alles nur noch schlimmer macht. Ich will, dass du dir überlegst, wie du zu diesem Projekt stehst. Wem oder was du dich letzten Endes verpflichtet fühlst.«
»Da gibt es nichts zu überlegen«, sagte ich.
Ich versuchte, Molly von meinem Auto aus zu erreichen, doch sie ging immer noch nicht ans Telefon. Es war ein warmer Tag. Rasensprinkler legten einen Dunstschleier über den flachen Gebäudekomplex. Der Geruch von nasser Erde drang ins Auto.
Ich fuhr gerade auf den Besucherparkplatz zu, da sah ich sie, wie sie Kisten in einen verbeulten weißen Mietanhänger schob, der an ihrem drei Jahre alten Ford hing. Ich setzte meinen Wagen genau davor. Als sie mich bemerkte, sagte sie etwas, das ich nicht verstehen konnte, doch die Lippenbewegung deutete stark auf »Oh, Scheiße« hin. Immerhin lief sie nicht weg, als ich aus dem Auto stieg.
»Du kannst da nicht parken«, sagte sie. »Du blockierst die Ausfahrt.«
»Willst du wegfahren?«
Molly stellte einen Karton mit der Aufschrift GESCHIRR auf den gewellten Boden des Anhängers. »Wonach sieht es denn aus?«
Sie trug braune Hosen, ein Jeanshemd und ein um die Haare geschlungenes Tuch. Ich kam näher. Sie wich drei Schritte zurück.
»Ich tu dir nichts.«
»Was willst du dann?«
»Ich will wissen, wer dich angeheuert hat.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Warst du mit E. D. selbst in Kontakt oder lief es über einen Mittelsmann?«
»Scheiße.« Sie sah sich hektisch um. »Lass mich einfach fahren, Tyler. Was willst du von mir? Was soll das hier werden?«
»Bist du zu ihm gegangen und hast ihm ein Angebot gemacht oder hat er sich an dich gewandt? Und wann fing das alles an, Moll? Hast du mich gevögelt, um an die Information zu kommen, oder hast du mich verkauft, als wir schon zusammen waren?«
»Scher dich zum Teufel!«
»Wie viel hast du gekriegt? Ich möchte gern wissen, wie viel ich wert bin.«
»Zum Teufel mit dir. Was spielt das überhaupt für eine Rolle? Es ist nicht…«
»Erzähl mir nicht, dass es nicht um Geld ging. Ich meine, hast du hier irgendwelche Prinzipien verfochten oder was?«
»Geld ist das Prinzip.« Sie klopfte sich die Hände an der Hose ab, ein bisschen weniger ängstlich, ein bisschen aufmüpfiger.
»Was ist es denn, was du dir unbedingt kaufen willst, Moll?«
»Was ich kaufen will? Das einzig Wichtige, was man kaufen kann. Einen besseren Tod. Einen saubereren, besseren Tod. Eines Morgens wird die Sonne aufgehen und nicht mehr aufhören aufzugehen, bis der ganze Scheißhimmel in Flammen steht. Und tut mir Leid, bis es so weit ist, möchte ich irgendwo leben, wo es nett ist. Irgendwo nur für mich. Wo ich es mir so behaglich wie möglich machen kann. Und wenn dann dieser letzte Morgen kommt, dann möchte ich ein paar teure Pharmazeutika bei mir haben, die mich über die Grenze tragen. Ich will einschlafen, bevor das große Schreien anfängt. Im Ernst, Tyler, das ist alles, das ist das Einzige in dieser Welt, was ich wirklich, wirklich möchte, und danke, vielen Dank dafür, dass du es ermöglicht hast!« Sie trug ein zorniges Stirnrunzeln zur Schau, doch es hatte sich auch eine Träne selbstständig gemacht, die ihr jetzt über die Wange rann. »Fahr bitte dein Auto weg.«
»Ein hübsches Haus und ein Fläschchen mit Pillen? Das ist dein Preis?«
»Wenn ich nicht selbst für mich sorge, wer dann?«
»Nun, das klingt jetzt lächerlich, aber ich dachte, wir beide könnten füreinander sorgen.«
»Dafür müsste ich dir vertrauen können. Und nichts für ungut — aber sieh dich an. Du gleitest durchs Leben, als würdest du auf eine Antwort oder einen Erlöser warten oder einfach nur immer in der Warteschleife bleiben wollen.«
»Molly, ich versuche hier, vernünftig mit dir zu reden.«
»Oh, das bezweifle ich nicht. Wenn Vernunft ein Messer wäre, würde ich ziemlich stark bluten. Armer vernünftiger Tyler. Aber das ist auch leicht zu durchschauen. Es ist deine Rache, nicht wahr? Dieses ganze Heilige, das du trägst wie einen Anzug, das ist deine Rache an der Welt, dafür, dass sie dich enttäuscht hat. Die Welt hat dir nicht das gegeben, was du wolltest, und du zahlst es ihr mit Mitgefühl und Aspirin heim.«
»Molly…«
»Und wage es nicht zu sagen, dass du mich liebst, denn ich weiß, dass das nicht wahr ist. Du kennst nicht mal den Unterschied zwischen verliebt sein und sich so verhalten, als sei man verliebt. Ist ja nett, dass deine Wahl auf mich gefallen ist, aber es hätte genauso gut jede andere sein können, nicht wahr? Und glaub mir, Tyler, es wäre, so oder so, eine Enttäuschung gewesen.«
Ich wandte mich ab und ging zu meinem Auto, schockiert nicht so sehr über den Verrat als über die Endgültigkeit, mit der die Intimität einer Beziehung plötzlich weggewischt war wie Kleinaktien bei einem Börsenkrach. Dann drehte ich mich doch noch einmal um. »Wie steht es denn mit dir, Molly? Ich weiß, du bist für Informationen bezahlt worden, aber war das der Grund, warum du mich gevögelt hast?«
»Ich hab dich gevögelt, weil ich einsam war.«
»Und was bist du jetzt?«
»Ich habe nie aufgehört, einsam zu sein.«
Ich stieg ins Auto und fuhr weg.