Das ticken teurer Uhren

Die Präsidentschaftswahlen rückten näher, und Jason wollte sie nutzen, um vorübergehend von der Bildfläche zu verschwinden.

»Bring mich in Ordnung«, hatte er gesagt. Er beharrte darauf, dass das möglich war. Auf unorthodoxe Weise. Auf behördlich nicht anerkannte Weise. Aber mittels einer Therapie, die eine lange und gut dokumentierte Geschichte vorweisen konnte. Und er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich diese Therapie zunutze machen würde, ob mit meiner Unterstützung oder ohne.

Und weil Molly um ein Haar alles zerstört hätte, was ihm wichtig war — und mich noch dazu in den Trümmern hatte sitzen lassen —, erklärte ich mich bereit, ihm zu helfen. (Und musste dabei ironischerweise daran denken, was E. D. vor vielen Jahren einmal zu mir gesagt hatte: Ich erwarte von dir, dass du auf ihn Acht gibst. Ich erwarte, dass du vernünftige Entscheidungen triffst. War es das, was ich jetzt tat?)

In den Tagen vor der Wahl machte Wun Ngo Wen uns mit der Prozedur und den damit verbundenen Risiken vertraut. Sich mit dem Marsianer zu besprechen, war nicht leicht. Das Problem dabei war weniger das ihn umgebende Sicherheitsnetz — obwohl auch das schwer genug zu überwinden war — als die unzähligen Analytiker und Spezialisten, die sich an seinen Archiven labten wie Kolibris am Nektar. Allesamt angesehene Gelehrte, vom FBI und vom Heimatschutzministerium auf Herz und Nieren überprüft, zur (jedenfalls befristeten) Geheimhaltung verpflichtet und fasziniert vom riesigen Umfang des marsianischen Wissens, das Wun mit auf die Erde gebracht hatte. Ausgedruckt belief sich das Material auf über fünfhundert jeweils tausendseitige Bände Astronomie, Biologie, Mathematik, Physik, Medizin, Geschichte und Technik, vieles davon dem terrestrischen Wissen um ein Beträchtliches voraus. Wäre der gesamte Bestand der Bibliothek von Alexandria mittels Zeitmaschine geborgen worden — der Futterstreit innerhalb der akademischen Welt hätte kaum heftiger ausfallen können.

Diese Leute standen unter dem Druck, ihre Arbeit vor der offiziellen Bekanntgabe von Wuns Anwesenheit abschließen zu müssen. Die Regierung wollte die Archive — vieles davon war in einer als englisch erkennbaren Sprache, einiges aber auch im marsianischen Wissenschaftsjargon abgefasst — wenigstens grob indexiert haben, bevor andere Staaten die Forderung nach gleichberechtigtem Zugang erhoben. Das Außenministerium plante, redigierte Kopien zu verteilen, aus denen potenziell wertvolle oder gefährliche technologische Erörterungen herausgenommen waren oder »in Zusammenfassung präsentiert« wurden, während die Originale unter strengstem Verschluss blieben.

Und so kämpften ganze Kohorten von Wissenschaftlern um Zugang zu Wun — der etwaige Lücken in den marsianischen Texten erläutern oder füllen konnte — und wachten eifersüchtig darüber, dass ihnen kein Unbefugter in die Quere kam. Mehrmals kam es vor, dass ich von hysterisch höflichen Männern und Frauen aus der »Hochenergiephysik-Gruppe« oder der »Molekularbiologie-Gruppe«, die ihre vereinbarte Viertelstunde einforderten, aus Wuns Räumen verscheucht wurde. Manchmal stellte Wun mich diesen Leuten vor, aber keiner von ihnen legte großen Wert auf meine Bekanntschaft und die Leiterin der für die medizinischen Wissenschaften zuständigen Gruppe bekam vor Schreck beinahe Herzrasen, als der Marsianer verkündete, er habe mich zu seinem persönlichen Arzt erkoren.

Jason beschwichtigte die Wissenschaftler ein wenig, indem er erklärte, dass Wuns Kontakt zu mir Teil des »Sozialisationsprozesses« sei, der Versuch, sich an terrestrische Gepflogenheiten außerhalb der Welt von Politik oder Wissenschaft anzupassen, und ich meinerseits versprach der medizinischen Leiterin, dass ich Wun keiner ärztlichen Behandlung unterziehen würde, ohne mit ihr Rücksprache zu halten. Ein Gerücht verbreitete sich unter den Forschern, wonach ich einfach nur irgendein Zivilist war, der sich mit Schmeicheleien Zugang zu Wuns engstem Kreis verschafft hatte und einen fetten Buchvertrag zu ergattern hoffte, sobald Wuns Existenz öffentlich bekannt war. Das Gerücht entstand spontan, ohne unser Zutun, aber wir taten auch nichts, um ihm entgegenzutreten; es diente unseren Zwecken.

An die Pharmazeutika heranzukommen, war dagegen leichter, als ich erwartet hatte. Wun war mit einem marsianischen Arzneimittelvorrat auf der Erde eingetroffen. Keines dieser Medikamente besaß ein terrestrisches Gegenstück, und jedes davon, behauptete Wun, könnte irgendwann einmal für ihn wichtig werden. Die medizinische Ausrüstung war nach der Landung konfisziert, ihm jedoch wieder ausgehändigt worden, nachdem er den Status eines Gesandten erlangt hatte. (Natürlich hatte die Regierung Proben entnehmen lassen, doch Wun glaubte nicht, dass eine Analyse mit den hiesigen Mitteln den Verwendungszweck auch nur einer einzigen dieser synthetischen Substanzen enthüllen würde.) Er stellte Jason also einfach einige Reagenzgläser mit reinem Arzneistoff zur Verfügung, und Jason trug diese, durch seine Stellung vor argwöhnischen Fragen geschützt, aus dem Perihelion-Gebäude heraus.

Wun instruierte mich über Dosierung, zeitliche Steuerung, Gegenindikationen und mögliche Probleme. Ich war entsetzt über die lange Liste der Risiken. Selbst auf dem Mars, so Wun, lag die Sterblichkeitsrate beim Übergang zum Vierten Alter bei keineswegs vernachlässigenswerten 0,1 Prozent, und Jasons Fall wurde durch seine AMS verkompliziert.

Ohne Behandlung jedoch fiel die Prognose für Jason noch schlechter aus. Und er würde die Sache in jedem Fall durchziehen, ob ich nun zustimmte oder nicht — der verordnende Arzt war in gewissem Sinne Wun Ngo Wen, nicht ich; meine Rolle bestand letztlich darin, das Verfahren zu überwachen und etwaige Nebenwirkungen zu behandeln. Mit diesem Gedanken beruhigte ich mein Gewissen, obwohl er vor Gericht schwerlich Bestand gehabt hätte — Wun mochte das Medikament zwar »verschrieben« haben, aber es war nicht seine Hand, die es in Jasons Körper einführen würde. Sondern meine.

Wun würde nicht einmal anwesend sein. Jason hatte für Ende November, Anfang Dezember einen dreiwöchigen Urlaub angemeldet, einem Zeitpunkt, an dem Wun bereits weltberühmt sein würde, an dem jeder seinen Namen — so ungewöhnlich er war — kennen würde. Der Marsianer würde vor den Vereinten Nationen sprechen und sich an der Gastlichkeit von Monarchen, Mullahs, Präsidenten und Premierministern erfreuen, während sich Jason schwitzend und kotzend auf den Weg der Besserung machte.

Dazu benötigten wir einen geeigneten Ort. Einen Ort, an dem er krank sein konnte, ohne aufzufallen; wo ich ihn versorgen konnte, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen; einen Ort aber auch, an dem man einen Rettungswagen rufen konnte, falls irgendetwas schief lief. Irgendwo, wo man sich einrichten konnte. Wo es ruhig war.

»Ich weiß den idealen Ort«, sagte Jason.

»Und wo?«

»Im Großen Haus.«

Ich lachte, doch dann merkte ich, dass es ihm ernst damit war.


Erst in der Woche nach Lomax’ Besuch bei Perihelion meldete sich Diane wieder, die Woche, nachdem Molly die Stadt verlassen hatte, um die Belohnung zu empfangen, die ihr von E. D. Lawton versprochen worden war.

Sonntagnachmittag. Ich saß allein in meinem Haus. Ein sonniger Tag, doch die Jalousien waren heruntergezogen. Schon die ganze Woche über, während ich meine Zeit zwischen den regulären Behandlungen und verschwiegenen Tutorien mit Wun und Jase aufteilte, hatte ich der Leere dieses Wochenendes in die Augen gestarrt. Es ist gut, beschäftigt zu sein, sagte ich mir, denn wenn man beschäftigt ist, kann man sich in die unzähligen, aber verstehbaren Probleme des Alltags versenken, die den Schmerz verdrängen und die Reue ersticken. Das war durchaus gesund. Das war Teil der »Bewältigung«. Oder jedenfalls eine notwendige Verzögerungstaktik. Nützlich — aber nur vorübergehend wirksam. Denn früher oder später verklingt der Lärm, der Trubel verstreut sich und du gehst nach Hause, wo die ausgebrannte Glühbirne auf dich wartet, das leere Zimmer, das ungemachte Bett.

Es war ganz schön übel. Ich war mir nicht einmal sicher, was ich empfinden, oder besser: welchem der widersprüchlichen und miteinander nicht zu vereinbarenden Schmerzzustände ich zuerst ins Auge blicken sollte. »Ohne sie bist du besser dran«, hatte Jason wiederholt gesagt, und das war immerhin ebenso zutreffend wie banal: Besser dran ohne sie — aber noch besser wäre es gewesen, wenn ich aus ihr schlau geworden wäre, wenn ich hätte erkennen können, ob Molly mich benutzt oder mich dafür bestraft hatte, dass ich sie benutzte, ob meine kühle und vielleicht etwas gefälschte Liebe sich auf dem gleichen Niveau bewegte wie ihre so eisige wie lohnenswerte Absage an sie.

Dann klingelte das Telefon, gerade als ich die Laken und Decken von meinem Bett riss und für einen Besuch im Waschraum zusammenpackte, wo ihnen mit großen Mengen Waschpulver und heißem Wasser Mollys Aura ausgetrieben werden sollte. Bei so einer Tätigkeit will man eigentlich nicht gestört werden, es macht einen doch ein ganz klein bisschen verlegen. Aber es war mir einfach nicht gegeben, ein klingelndes Telefon zu ignorieren. Also ging ich ran.

»Tyler?«, sagte Diane. »Bist du allein?«

Ja, war ich.

»Gut, ich bin froh, dass ich dich endlich erwische. Ich wollte dir nämlich sagen, dass wir unsere Telefonnummer wechseln. Wir lassen uns aus dem Verzeichnis streichen. Aber für den Fall, dass du mich dringend erreichen musst…«

Sie gab mir ihre Nummer, ich kritzelte sie auf eine Serviette. »Warum lasst ihr euch aus dem Verzeichnis streichen?« Sie und Simon hatten gerade mal einen einzigen Festnetzanschluss, was, so meine Vermutung, eine Art Buße war, so ähnlich wie Wollsachen tragen oder Vollkornprodukte essen.

»Na ja, zuletzt haben wir lauter seltsame Anrufe von E. D. bekommen. Ein paarmal hat er spät nachts angerufen und Simon Vorhaltungen gemacht. Er klang ein bisschen betrunken. E. D. hasst Simon. E. D. hat Simon von Anfang an gehasst, aber nachdem wir nach Phoenix gezogen waren, haben wir nie wieder etwas von ihm gehört. Bis jetzt. Das Schweigen hat wehgetan — aber das jetzt ist noch schlimmer.«

Dianes Telefonnummer mochte ebenfalls zu den Informationen gehört haben, die Molly aus meinem Organisationsprogramm geklaubt und an E. D. weitergegeben hatte. Das konnte ich Diane natürlich nicht sagen, ohne meinen Verschwiegenheitseid zu verletzen, ebenso wie ich nicht über Wun Ngo Wen oder eisfressende Replikatoren sprechen konnte. Ich erzählte ihr aber, dass Jason und sein Vater einen Kampf um die Kontrolle über Perihelion geführt hätten, aus dem Jason siegreich hervorgegangen sei, und vielleicht sei es das, was E. D. zu schaffen mache.

»Könnte sein«, sagte Diane. »Zumal so kurz nach der Scheidung.«

»Welcher Scheidung? Sprichst du von E. D. und Carol?«

»Hat Jason dir das nicht erzählt? E. D. wohnt seit Mai in Georgetown zur Miete. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen, aber es sieht so aus, als würde Carol das Große Haus plus Unterhaltszahlungen bekommen und E. D. den ganzen Rest. Die Scheidung war seine Idee, nicht ihre. Was nachzuvollziehen ist: Carol bewegt sich seit Jahrzehnten an der Schwelle zum Alkoholkoma. Sie war keine gute Mutter und sie kann E. D. auch keine besonders gute Frau gewesen sein.«

»Das heißt, du gibst ihm Recht?«

»Nein. Meine Haltung zu ihm hat sich nicht verändert. Er war ein schrecklicher, gleichgültiger Vater — jedenfalls für mich. Ich mochte ihn nicht, und ihm war das völlig egal. Aber ich hatte auch nicht diesen großen Respekt vor ihm, so wie Jason. Jason sah in ihm den übermächtigen Industriekönig, den großen Macher in Washington.«

»Ist er das nicht?«

»Er ist erfolgreich und hat Einfluss, das ist wahr, aber das muss man alles relativ sehen, Ty. Es gibt zehntausend E. D. Lawtons in diesem Land. E. D. wäre auf keinen grünen Zweig gekommen, wenn sein Vater und sein Onkel ihm nicht das erste Unternehmen finanziert hätten — und zwar in der Erwartung, da bin ich mir sicher, dass es ein Abschreibungsprojekt sein würde. E. D. hat das, was er gemacht hat, gut gemacht, und als der Spin ihm Möglichkeiten eröffnete, hat er sie eiskalt genutzt, was ihm wiederum die Aufmerksamkeit einiger wirklich einflussreicher Leute sicherte. Aber im Kreise der Mächtigen blieb er letztlich immer der Neureiche. Ihm fehlte einfach der Harvard-Yale-Stallgeruch. Keine Debütantinnenbälle für mich. Wir waren die armen Kinder in der Straße. Ich meine, es war eine nette Straße, aber es gibt altes Geld und es gibt neues Geld, und wir waren definitiv neues Geld.«

»Tja, von der anderen Seite des Rasens hat es wohl ein bisschen anders ausgesehen. Wie kommt Carol denn damit zurecht?«

»Ach, Carols Medizin kommt aus der gleichen Flasche wie eh und je. Aber was ist mit dir, Tyler? Wie steht’s mit dir und Molly?«

»Molly ist weg.«

»Weg wie in ›mal eben weggegangen‹ oder…«

»Richtig weg. Wir haben Schluss gemacht. Mir fällt kein beschönigender Ausdruck dafür ein.«

»Das tut mir Leid.«

»Danke, aber es ist nur zum Besten. Das sagen alle.«

»Simon und ich kommen ganz gut klar.« Ich hatte nicht danach gefragt. »Die Sache mit der Kirche macht ihm zu schaffen.«

»Neue Entwicklungen in der Kirchenpolitik?«

»Jordan Tabernacle hat gewisse rechtliche Probleme. Ich kenne nicht alle Einzelheiten. Wir sind auch nicht direkt beteiligt, aber Simon nimmt es sich sehr zu Herzen. Doch dir geht’s gut, bist du sicher? Du klingst ein bisschen kratzig im Hals.«

»Ich werd’s überleben«, sagte ich.


Am Morgen vor der Wahl packte ich ein paar Koffer — saubere Kleidung, einige Taschenbücher, medizinische Ausrüstung — in mein Auto und holte dann Jason ab, um mit ihm die Fahrt nach Virginia anzutreten. Er hatte nach wie vor eine Schwäche für schicke Autos, doch wir mussten unauffällig reisen — deshalb mein Honda, nicht sein Porsche. Die Highways waren nicht mehr sicher für Porsches.

Die Amtszeit von Präsident Garland war eine gute Zeit für jene gewesen, deren Jahreseinkommen über einer halben Million Dollar lag, und eine schwere Zeit für alle anderen. Das konnte man leicht erkennen, wenn man unterwegs war: entlang der Straße entfaltete sich ein Tableau aus Billigmärkten, mit Brettern vernagelten Malls, Parkplätzen, auf denen Menschen in reifenlosen Autos hausten, und Orten, die von einem Stuckey’s-Laden und einer Radarfalle lebten. Von der Polizei aufgestellte Schilder verkündeten NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT NICHT ANHALTEN oder FÜR SCHNELLE HILFE IN NOTFÄLLEN IST EINE BESTÄTIGTE MELDUNG UNTER 911 ERFORDERLICH. Die Highwaypiraterie hatte den Verkehr von PKWs um die Hälfte reduziert, und so verbrachten wir den größten Teil der Strecke im Wind- respektive Sichtschatten langer Sattelzüge, manche davon in deutlich reparaturbedürftigem Zustand, oder tarnfarbengrüner Armeelaster, die zwischen den diversen Militärbasen pendelten.

Aber wir redeten nicht über diese Dinge. Wir redeten auch nicht über die Wahl, deren Ausgang ohnehin feststand — Lomax führte in den Umfragen haushoch vor seinen Mitbewerbern. Wir redeten nicht über eisfressende Replikatoren, nicht über Wun Ngo Wen und ganz sicher nicht über E. D. Lawton. Stattdessen redeten wir über alte Zeiten und gute Bücher und über weite Strecken redeten wir auch gar nicht. Ich hatte die Anlage mit der schroffen, nicht unbedingt marktgängigen Sorte Jazz geladen, die Jason, wie ich wusste, gern hörte: Charlie Parker, Thelonius Monk, Sonny Rollins — Musiker, die bereits vor langer Zeit die Entfernung zwischen der Straße und den Sternen ausgelotet hatten.

Wir hielten vor dem Großen Haus, als die Dämmerung einbrach.

Es war hell erleuchtet, buttergelbe Fenster unter einem irisierend tintenblauen Himmel. Carol Lawton kam uns von der Veranda entgegen, ihr schmaler Körper in einen Strickpullover und paisleyfarbene Schals gehüllt. Dem festen, wenn auch etwas behutsamen Schritt nach zu urteilen, war sie nahezu nüchtern.

Jason schälte sich vorsichtig aus dem Beifahrersitz. Er war in Remission, jedenfalls so weit symptomfrei, wie es zu diesem Zeitpunkt noch möglich war. Mit ein wenig Anstrengung konnte er den Eindruck von Normalität erzeugen. Doch überraschenderweise stellte er diese Anstrengung umgehend ein, als wir das Große Haus erreicht hatten. Er krängte durch die Eingangshalle Richtung Esszimmer. Es waren keine Bediensteten anwesend — Carol hatte alles so arrangiert, dass wir das Haus ein paar Wochen lang für uns hatten —, aber der Koch hatte noch eine kalte Fleisch- und Gemüseplatte vorbereitet für den Fall, dass wir hungrig sein würden. Jason ließ sich in einen Sessel sinken.

Carol und ich folgten ihm. Sie war seit dem Tod meiner Mutter sichtlich gealtert: Ihr Haar war inzwischen so fein und dünn, dass ihre Schädelkonturen durchschimmerten, rosig, beinahe affenartig, und als ich ihren Arm nahm, fühlte er sich an wie Zündholz unter Seide. Ihre Wangen waren eingesunken. Ihre Augen zeigten die brüchige Munterkeit einer vorübergehend trockenen Alkoholikerin. Als ich sagte, dass es schön sei, sie wiederzusehen, lächelte sie fahl. »Danke, Tyler. Ich weiß, wie schrecklich ich aussehe. Gloria Swanson in Boulevard der Dämmerung. Nein, noch nicht bereit für die Nahaufnahme, verbindlichsten Dank, und Sie können mich mal gern haben.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Aber ich bin noch da. Wie geht’s Jason?«

»Wie immer.«

»Lieb von dir, dass du Ausflüchte machst. Aber ich weiß — nun, ich will nicht sagen, dass ich alles weiß. Aber ich weiß, dass er krank ist. Und ich weiß, dass er sich von dir behandeln lassen will. Irgendeine unorthodoxe, aber wirksame Behandlung.« Sie sah mir in die Augen. »Es ist wirksam, nicht wahr, was immer du ihm verabreichen willst?«

Ich war zu verblüfft, um etwas anderes zu sagen als ja.

»Ich musste ihm nämlich versprechen, dass ich keine Fragen stelle. Ich nehme an, das hat seine Richtigkeit so. Jason vertraut dir. Also vertraue ich dir auch. Obwohl ich, wenn ich dich ansehe, unweigerlich das Kind sehe, das in dem Haus am anderen Ende des Rasens lebt. Aber ich sehe auch ein Kind, wenn ich Jason ansehe. Verschwundene Kinder… Ich weiß nicht, wo ich sie verloren habe.«


In der Nacht schlief ich in einem der Gästezimmer des Großen Hauses, einem Zimmer, das ich in all den Jahren, in denen ich auf dem Grundstück lebte, nie betreten, allenfalls mal flüchtig, vom Flur aus, gesehen hatte.

Jedenfalls einen Teil der Nacht schlief ich. Den Rest der Zeit lag ich wach und versuchte, das rechtliche Risiko abzuschätzen, das ich durch mein Herkommen eingegangen war. Ich wusste nicht, gegen welche Gesetze Jason genau verstieß, wenn er marsianische Pharmazeutika aus dem Perihelion-Gelände herausschmuggelte, aber in jedem Fall war ich bereits zum Mittäter geworden.

Am nächsten Morgen überlegte Jason, wo wir die diversen Phiolen aufbewahren sollten, die Wun ihm übergeben hatte — ausreichend Stoff, um vier oder fünf Personen zu behandeln. (»Falls wir mal einen Koffer fallen lassen«, hatte er mir bei Antritt der Reise erklärt. »Redundanz.«)

»Rechnest du mit einer Durchsuchung?« Ich malte mir aus, wie Bundesbeamte in biologischen Schutzanzügen die Treppe des Großen Hauses hinaufschwärmten.

»Natürlich nicht. Aber es immer ratsam, möglichen Risiken vorzubeugen.« Er sah mich scharf an. Sein Auge — auch das ein Symptom der Krankheit — zuckte alle paar Sekunden nach links. »Ist dir mulmig zumute?«

Ich sagte, wir könnten die überschüssigen Präparate im Haus auf der anderen Seite des Rasens verstecken, sofern sie keine Kühlung benötigten.

»Wun zufolge sind sie unter allen Bedingungen chemisch stabil, wenn’s nicht grad eine Kernexplosion ist. Aber ein Durchsuchungsbefehl für das Große Haus würde sich auf das gesamte Grundstück erstrecken.«

»Mit Durchsuchungsbefehlen kenne ich mich nicht aus. Aber ich weiß, wo die Verstecke sind.«

»Zeig sie mir.«

Also marschierten wir über den Rasen, ich vorneweg, Jason etwas unsicheren Schritts hinterdrein. Es war früher Nachmittag, Wahltag, doch auf dem Gras zwischen den beiden Häusern hätte es jeder beliebige Herbsttag sein können, in jedem beliebigen Jahr. Irgendwo in dem kleinen Wäldchen beidseits des Baches meldete sich ein Vogel zu Wort, auf einer einzelnen Note, die sich zunächst forsch entfaltete, dann aber zögerlich wurde wie ein letztlich doch nicht überzeugender Gedanke. Wir erreichten das Haus meiner Mutter, ich drehte den Schlüssel und öffnete die Tür in eine noch größere Stille hinein.

Im Haus wurde von Zeit zu Zeit Staub gewischt und geputzt, doch seit dem Tod meiner Mutter war es grundsätzlich immer verschlossen. Ich war seither nicht wieder hier gewesen, andere Angehörige gab es nicht, und Carol hatte es vorgezogen, das Gebäude in seinem Zustand zu erhalten anstatt es umzubauen. Aber es war nicht zeitlos. Ganz und gar nicht. Die Zeit hatte sich hier eingenistet. Hatte es sich gemütlich gemacht. Das Wohnzimmer roch nach Einschließung, nach den Substanzen, die aus unbenutzten Polstern, gelbem Papier, zur Ruhe gekommenem Gewebe sickern. Im Winter, erzählte mir Carol später, wurde gerade so viel geheizt, dass die Rohre nicht einfroren, im Sommer wurden die Vorhänge zum Schutz gegen Licht und Hitze vorgezogen. Heute war es kühl, drinnen wie draußen.

Jason trat zitternd über die Schwelle. Sein Schritt war den ganzen Morgen schon unstet gewesen, weshalb er auch mich die Pharmazeutika tragen ließ (abzüglich derer, die ich für seine Behandlung beiseite gestellt hatte), gut verstaut in einer gepolsterten Lederreisetasche.

»Das ist das erste Mal, dass ich hierher komme«, sagte er beklommen, »seit sie gestorben ist. Ist es albern zu sagen, dass sie mir fehlt?«

»Nein, ganz und gar nicht albern.«

»Erst bei ihr habe ich erfahren, dass man Leute auch freundlich behandeln kann. Alles, was es im Großen Haus an Freundlichkeit gab, kam von Belinda Dupree.«

Ich führte ihn durch die Küche zu der niedrigen Tür, hinter der es in den Keller ging. Das kleine Haus auf dem Lawton-Grundstück war im Stil eines New-England-Cottages gebaut worden — beziehungsweise so, wie man sich diesen Stil vorgestellt hatte —, daher hatte der Keller aus roh behauenem Betonstein eine so niedrige Decke, dass Jason den Kopf einziehen musste. Der Raum war gerade groß genug für einen Heizkessel, einen Wasserspeicher, eine Waschmaschine und einen Trockner. Die Luft hier war noch ein paar Grad kälter und hatte einen feuchten, mineralischen Geruch.

Ich hockte mich in die Nische hinter der Blechverkleidung des Heizkessels, eine jener staubigen Sackgassen, die selbst von professionellen Reinigungskräften ignoriert werden, und erklärte Jason, es gebe dort eine gesprungene Stelle in der Mauer, die man mit ein bisschen Nachdruck herausbrechen könne, um Zugang zu der Lücke zwischen den Holzpfeilern und der Grundmauer zu erlangen.

»Interessant.« Jason stand einen Meter hinter mir und sprach um die Ecke des Heizkessels herum. »Was hast du denn darin aufbewahrt, Tyler? Alte Ausgaben des Gent

Als ich zehn war, hatte ich hier bestimmte Spielzeuge gelagert, nicht weil ich Angst hatte, jemand würde sie stehlen, sondern weil es mir Spaß machte zu wissen, dass sie versteckt waren und nur ich sie finden konnte. Später vertraute ich dem Versteck weniger unschuldige Dinge an: mehrere abgebrochene Versuche, ein Tagebuch zu fuhren, Briefe an Diane, die nie abgeschickt oder auch nur beendet wurden, und — ja doch, obwohl ich es Jason gegenüber nicht zugeben wollte — Ausdrucke eines relativ zahmen Internetpornos. All diese mit Schuldgefühlen behafteten Geheimnisse waren natürlich vor langer Zeit entsorgt worden.

»Hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen«, sagte Jason. Die einsame Glühbirne an der Decke warf ein äußerst unzulängliches Licht in diese Spinnwebenecke.

»Auf dem Tisch neben dem Sicherungskasten war früher immer eine.« Und da war sie immer noch. Ich schob mich rückwärts aus der Lücke und ließ sie mir von Jason reichen. Sie verströmte den wässrig blassen Schein von fast leeren Batterien, funktionierte aber noch gut genug, dass ich das lose Mauerstück fand, ohne lange danach tasten zu müssen. Ich hob es heraus, schob die Reisetasche in die Lücke dahinter, setzte das Stück dann wieder an seinen Platz und wischte kreideartigen Staub über die Nahtstellen.

Als ich wieder herauskriechen wollte, ließ ich die Taschenlampe fallen, die daraufhin noch weiter in die Spinnenschatten hinter dem Heizkessel rollte. Ich zog eine Grimasse und langte danach, wobei ich mich an dem flackernden Licht orientierte. Berührte den Schaft. Berührte noch etwas anderes. Etwas Hohles, aber Stabiles. Eine Schachtel.

Ich zog sie näher heran.

»Bist du bald fertig da hinten, Ty?«

»Sekunde noch.«

Ich hielt das Licht auf die Schachtel. Es war ein Schuhkarton. Ein Schuhkarton mit einem staubigen New-Balance-Logo, über dem in fetter schwarzer Tinte gemalt stand: ANDENKEN (AUSBILDUNG).

Der Karton, der oben im Wohnzimmer fehlte, der Karton, den ich nach dem Begräbnis meiner Mutter nicht hatte finden können.

»Hast du Schwierigkeiten?«

»Nein.«

Ich konnte der Sache später noch auf den Grund gehen. Ich schob den Karton dorthin zurück, wo ich ihn gefunden hatte, und kroch aus dem Staubloch heraus. Erhob mich und klopfte meine Hände ab. »Dann sind wir hier wohl fertig.«

»Erinnere dich für mich mit«, sagte Jason. »Falls ich es vergesse.«


Am Abend sahen wir uns dann die Wahlergebnisse auf der großen, aber ziemlich veralteten TV-Videoanlage der Lawtons an. Carol hatte ihre Kontaktlinsen verlegt, saß dicht vor dem Bildschirm, verfolgte blinzelnd das Geschehen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Politik weitgehend ignoriert — »Das war immer E. D.s Zuständigkeitsbereich« —, und wir mussten sie erst einmal mit einigen der Hauptakteure bekannt machen. Doch ihr schien schon der bloße Ereignischarakter des Ganzen Spaß zu machen. Jason riss freundliche Witze, und Carol lachte pflichtschuldig, und wenn sie lachte, sah ich ein wenig von Diane in ihrem Gesicht.

Sie wurde jedoch schnell müde und war schon auf ihr Zimmer gegangen, als die Ergebnisse der einzelnen Bundesstaaten einliefen. Es gab keine Überraschungen. Lomax sackte den gesamten Nordosten sowie große Teile des Mittelwestens und Westens ein. Im Süden schnitt er weniger gut ab, doch selbst hier verteilten sich die gegnerischen Stimmen zu fast gleichen Teilen auf die Demokraten und die Christlich Konservativen. Wir räumten gerade unsere Kaffeetassen weg, als der letzte oppositionelle Kandidat seine Niederlage eingestand und dem Sieger mit grimmiger Höflichkeit gratulierte.

»Dann haben also die Guten gewonnen«, sagte ich.

Jason grinste. »Ich weiß nicht genau, ob von denen überhaupt einer kandidiert hat.«

»Ich dachte, Lomax sei gut für uns.«

»Vielleicht. Du darfst aber nicht glauben, dass ihm viel an Perihelion oder dem Replikatorenprogramm gelegen ist, außer als Mittel, den Raumfahrtetat zu begrenzen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, einen großen Schritt nach vorn zu tun. Die Bundesmittel, die er auf diese Weise freimacht, werden in den Verteidigungshaushalt gepumpt. Das ist auch der Grund, warum E. D. keine richtige Anti-Lomax-Stimmung unter seinen alten Kumpeln aus der Raumfahrtindustrie erzeugen konnte. Lomax lässt Boeing oder Lockheed Martin nicht verhungern — sie sollen sich nur umorientieren.«

»Aufs Militärische.« Das Abklingen globaler Konflikte in der ersten Verwirrung nach dem Spin war längst Vergangenheit; eine militärische Aufrüstung war so gesehen vielleicht gar keine schlechte Idee.

»Wenn man glaubt, was Lomax sagt.«

»Tust du das nicht?«

»Ich fürchte, das kann ich mir nicht leisten.«

Mit dieser enigmatischen Aussage ging ich zu Bett.

Am nächsten Morgen verabreichte ich ihm die erste Injektion. Jason legte sich im Wohnzimmer auf ein Sofa. Er trug Jeans und ein Baumwollhemd, wirkte aristokratisch, aber leger, hinfällig, aber entspannt. Falls er Angst hatte, ließ er sich davon nichts anmerken. Er rollte seinen rechten Ärmel auf und legte die Ellenbeuge frei.

Ich nahm eine Spritze aus meinem Arztkoffer, befestigte eine sterile Nadel daran und füllte sie mit der klaren Flüssigkeit aus einer der Phiolen. Wun hatte den Vorgang mit mir geprobt. Die Regularien des Vierten Alters. Auf dem Mars hätte es ein stilles Zeremoniell in einer beruhigenden Umgebung gegeben — hier mussten wir mit dem Licht der Novembersonne und dem Ticken teurer Uhren vorlieb nehmen.

Ich tupfte die Haut ab, bevor ich die Spritze ansetzte. »Du brauchst nicht hinzusehen.«

»Ich möchte aber. Zeig mir, wie es geht.«

Er hatte immer schon, bei allem, wissen wollen, wie es geht.


Die Injektion zeitigte keine unmittelbare Wirkung, doch um die Mittagszeit des folgenden Tages hatte Jason ein leichtes Fieber entwickelt. Es sei nicht schlimmer als eine Erkältung, sagte er, und am Nachmittag forderte er mich auf, mein Fieberthermometer und meine Blutdruckmanschette zu nehmen und — nun ja, damit sonstwohin zu gehen.

Also schlug ich meinen Kragen gegen den Regen hoch — ein nieselnder, hartnäckiger Regen, der in der Nacht begonnen hatte und schon den ganzen Tag andauerte — und ging noch einmal über den Rasen zum Haus meiner Mutter, wo ich ANDENKEN (AUSBILDUNG) aus dem Keller holte und hinauf ins Wohnzimmer trug.

Regentrübes Licht kam durch die Vorhänge. Ich machte eine Lampe an.

Meine Mutter war im Alter von sechsundfünfzig Jahren gestorben. Achtzehn Jahre lang hatte ich hier mit ihr gewohnt. Das war etwas mehr als ein Drittel ihres Lebens. Von den übrigen zwei Dritteln hatte ich nur das gesehen, was sie gewillt war mir zu zeigen. Von Bingham, ihrer Heimatstadt, hatte sie hin und wieder erzählt — ich wusste, dass sie mit ihrem Vater (einem Immobilienmakler) und ihrer Stiefmutter (die in einer Altentagesstätte arbeitete) in einem Haus am oberen Ende einer abschüssigen, von Bäumen gesäumten Straße gewohnt hatte; dass sie als Kind eine Freundin namens Monica Lee gehabt hatte; dass es dort eine überdachte Brücke gegeben hatte, einen Fluss namens Little Wyecliff und eine presbyterianische Kirche, die sie nicht mehr besucht hatte, seit sie sechzehn war, und in die sie erst zur Beerdigung ihrer Eltern zurückgekehrt war. Doch sie hatte nie von Berkeley gesprochen oder davon, was sie mit ihrem MBA anzustellen gehofft, oder warum sie meinen Vater geheiratet hatte.

Ein- oder zweimal hatte sie diese Kartons vom Regal geholt, um mir den Inhalt zu zeigen, mich davon zu überzeugen, dass sie — unfassbar — schon ein Leben geführt hatte, bevor ich auf der Welt war. Dies war der Beweis dafür, Beweisstücke A, B und C, drei Kartons mit ANDENKEN und KRIMSKRAMS. Darunter zusammengefaltete Zeugnisse echter, belegbarer Geschichte: toffeebraune Zeitungstitelseiten, die von Terroranschlägen, Kriegsausbrüchen, gewählten oder angeklagten Präsidenten kündeten. Hier fand sich auch der Tand, den ich als Kind gern in der Hand gehalten hatte: ein angelaufenes Fünfzig-Cent-Stück, geprägt im Geburtsjahr ihres Vaters (1951), vier braune und rosa Muscheln vom Strand in Cobscook Bay.

ANDENKEN (AUSBILDUNG) war für mich die unattraktivste Schachtel gewesen. Sie enthielt die Wahlkampfplakette eines offensichtlich erfolglosen demokratischen Kandidaten für irgendein hohes Amt, die ich ihrer Buntheit wegen geschätzt hatte, aber ansonsten gab es dort nur Mutters Abgangszeugnis, ein paar aus ihrem letzten Jahrbuch herausgerissene Seiten und ein Bündel von kleinen Umschlägen, für die ich mich nie interessiert hatte — oder hätte interessieren dürfen.

Jetzt öffnete ich einen dieser Umschläge und überflog den Inhalt so weit, dass ich registrieren konnte: a) es war ein Liebesbrief und b) die Handschrift glich in keiner Weise der ordentlichen Schrift meines Vaters in den ellenlangen Briefen aus ANDENKEN (MARCUS).

Hatte meine Mutter einen Collegeverehrer gehabt? Das war eine Neuigkeit, die Marcus Dupree hätte verstören können — sie hatte ihn eine Woche nach Studienabschluss geheiratet —, ansonsten aber keinen Menschen ernsthaft schockiert hätte. Mit Sicherheit war es kein Grund, die Schachtel im Keller zu verstecken, schon gar nicht, wenn sie vorher jahrelang gut sichtbar auf dem Regal gestanden hatte.

War es überhaupt meine Mutter gewesen, die sie versteckt hatte? Ich wusste nicht, wer alles in ihrem Haus gewesen war in der Zeit zwischen ihrem Schlaganfall und meinem Eintreffen einen Tag später. Carol hatte sie gefunden, vermutlich hatten einige Bedienstete aus dem Großen Haus hinterher beim Saubermachen geholfen, und es mussten Sanitäter da gewesen sein, die sie versorgt und transportfertig gemacht hatten. Keiner von ihnen hätte einen auch nur annähernd plausiblen Grund gehabt, ANDENKEN (AUSBILDUNG) in den Keller zu tragen und in die Lücke zwischen Heizkessel und Wand zu schieben.

Und vielleicht war es auch völlig egal. Es lag schließlich kein Verbrechen vor, sondern nur ein kurioses Verschwinden und Wiederauftauchen. Konnte auch ein Poltergeist gewesen sein. Vermutlich würde ich es nie erfahren, und es war sinnlos, sich weiter damit zu beschäftigen. Alles, was sich in diesem Zimmer, in diesem Haus befand, einschließlich der Kartons, würde früher oder später verwertet, verkauft oder weggeworfen werden müssen. Ich hatte es auf die lange Bank geschoben, Carol ebenso, doch es war überfällig.

Aber bis dahin…

Bis es so weit war, stellte ich ANDENKEN (AUSBILDUNG) erst einmal zurück aufs Regal, zwischen ANDENKEN (MARCUS) und KRIMSKRAMS. Und machte das leere Zimmer damit wieder vollständig.


Die heikelste Frage, die ich Wun Ngo Wen in Bezug auf Jasons Behandlung gestellt hatte, war die nach den möglichen Wechselwirkungen des Präparats mit anderen Medikamenten. Ich konnte Jasons konventionelle Medikation nicht absetzen, ohne einen Rückfall zu provozieren. Doch ebenso beunruhigend fand ich die Vorstellung, seine tägliche Medikamentendosis mit Wuns biochemikalischer Generalüberholung zu kombinieren.

Wun versprach, dass es keine Probleme geben werde. Der Langlebigkeitscocktail sei kein Medikament, keine »Droge« im herkömmlichen Sinne, was ich in Jasons Blutkreislauf injizieren würde, entspreche eher einem Computerprogramm. Konventionelle Medikamente interagierten mit Proteinen und Zelloberflächen — Wuns Mittelchen interagierte mit der DNA selbst.

Dennoch: Es musste in eine Zelle eintreten, um sein Werk zu tun, und auf dem Weg dorthin musste es sich mit Jasons Blutchemie und Immunsystem auseinander setzen — oder? Wun hatte erklärt, dass das alles keine Rolle spiele. Der Langlebigkeitscocktail sei so flexibel, dass er unter allen physiologischen Bedingungen — es sei denn, der Proband ist tot — arbeiten könne.

Doch das für AMS zuständige Gen war nie zum Roten Planeten gelangt und die Medikamente, die Jason einnahm, waren dort unbekannt. Und auch wenn Wun versicherte, dass meine Bedenken unbegründet waren, konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass er dabei kaum einmal lächelte. Also versuchten wir, auf Nummer sicher zu gehen: Eine Woche vor der ersten Injektion hatte ich begonnen, Jasons AMS-Medikation zurückzufahren. Nicht abzusetzen, nur zu reduzieren.

Die Strategie schien aufgegangen zu sein. Als wir im Großen Haus eintrafen, zeigte Jason trotz der geringeren Medikamentation nur leichte Symptome, sodass wir die Behandlung optimistisch angingen.

Drei Tage später hatte er Fieberschübe, gegen die ich wenig ausrichten konnte. Am nächsten Tag war er die meiste Zeit bewusstlos. Noch einen Tag später färbte sich seine Haut rot und entwickelte Blasen. Am Abend begann er zu schreien.

Trotz des Morphiums, das ich ihm gab, schrie er immer weiter. Kein Schreien aus vollem Hals, eher ein Stöhnen, das sich periodisch zu großer Lautstärke steigerte, ein Laut, den man eher von einem kranken Hund erwarten würde als von einem Menschen. Es geschah völlig willkürlich. In Phasen der Klarheit machte er dieses Geräusch nicht und konnte sich auch nicht erinnern, es gemacht zu haben, obwohl sein Kehlkopf von der Anstrengung schmerzhaft entzündet war.

Carol vermittelte tapfer den Anschein, damit klarzukommen. In manchen Teilen des Hauses waren Jasons Klagerufe fast nicht zu hören — die hinteren Schlafzimmer, die Küche —, und dort hielt sie sich die meiste Zeit auf, las oder lauschte dem lokalen Radiosender. Doch die Belastung war offenkundig, und es dauerte nicht lange, da begann sie wieder zu trinken.

Ich sollte vielleicht nicht »begann sie« sagen. Tatsächlich hatte sie nie damit aufgehört. Aber sie hatte es immerhin auf ein Minimum beschränkt, das es ihr erlaubte zu funktionieren — in heikler Balance zwischen den Schrecken des plötzlichen Entzugs und den Lockungen eines veritablen Rausches. Dass sie überhaupt so lange durchgehalten hatte, lag in der Liebe zu ihrem Sohn begründet, wie sehr diese Liebe in den Jahren zuvor auch geschlummert haben mochte. Es waren seine Schmerzensschreie, die sie aus der Bahn warfen.

In der zweiten Woche hing Jason an einem Tropf, und ich behielt seinen steigenden Blutdruck im Auge. Er hatte einen relativ guten Tag gehabt, trotz seines erschreckenden Aussehens: schorfig überall, wo nicht das rohe Fleisch hervortrat, die Augen versunken im geschwollenen Gesicht. Er war noch geistesgegenwärtig genug gewesen zu fragen, ob Wun schon seinen ersten Fernsehauftritt gehabt hätte — noch nicht, er war für die folgende Woche vorgesehen —, aber als der Abend anbrach, war er in Bewusstlosigkeit zurückgefallen, und das Stöhnen, das ein paar Tage ausgesetzt hatte, fing wieder an, lauter als je zuvor und schmerzhaft für jeden, der es hörte.

Schmerzhaft vor allem für Carol, die in der Tür des Wohnzimmers erschien, mit Tränenspuren auf den Wangen und heller, glasiger Wut in den Augen. »Tyler«, sagte sie, »du musst dem ein Ende machen!«

»Ich tue, was ich kann. Aber er spricht nicht auf Opiate an. Vielleicht sollten wir lieber morgen darüber sprechen.«

»Kannst du ihn nicht hören?«

»Natürlich kann ich ihn hören.«

»Und — bedeutet das nichts? Bedeutet dieses Geräusch dir gar nichts? Mein Gott! Es würde ihm besser gehen, wenn er nach Mexiko zu irgendeinem Quacksalber gegangen wäre. Hast du überhaupt irgendeine Vorstellung, was du ihm da injiziert hast, du verdammter Kurpfuscher?«

Das Schlimme war, dass sie nur Fragen wiederholte, die ich mir selbst längst stellte. Nein, ich wusste nicht, was ich ihm da injiziert hatte, nicht in einem auch nur halbwegs wissenschaftlichen Sinne. Ich hatte den Versprechungen des Mannes vom Mars geglaubt, aber mit dieser Rechtfertigung durfte ich bei Carol schwerlich auf Verständnis hoffen. Die Prozedur war schwieriger, schmerzhafter, als ich mir zu erwarten gestattet hatte. Vielleicht funktionierte sie falsch. Vielleicht funktionierte sie überhaupt nicht.

Jason gab einen klagenden Heulton von sich, der in einem Seufzen ausklang. Carol hielt sich die Ohren zu. »Er leidet, du verdammter Quacksalber! Sieh ihn dir an!«

»Carol…«

»Nichts mit Carol, du Schlächter! Ich ruf einen Rettungswagen. Ich ruf die Polizei.«

Ich ging zu ihr und fasste sie an den Schultern. Sie fühlte sich zerbrechlich und doch gefährlich lebendig an, ein in die Ecke getriebenes Tier. »Hören Sie, Carol.«

»Warum? Warum sollte ich dir zuhören?«

»Weil Ihr Sohn sein Leben in meine Hand gegeben hat. Hören Sie zu. Ich brauche jemanden, der mir hilft. Ich muss seit Tagen ohne Schlaf auskommen. Das geht nicht mehr lange, ich brauche jemanden, der eine Weile bei ihm sitzt, jemand, der etwas von Medizin versteht und kompetente Entscheidungen treffen kann.«

»Du hättest eine Krankenschwester mitbringen sollen.«

Hätte ich, aber das war nicht möglich gewesen, und darum ging es jetzt auch nicht. »Ich habe keine Krankenschwester. Sie müssen das für mich tun.«

Sie brauchte eine Weile, bevor sie begriff, was ich gesagt hatte. Dann schnappte sie nach Luft und wich einen Schritt zurück. »Ich?«

»Sie sind immer noch approbiert, soweit ich weiß.«

»Ich habe nicht mehr praktiziert seit — sind es Jahrzehnte? Jahrzehnte…«

»Sie sollen ja keine Operation am offenen Herzen durchführen. Ich möchte nur, dass sie seinen Blutdruck und seine Temperatur im Auge behalten. Könnten Sie das tun?«

Ihre Wut wich. Sie fühlte sich geschmeichelt. Sie hatte Angst. Sie dachte darüber nach. Dann richtete sie einen stählernen Blick auf mich. »Warum sollte ich dir helfen? Warum sollte ich mich zum Komplizen bei dieser, dieser Folter machen?«

Ich war noch dabei, eine Antwort zu formulieren, als eine Stimme hinter mir sagte: »Oh, bitte.«

Jasons Stimme. Ein Merkmal dieser marsianischen Kur war die geistige Klarheit, die kam und ging, wie sie es grad wollte. Ich drehte mich um.

Jason verzog das Gesicht und versuchte, sich aufzusetzen. Ohne Erfolg. Aber seine Augen waren klar. »Also wirklich«, sagte er zu seiner Mutter. »Mach bitte, was Tyler sagt. Er weiß schon, was er tut, und ich weiß es auch.«

Carol starrte ihn an. »Aber ich nicht. Ich habe nicht, ich meine, ich kann nicht…« Dann wandte sie sich ab und ging leicht schwankend, eine Hand gegen die Wand gestützt, aus dem Zimmer.

Ich blieb bei Jason sitzen. Am Morgen kehrte Carol zurück — sie wirkte im doppelten Sinne ernüchtert — und bot an, mich abzulösen. Jason war in einem friedlichen Zustand und brauchte eigentlich keine Pflege, dennoch übertrug ich ihr die Aufsicht und entfernte mich, um ein wenig Schlaf nachzuholen.

Ich schlief zwölf Stunden lang. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, saß Carol immer noch da, hielt ihrem bewusstlosen Sohn die Hand und strich ihm mit einer Zärtlichkeit über die Stirn, die ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte.


Die Erholungsphase begann anderthalb Wochen nach Beginn der Behandlung. Es gab keinen jähen Übergang, keinen magischen Moment. Aber die Phasen der Klarheit wurden länger, und der Blutdruck stabilisierte sich.

Am Abend, als Wun vor den Vereinten Nationen sprechen sollte, stöberte ich einen tragbaren Fernseher auf und stellte ihn neben Jason auf. Carol gesellte sich kurz vor Beginn der Übertragung zu uns.

Wun Ngo Wens Anwesenheit auf der Erde war am letzten Mittwoch offiziell verkündet worden. Sein Porträt beherrschte seit Tagen die Titelseiten, dazu gab es Livebilder, wie er, unter dem schützenden Arm des Präsidenten, über den Rasen des Weißen Hauses schritt. Das Weiße Haus hatte betont, dass Wun gekommen sei, um zu helfen, dass er aber keine Lösung für das Problem des Spins und nicht viel neues Wissen über die Hypothetischen anzubieten habe. Die Reaktion der Öffentlichkeit war entsprechend zurückhaltend gewesen.

Und nun bestieg er das Podium im Sitzungssaal des Sicherheitsrates und trat ans Rednerpult, das man an seine Größe angepasst hatte. »Aber das ist ja nur ein Winzling«, sagte Carol.

»Ein wenig Respekt, bitte«, murmelte Jason. »Er repräsentiert eine Kultur, die älter ist als alle, die es bei uns je gegeben hat.«

»Sieht eher so aus, als würde er den Verband der Schülerlotsen repräsentieren.«

In den Nahaufnahmen wurde seine Würde halbwegs wiederhergestellt. Die Kamera fixierte seine Augen und sein schwer zu fassendes Lächeln. Und als er ins Mikrophon zu sprechen begann, war seine Stimme ganz weich, ja klang fast terrestrisch.

Wun wusste — oder es war ihm von seinen Beratern deutlich gemacht worden —, wie unwahrscheinlich dieser Vorgang auf den durchschnittlichen Erdling wirken musste. (»Wahrhaftig«, hatte der Generalsekretär in seiner Einführung gesagt, »wir leben in einem Zeitalter der Wunder.«) Und so dankte er uns allen in bestem mittelatlantischem Akzent für unsere Gastfreundschaft und sprach dann wehmütig über seine Heimat und warum er sie verlassen hatte, um hierher zu kommen. Er schilderte den Mars als eine fremde, aber ganz und gar menschliche Welt, einen Ort, den man gern einmal besuchen würde, wo die Leute freundlich seien und die Landschaft interessant, wenn auch die Winter, wie er eingestand, sich häufig von einer recht strengen Seite zeigten. (»Klingt wie Kanada«, sagte Carol.)

Dann kam er zum eigentlichen Thema. Alle wollten natürlich etwas über die Hypothetischen wissen. Leider aber wisse Wuns Volk wenig mehr über sie, als hier auf der Erde bekannt sei — die Hypothetischen hatten den Mars eingehüllt, als er gerade auf dem Weg zur Erde war, und die Marsianer standen dem genauso hilflos gegenüber wie wir.

Er könne keine Vermutung über die Motive der Hypothetischen äußern, diese Frage werde seit Jahrhunderten diskutiert, aber auch die größten marsianischen Denker und Gelehrten hätten sie nicht lösen können. Es sei interessant, sagte Wun, dass sowohl die Erde als auch der Mars zu einem Zeitpunkt eingeschlossen worden seien, als sie sich auf der Schwelle zu einer globalen Katastrophe befanden. »Unsere Bevölkerungszahlen nähern sich, genau wie bei Ihnen, der Grenze der Tragbarkeit. Industrie und Landwirtschaft auf der Erde sind in hohem Maße vom Öl abhängig, dessen Vorräte jedoch rapide zur Neige gehen. Auf dem Mars haben wir überhaupt kein Öl, aber wir leben von einem anderen knappen Rohstoff, dem natürlichen Stickstoff. Er treibt unseren landwirtschaftlichen Kreislauf an und setzt der Zahl der Menschen, die unser Planet ernähren kann, eine absolute Grenze. Wir sind mit diesem Problem ein bisschen besser zurechtgekommen als die Erde, doch das liegt allein darin begründet, dass wir seit Beginn unserer Zivilisation gezwungen waren, ihm ins Auge zu blicken. Beide Planeten sind mit der Möglichkeit eines ökonomischen Zusammenbruchs und damit eines verheerenden Massensterbens konfrontiert, beide Planeten wurden eingehüllt, bevor dieser Punkt erreicht war. Vielleicht haben die Hypothetischen diese Wahrheit über uns begriffen, vielleicht hat das ihre Handlungsweise beeinflusst. Aber wir haben darüber keinerlei Gewissheit. Auch wissen wir nicht, was sie von uns erwarten, falls sie denn etwas erwarten, oder wann beziehungsweise ob der Spin überhaupt jemals beendet werden wird. Wir können das alles nicht wissen, wenn wir nicht mehr direkte Informationen über die Hypothetischen sammeln.« Die Kamera zoomte Wun noch näher heran. »Und es gibt eine Möglichkeit, diese Informationen zu erlangen. Ich bin hierher gekommen mit einem Vorschlag, den ich mit Präsident Garland ebenso wie mit dem neugewählten Präsidenten Lomax sowie anderen Staatsoberhäuptern diskutiert habe.« In groben Zügen skizzierte er den Replikatorenplan und sagte dann: »Mit etwas Glück werden wir so erfahren, ob die Hypothetischen sich noch anderer Welten angenommen haben, wie diese Welten darauf reagiert haben und welches Schicksal der Erde letzten Endes beschieden sein mag.«

Als er begann, über die Oortsche Wolke und »autokatalytische Rückkopplungstechnologie« zu sprechen, sah ich, wie Carols Augen glasig wurden. »Das ist doch alles nicht möglich«, sagte sie dann, nachdem Wun unter Applaus das Podium verlassen hatte und nun im Studio alle möglichen Experten seine Rede wiederkäuten. »Ist irgendetwas wahr an dem, was der Mann gesagt hat, Jason?«

»So ziemlich alles ist wahr«, erwiderte Jason ruhig. »Für das Wetter auf dem Mars kann ich mich allerdings nicht verbürgen.«

»Stehen wir wirklich am Rand einer Katastrophe?«

»Wir stehen am Rand einer Katastrophe, seit die Sterne ausgegangen sind.«

»Ich meine, wegen dem Öl und allem. Wenn der Spin nicht gekommen wäre, würden wir alle verhungern?«

»Es gibt Menschen, die tatsächlich verhungern. Sie müssen verhungern, weil wir nicht in der Lage sind, sieben Milliarden Menschen auf dem nordamerikanischen Wohlstandsniveau zu halten, ohne den ganzen Planeten auszuplündern und zu ruinieren. Gegen die Zahlen kann man schwer anargumentieren. Ja, es ist wahr. Falls der Spin uns nicht tötet, werden wir es früher oder später mit einem globalen Massensterben zu tun bekommen.«

»Und das hat etwas mit dem Spin selbst zu tun?«

»Vielleicht, aber das wissen weder ich noch der Marsianer mit letzter Sicherheit.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Nein.«

»Doch. Aber ist schon okay. Ich weiß, wie unwissend ich bin. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt in eine Zeitung geguckt habe, es bestand immer das Risiko, darin auf das Gesicht deines Vaters zu stoßen. Und das Einzige, was ich mir in der Glotze ansehe, sind die Soaps am Nachmittag. Da gibt es keine Marsmenschen. Ich bin wohl so eine Art Rip van Winkle. Ich habe zu lange geschlafen. Und die Welt, die ich beim Aufwachen vorfinde, gefällt mir nicht besonders. Das, was an ihr nicht erschreckend ist, ist…« Sie deutete auf den Fernseher. »Ist grotesk.«

»Wir alle sind Rip van Winkle«, sagte Jason. »Wir alle warten darauf, aufzuwachen.«


Carols Gemütsverfassung verbesserte sich gemeinsam mit Jasons Gesundheitszustand, und sie interessierte sich zunehmend für seine Prognose. Ich gab ihr einige grundlegende Informationen über die AMS, eine Krankheit, die noch nicht formell diagnostiziert worden war, als Carol ihren medizinischen Abschluss gemacht hatte, und umging auf diese Weise Fragen zur Behandlung selbst, ein stillschweigendes Abkommen zwischen uns, das sie als solches zu begreifen und zu akzeptieren schien. Entscheidend war, dass Jasons schwer gezeichnete Haut abheilte und die Blutproben, die ich an ein Labor in Washington schickte, eine drastische Abnahme der neuralen Plaqueproteine auswiesen.

Sie zeigte jedoch weiterhin wenig Neigung, über den Spin zu sprechen, und wirkte unglücklich, wenn Jason und ich es in ihrer Gegenwart taten. Wieder einmal musste ich an das Housman-Gedicht denken, das Diane mir vor vielen Jahren beigebracht hatte: Das Kind hat nicht mal wahrgenommen / Wie’s in den Bauch des Bär’n gekommen.

Carol war in ihrem Leben von diversen Bären bedrängt worden, darunter einige so groß wie der Spin, andere so klein wie ein Ethanolmolekül. Ich glaube, sie hätte das Kind beneidet.


Eines Abends, wenige Tage nach Wuns UN-Auftritt, rief Diane an — auf meinem Handy, nicht auf Carols Festnetztelefon. Ich hatte mich gerade auf mein Zimmer zurückgezogen, Carol die Nachtwache übernommen. Der Regen war den ganzen November über gekommen und gegangen, jetzt war er wieder da, das Zimmerfenster ein flüssiger Spiegel aus gelbem Licht.

»Du bist im Großen Haus«, sagte Diane.

»Hast du mit Carol gesprochen?«

»Ich rufe sie einmal im Monat an, ich bin eine pflichtbewusste Tochter. Manchmal ist sie nüchtern genug, dass wir uns unterhalten können. Was ist mit Jason?«

»Das ist eine lange Geschichte. Er erholt sich. Kein Grund zur Sorge.«

»Ich mag es nicht, wenn Leute so was sagen.«

»Ich weiß. Aber es ist wahr. Es gab ein Problem, wir haben es behoben.«

»Und das ist alles, was du mir sagen kannst.«

»Fürs Erste ja. Wie sieht’s bei dir und Simon aus?«

»Nicht so gut. Wir ziehen um.«

»Wohin?«

»Aus Phoenix weg jedenfalls. Raus aus der Stadt. Jordan Tabernacle ist vorübergehend geschlossen worden — ich dachte, du hättest vielleicht davon gehört.«

»Nein«, sagte ich — warum sollte ich etwas über die Finanzprobleme einer kleinen apokalyptischen Kirche im Südwesten gehört haben? —, und dann redeten wir über andere Dinge, und Diane versprach mir, mich zu informieren, sobald sie und Simon eine neue Adresse hätten. Klar, sicher doch, warum auch nicht?

Aber am Abend danach hörte ich doch etwas über Jordan Tabernacle.

Untypischerweise bestand Carol darauf, die Spätnachrichten im Fernsehen anzuschauen. Jason war zwar müde, aber geistig voll da und hatte nichts dagegen, also führten wir uns vierzig Minuten lang internationales Säbelrasseln und Prominentenprozesse zu Gemüte. Einiges war ganz interessant: Es gab Neues von Wun Ngo Wen, der sich in Belgien mit EU-Offiziellen traf, und gute Nachrichten aus Usbekistan, wo der vorgeschobene Marinestützpunkt endlich befreit worden war. Dann kam ein Sonderbeitrag über KVES und die israelische Milchindustrie. Wir sahen dramatische Bilder von gekeulten Rindern, die von Bulldozern in Massengräber geschaufelt und mit Kalk bestreut wurden. In dutzenden Ländern, von Brasilien bis Äthiopien, war die Rinder- respektive Huftier-KVES ausgebrochen und wurde mit allen Mitteln bekämpft. Die auf den Menschen übergesprungene Krankheit war mit modernen Antibiotika behandelbar, stellte jedoch für finanzschwache Drittweltländer ein ziemliches Problem dar.

Da aber die israelischen Milchbauern verpflichtet waren, regelmäßige Blutuntersuchungen durchzuführen und diese zu dokumentieren, kam der Ausbruch der Krankheit dort völlig unerwartet. Schlimmer noch, bei der Ermittlung des Indexfalles — der ersten nachgewiesenen Infektion — stieß man auf eine nicht autorisierte Lieferung von befruchteten Eizellen aus den Vereinigten Staaten. Diese Lieferung wurde bis zu »Wort für die Welt« zurückverfolgt, einer Trübsals-Wohltätigkeitsorganisation mit Sitz in einem Gewerbegebiet am Rande von Cincinnati, Ohio. Warum schmuggelte WfdW Rindereizellen nach Israel? Wie sich herausstellte, aus nicht besonders wohltätigen Gründen. Ermittler spürten den Geldern für WfdW nach und gelangten dabei über ein Dutzend Scheinholdings zu einem Konsortium aus Trübsals- und Dispensationalistenkirchen sowie kleineren und größeren politischen Randgruppen. Allen diesen Vereinigungen gemeinsam war ein Glaubensgrundsatz, der sich aus dem 4. Buch Mose herleitete, mit weiteren Andeutungen bei Matthäus und im Timotheusbrief: dass die Geburt einer reinen roten Färse in Israel die Wiederkunft Jesu Christi und den Beginn seiner Herrschaft auf Erden einläuten würde.

Eine uralte Vorstellung. Einige jüdische Extremisten glaubten, die Opferung eines roten Kalbes auf dem Tempelberg würde das Erscheinen des Messias begleiten. Es hatte in den vergangenen Jahren sogar diverse »Rotes Kalb-Angriffe« auf den Felsendom gegeben, und bei einem davon war die Al-Aqsa-Moschee beschädigt worden, was um ein Haar zu einem regionalen Krieg geführt hätte. Die israelische Regierung hatte ihr Möglichstes getan, um die Bewegung zu zerschlagen, es war ihr jedoch lediglich gelungen, sie in den Untergrund zu treiben.

Dem Bericht zufolge gab es diverse von WfdW gesponserte Milchfarmen im Mittelwesten und Südwesten der USA, die in aller Stille an der Herbeiführung der Apokalypse arbeiteten. Sie hatten versucht, ein reines blutrotes Kalb zu züchten, den zahlreichen enttäuschenden Färsen überlegen, die in den letzten vierzig Jahren als mögliche Kandidaten präsentiert worden waren. Diese Farmen hatten alle Fütterungsverordnungen und behördlichen Inspektionen systematisch umgangen und sogar einen aus Nogales über die Grenze eingeschleppten Ausbruch von Rinder-KVES verheimlicht. Die infizierten Eizellen produzierten Zuchttiere mit reichlich Genen für rote Fellfärbung, doch als die Kälber dann geboren wurden — auf einer mit WfdW verbundenen Milchfarm im Negev —, starben die meisten von ihnen frühzeitig an Lungenversagen. Die Kadaver wurden stillschweigend vergraben, aber es war schon zu spät: Der Erreger war auf die erwachsenen Tiere und auf einige Farmarbeiter übergesprungen.

Eine peinliche Situation für die amerikanischen Regierung. Der Landwirtschaftsminister hatte bereits einschneidende Maßnahmen angekündigt, das Heimatschutzministerium fror WfdW-Bankkonten ein und startete Hausdurchsuchungen bei apokalyptischen Spendensammlern. In den Nachrichten sah man, wie Bundesagenten kistenweise Dokumente aus Gebäuden trugen und die Türen obskurer Kirchen mit Vorhängeschlössern verriegelten.

Der Nachrichtensprecher verlas die Namen einiger betroffener Einrichtungen.

Eine davon war Jordan Tabernacle.

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