Spin

Nach einigen Kilometern, in sicherer Entfernung zur Condon-Ranch, fuhr ich an den Straßenrand und sagte zu Simon, er solle aussteigen.

»Was? Hier?«

»Ich muss Diane untersuchen. Und dafür brauche ich die Taschenlampe aus dem Kofferraum. Okay?«

Er nickte mit weit aufgerissenen Augen.

Diane hatte kein Wort gesagt, seit wir die Ranch verlassen hatten. Sie hatte einfach nur auf dem Rücksitz gelegen, den Kopf in Simons Schoß, und versucht, Luft zu bekommen. Ihr Atem war das lauteste Geräusch, das im Auto zu hören war.

Während Simon mit der Taschenlampe in der Hand wartete, entledigte ich mich meiner blutgetränkten Sachen und wusch mich so gründlich, wie ich konnte — eine Flasche Mineralwasser mit ein bisschen Benzin vermischt, um den gröbsten Dreck abzuschrubben, eine weitere Flasche zum Nachspülen. Dann zog ich eine frische Jeans und ein Sweatshirt aus meinem Gepäck an und streifte ein paar Latexhandschuhe aus dem Arztkoffer über. Eine dritte Flasche Wasser trank ich in einem Zug leer, und dann ließ ich Simon das Licht auf Diane richten, während ich sie mir ansah.

Sie war mehr oder weniger bei Bewusstsein, aber zu erschöpft, um einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. Sie war dünner, als ich sie je gesehen hatte, fast wie eine Magersüchtige, und sie hatte gefährlich hohes Fieber. Blutdruck und Puls waren ebenfalls erhöht. Als ich ihr die Lunge abhörte, klang es, als würde ein Kind seinen Milkshake durch einen dünnen Strohhalm saugen. Es gelang mir, ihr ein bisschen Wasser und dazu ein Aspirin einzuflößen. Dann riss ich die Versiegelung einer sterilen Subkutannadel auf.

»Was ist das?«, fragte Simon.

»Ein Universalantibiotikum.« Ich tupfte Dianas Arm ab und spürte mit etwas Mühe eine Vene auf. »Du wirst auch eins brauchen.« Genau wie ich — das Blut der Färse war zweifellos mit aktiven KVES-Bakterien verseucht gewesen.

»Wird sie das von der Krankheit heilen?«

»Nein, ich fürchte nicht. Vor einem Monat vielleicht. Jetzt nicht mehr. Sie braucht ärztliche Behandlung.«

»Du bist doch Arzt.«

»Ich bin Arzt, aber ich bin kein Krankenhaus.«

»Dann können wir sie vielleicht nach Phoenix bringen.«

Ich dachte darüber nach. Alle während des Flackerns gemachten Erfahrungen sprachen dafür, dass städtische Krankenhäuser im besten Fall überlaufen waren, im schlechtesten in Schutt und Asche lagen. Ich zückte mein Handy und suchte im Adressverzeichnis nach einer halb vergessenen Nummer.

»Wen rufst du an?«

»Jemand, den ich von früher kenne.«

Er hieß Colin Hinz. Wir waren Zimmergenossen in Stony Brook gewesen und hatten den Kontakt nie ganz abreißen lassen. Als ich zuletzt von ihm gehört hatte, war er in der Leitung des St.-Joseph-Hospitals in Phoenix beschäftigt gewesen. Es war einen Versuch wert — jetzt sofort, bevor die Sonne wieder aufging und jede Telekommunikation für einen weiteren Tag lahm legte.

Das Telefon klingelte lange, doch schließlich nahm er ab. »Wollen schwer hoffen, dass es was Wichtiges ist«, murmelte er.

Ich entschuldigte mich und erklärte ihm, ich sei etwa eine Stunde von der Stadt entfernt und hätte eine Kranke bei mir, die dringender Behandlung bedürfe — jemand, der mir sehr nahe stehe.

Colin seufzte. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Tyler. St. Joe ist in Betrieb und, wie ich gehört habe, ist auch die Mayo Clinic in Scottsdale offen, aber beide haben ganz wenig Personal. Es gibt widersprüchliche Berichte von anderen Krankenhäusern. Eine schnelle Behandlung kriegst du jedenfalls nirgendwo, und hier schon mal gar nicht. Bei uns stapeln sich die Leute: Schusswunden, Suizidversuche, Autounfälle, Herzinfarkte, die ganze Palette. Und Cops an der Tür, die verhindern, dass sie die Notaufnahme stürmen. Wie ist der Zustand deiner Patientin?«

Ich erwiderte, Diane habe KVES im fortgeschrittenen Stadium und müsse vermutlich bald beatmet werden.

»Wo zum Teufel hat sie sich KVES geholt? Nein, ist schon gut — ganz egal. Ehrlich, ich würde gern helfen, wenn ich könnte, aber unsere Krankenschwestern haben schon die ganze Nacht Parkplatztriage gemacht und ich kann nicht versprechen, dass sie deinem Fall Priorität erteilen würden, auch nicht bei einer Empfehlung von mir. Es ist sogar ziemlich sicher, dass sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden keinen Arzt zu sehen kriegt. Falls wir alle überhaupt noch so lange leben.«

»Ich bin Arzt, erinnerst du dich? Alles was ich brauche, ist ein bisschen Ausrüstung. Ringerlösung, Beatmungsgerät, Sauerstoff…«

»Ohne hartherzig klingen zu wollen, aber wir waten hier praktisch im Blut. Und du solltest dich, angesichts dessen, was gerade passiert, vielleicht fragen, ob es sich wirklich lohnt, einen KVES-Fall im Endstadium zu versorgen. Wenn du alles hast, was du brauchst, um es ihr bequem zu machen…«

»Ich will es ihr nicht bequem machen, ich will ihr Leben retten.«

»Okay. Aber was du eben beschrieben hast, das war eine hoffnungslose Situation, es sei denn, ich hätte etwas falsch verstanden.« Im Hintergrund hörte ich Stimmen, die nach seiner Aufmerksamkeit verlangten, ein Rumoren menschlichen Elends.

»Hör zu, Colin, die Sachen zur Versorgung brauche ich dringender als ein Bett.«

»Wir können nichts von unseren Sachen entbehren. Sag mir, ob ich sonst etwas für dich tun kann. Ansonsten tut es mir Leid — ich habe zu tun.«

Ich überlegte fieberhaft. »Okay. Sag mir, wo ich Ringerlösung herkriegen kann, Colin, mehr verlang ich nicht.«

»Na ja.«

»Was na ja?«

»Ich dürfte dir das gar nicht sagen, aber was soll’s. St. Joe’s hat ein Abkommen mit der Stadt im Rahmen des zivilen Notstandplans. Im Norden der Stadt gibt es einen Lieferanten für medizinischen Bedarf namens Novaprod.« Er gab mir die Adresse und eine grobe Wegbeschreibung. »Eine Einheit der Nationalgarde ist dort zum Schutz postiert. Das ist unsere primäre Quelle für Medikamente und Ausrüstung.«

»Lassen die mich rein?«

»Ja. Wenn ich anrufe und ihnen sage, dass du kommst, und wenn du dich ausweisen kannst.«

»Tu das für mich, Colin. Bitte.«

»Mach ich. Wenn ich eine Leitung nach draußen kriege. Die Telefone sind unzuverlässig.«

»Danke. Wenn ich mich irgendwie revanchieren kann…«

»Kannst du vielleicht. Du hast doch in der Raumfahrtindustrie gearbeitet, richtig? Perihelion?«

»In letzter Zeit nicht mehr, aber stimmt.«

»Kannst du mir sagen, wie lange das alles noch dauern wird?« Er brachte die Frage fast flüsternd vor, und plötzlich konnte ich die Müdigkeit in seiner Stimme hören. Und die uneingestandene Furcht. »Ich meine, so oder so?«

Ich erwiderte, dass ich es schlicht und einfach nicht sagen konnte — und auch bezweifelte, dass irgendjemand bei Perihelion mehr wisse als ich.

Er seufzte. »Okay. Es ist nur so bitter, weißt du, die Vorstellung, wir würden das hier alles durchmachen und dann in ein paar Tagen verbrennen, ohne erfahren zu haben, was das Ganze eigentlich soll.«

»Ich wünschte, ich könnte dir eine Antwort geben.«

Im Hintergrund rief jetzt jemand seinen Namen. »Ich wünsche mir auch vieles. Muss Schluss machen, Tyler.«

Ich dankte ihm noch einmal und legte auf.

Die Morgendämmerung war noch einige Stunden entfernt.

Simon hatte etwas abseits vom Auto gestanden, in den Sternenhimmel gestarrt und so getan, als würde er nicht zuhören. Ich winkte ihn heran. »Wir müssen weiter, Simon.«

»Hast du Hilfe für Diane finden können?«

»Sozusagen.«

Er nahm die Antwort hin, ohne nachzufragen. Doch bevor er ins Auto stieg, zupfte er mich am Ärmel und sagte: »Da… Was glaubst du, was das ist, Tyler?« Er deutete auf den westlichen Horizont, wo sich eine sanft gebogene silberne Linie durch etwa fünf Grad des Nachthimmels schwang. Es sah aus, als habe jemand ein riesiges flaches C aus der Dunkelheit gekratzt.

»Vielleicht ein Kondensationsstreifen. Ein Militärflugzeug.«

»Nachts?«

»Ich weiß nicht, was es ist, Simon. Komm, steig ein — wir haben keine Zeit zu verlieren.«


Wir kamen schneller voran, als ich gedacht hatte, und erreichten das in einem öden Industriegelände gelegene Lagerhaus für medizinischen Bedarf rechtzeitig vor Sonnenaufgang. Ich zeigte dem nervösen Nationalgardisten, der am Eingang postiert war, meinen Ausweis, worauf er mich an einen anderen Nationalgardisten und einen zivilen Angestellten weiterreichte, die mich durch die Regalgänge führten. Ich fand, was ich brauchte, und ein dritter Nationalgardist half mir, es zum Auto zu tragen. Allerdings zog er sich rasch zurück, als er Diane auf dem Rücksitz nach Atem ringen sah. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte er mit etwas zittriger Stimme.

Ich nahm mir die Zeit, ihr einen Tropf zu basteln, wobei ich den Beutel an den Jackenhaken des Autos hängte. Ich zeigte Simon, wie man den Zufluss steuerte und dafür sorgte, dass sie den Schlauch im Schlaf nicht einklemmte oder abriss. Sie wachte nicht einmal auf, als ich ihr die Nadel in den Arm stach.

Als wir wieder unterwegs waren, fragte Simon: »Wird sie sterben?«

Ich packte das Steuer ein wenig fester. »Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Wo bringen wir sie hin?«

»Nach Hause.«

»Etwa ins Haus von Carol und E. D.? Den ganzen Weg?«

»Genau.«

»Warum dorthin?«

»Weil ich ihr da helfen kann.«

»Das ist eine lange Fahrt. Ich meine, so wie die Dinge stehen.«

»Ja, das kann eine lange Fahrt werden.«

Ich drehte mich kurz um, sah, wie er ihr sanft den Kopf streichelte. Dianes Haare hingen schlaff herunter, vom Schweiß verfilzt, und Simons Hände waren blass an den Stellen, wo er das Blut abgewaschen hatte.

»Ich verdiene es nicht, mit ihr zusammen zu sein«, sagte er. »Ich weiß, dass das alles meine Schuld ist. Ich hätte die Ranch verlassen können. Ich hätte Hilfe holen können.«

Ja, dachte ich. Das hättest du.

»Aber ich glaubte an das, was wir taten. Du wirst das wahrscheinlich nicht verstehen. Es war nicht nur das rote Kalb, Tyler. Ich war überzeugt davon, dass wir am Ende belohnt würden.«

»Wofür belohnt?«

»Glauben. Beharrlichkeit. Vom ersten Moment an, als ich Diane kennen lernte, hatte ich das Gefühl, dass wir Teil von etwas Spektakulärem sein würden, auch wenn ich es noch nicht ganz begreifen konnte. Dass wir eines Tages gemeinsam vor dem Thron Gottes stehen würden — nicht weniger. ›Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe.‹ Unser Geschlecht, unsere Generation, auch wenn wir anfangs einen falschen Weg einschlugen. Zugegeben, bei diesen New-Kingdom-Veranstaltungen sind Dinge passiert, die mir heute schändlich erscheinen. Trunkenheit, Lüsternheit, Lügen. Wir haben uns davon abgewandt, was einerseits gut war, andererseits aber hatten wir das Gefühl, die Welt sei ein bisschen kleiner geworden, seitdem wir nicht mehr unter Leuten waren, die versuchten, das tausendjährige Reich Christi vorzubereiten. Es war, als hätten wir eine Familie verloren. Und ich dachte, na ja, wenn du nach dem reinsten und einfachsten Weg suchst, dann sollte dich der in die richtige Richtung führen. ›Wenn ihr beharret, werdet ihr euer Leben gewinnen.‹«

»Jordan Tabernacle.«

»Es ist nicht schwer, die Prophezeiung am Spin zu messen. Zeichen in der Sonne, im Mond und in den Sternen, heißt es bei Lukas. Erschüttert sind die Mächte des Himmels. Aber es ist nicht… es ist nicht…« Er schien den Faden zu verlieren.

»Wie sieht’s da hinten mit ihrer Atmung aus?« Ich brauchte eigentlich nicht zu fragen, ich konnte jeden Atemzug hören, den sie machte — sie atmete schwer, aber regelmäßig. Ich wollte Simon nur ablenken.

»Sie kriegt Luft… Bitte, Tyler, halt an und lass mich raus.«

Wir fuhren Richtung Osten. Es herrschte überraschend wenig Verkehr. Colin Hinz hatte mich vor möglichen Verstopfungen rund um den Flughafen gewarnt, doch die hatten wir umfahren. Hier draußen begegneten uns nur wenige Pkws, wenn auch eine ganze Reihe aufgegebener Fahrzeuge auf dem Seitenstreifen standen. »Das ist keine gute Idee.« Im Rückspiegel sah ich, wie sich Simon Tränen aus den Augen rieb. Er wirkte so verletzlich und verwirrt wie ein Zehnjähriger bei einer Beerdigung.

»Weißt du, ich hatte in meinem ganzen Leben nur zwei Wegzeichen. Gott und Diane. Und ich habe sie beide verraten. Ich habe zu lange gewartet. Es ist nett von dir, es zu leugnen, aber sie liegt im Sterben.«

»Nicht unbedingt.«

»Ich will nicht bei ihr sein mit dem Wissen, dass ich es hätte verhindern können. Ich würde lieber in der Wüste sterben. Das ist mein Ernst, Tyler. Ich will aussteigen.«

Der Himmel wurde langsam hell, ein hässliches violettes Schimmern, eher dem Lichtbogen einer defekten Neonlampe ähnlich als irgendetwas Natürlichem.

»Das ist mir egal.«

Er sah mich verblüfft an. »Was?«

»Es ist mir egal, wie du dich gerade fühlst. Ich habe dich mitgenommen, weil wir eine schwierige Reise vor uns haben und ich mich nicht um sie kümmern und gleichzeitig fahren kann. Außerdem werde ich früher oder später schlafen müssen — wenn du dich dann ans Steuer setzen könntest, müssten wir nicht anhalten, außer um zu tanken und Verpflegung zu kaufen.«

»Kommt es darauf denn an?«

»Es ist nicht gesagt, dass sie stirbt, Simon, aber sie ist so krank, wie du glaubst, und sie wird sterben, wenn sie keine Hilfe bekommt. Und die einzige Hilfe, die ich kenne, ist ein paar tausend Kilometer von hier entfernt.«

»Himmel und Erde vergehen. Wir werden alle sterben.«

»Für Himmel und Erde kann ich nicht sprechen, aber ich weigere mich, sie sterben zu lassen, solange ich etwas dagegen tun kann.«

»Darum beneide ich dich.«

»Was? Worum in aller Welt könntest du mich beneiden?«

»Um deinen Glauben.«


Ein gewisses Maß an Optimismus war noch möglich, aber nur nachts. Bei Tageslicht verdorrte er.

Ich fuhr ins Hiroshima der aufgehenden Sonne. Das Licht tat mir zwar vermutlich nicht besonders gut, aber ich hatte aufgehört, mir darüber Sorgen zu machen. Dass wir überhaupt den ersten Tag überlebt hatten, war ein Rätsel — ein Wunder, hätte Simon wohl gesagt. Es ermunterte mich zu einem gewissen Pragmatismus: Ich holte meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und versuchte die Augen stur auf die Straße zu richten anstatt auf das orangefarbene Feuer, das aus dem Horizont emporschwebte.

Draußen wurde es immer heißer. Ebenso im Wageninneren, trotz der Klimaanlage, die ich auf Hochtouren laufen ließ, um Dianes Körpertemperatur halbwegs unter Kontrolle zu behalten. Irgendwo zwischen Albuquerque und Tucumcari wurde ich von heftiger Müdigkeit überschwemmt. Wiederholt fielen mir die Augen zu und beinahe hätte ich einen Kilometeranzeiger gerammt. Darauf fuhr ich an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Ich sagte Simon, er solle den Tank aus den Kanistern auffüllen und sich bereit machen, das Steuer zu übernehmen. Er nickte widerstrebend.

Wir waren besser vorangekommen, als ich erwartet hatte. Es hatte wenig bis gar kein Verkehr geherrscht, womöglich weil die Leute Angst hatten, allein unterwegs zu sein. Während Simon Benzin nachfüllte, fragte ich ihn, was er zu essen mitgenommen hatte.«

»Nur was ich auf die Schnelle in der Küche gefunden habe. Ich hatte es eilig. Sieh selbst nach.«

Im Kofferraum, zwischen den eingedellten Kanistern, dem verpackten medizinischen Bedarf und einzelnen Flaschen Mineralwasser fand ich einen Pappkarton. Er enthielt drei Schachteln Cheerios, zwei Büchsen Cornedbeef und eine Flasche Pepsi light. »Jesus, Simon.«

Er zuckte zusammen; mir wurde klar, dass ich mich nicht gerade sorgfältig ausgedrückt hatte. »Das war alles, was ich finden konnte.«

Und keine Schüsseln oder Löffel. Aber ich war ebenso hungrig wie müde. Wir beschlossen, den Motor ein wenig abkühlen zu lassen. Währenddessen setzten wir uns in den Schatten des Autos, dessen Scheiben heruntergelassen waren, damit die aus der Wüste wehende Brise hindurchblasen konnte. Die Sonne stand sengend am Himmel, es war wie High Noon auf dem Merkur. Wir benutzten die Böden leerer Plastikflaschen als behelfsmäßige Tassen und aßen in lauwarmem Wasser eingeweichte Cheerios. Es sah ein bisschen aus wie Klebstoff und schmeckte auch so.

Ich besprach die nächste Reiseetappe mit Simon, erinnerte ihn daran, die Klimaanlage einzuschalten, sobald wir unterwegs waren, und bat ihn, mich zu wecken, falls sich auf der Straße irgendwelche Probleme abzeichneten.

Dann kümmerte ich mich um Diane. Der Tropf und die Antibiotika schienen ihr etwas Energie eingeflößt zu haben. Sie öffnete die Augen und flüsterte: »Tyler«, nachdem ich ihr ein bisschen Wasser eingeflößt hatte. Sie nahm ein paar Löffel voll Cheerios an, drehte dann aber den Kopf weg. Ihre Wangen waren eingefallen, die Augen teilnahmslos.

»Hab noch ein bisschen Geduld, Diane.« Ich stellte ihren Tropf neu ein, ich half ihr aufzusitzen, die Beine aus dem Auto gestreckt, während sie ein wenig bräunlichen Urin abschlug. Dann wischte ich sie ab und tauschte ihr beschmutztes Höschen gegen einen sauberen Baumwollslip aus meinem Koffer aus.

Nachdem sie versorgt war, stopfte ich eine Decke in die Lücke zwischen Vorder- und Rückbank — ein Schlafplatz für mich, wo ich sie nicht störte. Simon hatte während der ersten Etappe nur kurz geschlafen und musste ähnlich erschöpft sein wie ich — aber er war nicht mit einem Gewehr geschlagen worden. Die Stelle, an der mich Bruder Aaron erwischt hatte, war geschwollen und gab dröhnend Meldung, wenn ich mit den Fingern auch nur in die Nähe geriet.

Simon beobachtete das alles aus einigen Metern Entfernung und machte ein mürrisches, vielleicht auch eifersüchtiges Gesicht. Als ich ihn rief, zögerte er, blickte sehnsuchtsvoll über die Wüste, tief ins Herz des absoluten Nichts. Dann schlich er zum Auto zurück und setzte sich hinter das Lenkrad.

Ich quetschte mich in meine Nische. Diane schien ohne Bewusstsein, doch bevor ich einschlief, fühlte ich, wie sie meine Hand drückte.


Als ich erwachte, war es wieder dunkel, Simon hatte angehalten, um die Plätze zu tauschen. Ich kletterte aus dem Auto und streckte mich. Mir tat noch immer der Kopf weh, meine Wirbelsäule fühlte sich etwas steif an, aber ich war ausgeruhter als Simon, der nach hinten kroch und sofort einschlief.

Ich wusste nicht, wo wir waren, abgesehen davon, dass wir nach wie vor auf der I-40 Richtung Osten fuhren und das Land hier weniger ausgedörrt war: zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich bewässerte Felder unter einem karmesinroten Mond. Ich überzeugte mich davon, dass Diane bequem lag und frei atmen konnte, und ließ alle Türen für eine Weile offen stehen, um die schlechte Luft, ein mit Blut und Benzin vermischter Krankenzimmergeruch, zu vertreiben. Dann setzte ich mich ans Steuer.

Nur wenig Sterne hingen über der Straße, und sie waren schwer zu erkennen. Ich dachte an den Mars. Befand er sich noch unter einer Spinmembran oder war er, ebenso wie die Erde, freigesetzt worden? Ich wusste nicht, wo am Himmel ich nach ihm suchen musste, und selbst wenn ich ihn fand, würde ich wohl kaum Einzelheiten erkennen können. Was ich aber sah — gar nicht übersehen konnte —, war die geheimnisvolle Silberlinie, auf die mich Simon noch in Arizona aufmerksam gemacht und die ich fälschlich für einen Kondensationsstreifen gehalten hatte. Jetzt war sie sogar noch auffälliger. Sie war vom westlichen Horizont fast bis zum Zenit gewandert, und aus der sanften Kurve war ein Oval geworden, ein abgeflachtes O.

Der Himmel, den ich über mir sah, war drei Milliarden Jahre älter als der, den ich zuletzt vom Rasen des Großen Hauses aus gesehen hatte. Man musste wohl damit rechnen, dass er alle möglichen Geheimnisse in sich trug.

Als wir wieder unterwegs waren, testete ich das Autoradio, das in der Nacht zuvor stumm geblieben war. Es war nichts Digitales zu empfangen, doch nach einigem Suchen erwischte ich einen Lokalsender auf dem FM-Band — einer von denen, die sich normalerweise ganz der Countrymusik und der Christlichkeit widmen. Jetzt allerdings wurde nur geredet. Ich erfuhr eine ganze Menge, bevor der Empfang schließlich im Rauschen unterging.

Ich erfuhr etwa, dass wir gut beraten gewesen waren, größere Städte zu meiden. Die Städte waren Katastrophengebiete — nicht auf Grund von Plünderungen und Gewalt (davon hatte es überraschend wenig gegeben), sondern wegen des völligen Zusammenbruchs der Infrastruktur. Der Aufgang der roten Sonne hatte so sehr nach dem lange vorhergesagten Tod der Erde ausgesehen, dass die meisten Leute einfach zu Hause geblieben waren, um gemeinsam mit ihren Familien zu sterben, und der städtische Betrieb weitgehend zum Erliegen kam: Polizei und Feuerwehr waren praktisch nicht mehr vorhanden, die Krankenhäuser hoffnungslos unterbesetzt.

Die vergleichsweise wenigen Leute, die sich zu erschießen versuchten oder große Mengen von Alkohol, Kokain, Oxycontin oder Amphetaminen einnahmen, verursachten in ihrer Unachtsamkeit die akutesten Probleme: sie wurden beim Autofahren bewusstlos oder ließen, während sie starben, brennende Zigaretten fallen. Wenn der Teppich dann zu glimmen begann oder die Vorhänge in Flammen aufgingen, war niemand da, um 911 zu wählen, und in vielen Fällen wäre bei der Feuerwehr auch niemand dagewesen, um den Anruf entgegenzunehmen. Kleine Feuer wurden auf diese Weise schnell zu Großbränden.

Vier große Rauchsäulen stiegen aus Oklahoma City auf, sagte der Nachrichtensprecher, und telefonischen Berichten zufolge lagen die südlichen Stadtteile von Chicago weitgehend in Schutt und Asche. Jede Großstadt im Land — sofern überhaupt Kontakt bestand — meldete wenigstens einen oder zwei außer Kontrolle geratene Brände.

Nachdem sich allerdings die Möglichkeit abgezeichnet hatte, dass die menschliche Rasse zumindest noch ein paar Tage länger überleben würde, waren wieder wesentlich mehr Notfallhelfer und kommunale Angestellte auf ihre Posten zurückgekehrt. (Die Kehrseite war, dass die Leute sich jetzt Sorgen machten, wie lange wohl ihre Vorräte reichen würden: Plünderungen von Lebensmittelgeschäften wurden zusehends zu einem Problem.) Wer keine unverzichtbaren Dienste zu leisten hatte, wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben — die Botschaft war vor Sonnenaufgang über Notübertragungssysteme und über jede noch funktionierende Radio- und Fernsehleitung verbreitet worden und wurde jetzt am Abend wiederholt. Was als Erklärung dafür dienen mochte, warum so wenig Verkehr herrschte. Ich hatte ein paar Militär- und Polizeipatrouillen gesehen, aber keine davon hatte uns aufgehalten, vermutlich wegen des Schildes an meinem Auto — nach dem ersten Flackern hatten die meisten Staaten, darunter auch Kalifornien, Notdienstplaketten an Ärzte ausgegeben.

Die Arbeit der Polizei war ohnehin lückenhaft. Das reguläre Militär blieb trotz mancher Desertationen mehr oder weniger intakt, doch die Einheiten der Reserve und der Nationalgarde waren arg reduziert und konnten die örtlichen Behörden nicht unterstützen. Lückenhaft war auch die Stromversorgung; die meisten Elektrizitätswerke waren unterbesetzt und kaum funktionstüchtig, sodass sich immer mehr Ausfälle über das Netz verbreiteten. Es gingen Gerüchte um, wonach die Atomkraftwerke San Onofre in Kalifornien und Pickering in Kanada kurz vor der Kernschmelze standen, aber dafür gab es bislang noch keine Bestätigung.

Der Nachrichtensprecher verlas eine Liste von Nahrungsmitteldepots und von Krankenhäusern, die ihren Betrieb aufrecht erhielten (mit geschätzten Wartezeiten), sowie Erste-Hilfe-Tipps für zu Hause. Und eine vom Wetteramt ausgegebene Warnung vor längeren Aufenthalten in der Sonne. Das Sonnenlicht scheine zwar nicht unmittelbar tödlich zu sein, doch eine übermäßige UV-Belastung könne, so hieß es, zu »langfristigen Problemen« führen — und das war ebenso traurig wie komisch.


Ich empfing noch einige vereinzelte Sendungen bis zum Morgengrauen, doch bald ließ die aufsteigende Sonne alles in Rauschen untergehen.

Der Tag brach unter Wolken an. Ich musste also nicht direkt ins grelle Sonnenlicht hineinfahren, aber selbst dieser gedämpfte Sonnenaufgang war bedrückend fremdartig. Die östliche Hälfte des Himmels wurde zu einer brodelnden Suppe aus rotem Licht, auf ihre Art ebenso hypnotisch wie die Glut eines erlöschenden Lagerfeuers. Gelegentlich teilten sich die Wolken, und bernsteinfarbene Sonnenstrahlen fingerten übers Land. Um die Mittagszeit jedoch hatte sich die Bewölkung verdichtet, und bald begann es zu regnen — ein heißer, lebloser Regen, der sich über den Highway legte und die kränklichen Farben des Himmels spiegelte.

Am Morgen hatte ich den letzten Benzinkanister in den Tank gefüllt, und irgendwo zwischen Cairo und Lexington begann sich die Nadel der Benzinanzeige bedrohlich dem roten Bereich zu nähern. Ich weckte Simon und sagte ihm, dass ich die nächste Tankstelle ansteuern würde — und jede weitere, die danach kam, bis wir eine gefunden hatten, die uns Benzin verkaufte.

Die nächste Tankstelle erwies sich als ein kleines familienbetriebenes Franchise mit vier Pumpen und angeschlossenem Imbiss, etwa einen halben Kilometer abseits des Highways gelegen. Der Laden war dunkel und die Pumpen vermutlich außer Betrieb, aber ich fuhr trotzdem vor, stieg aus dem Auto und nahm den Zapfhahn vom Haken.

Ein Mann mit einer Mütze der Cincinnati Bengals auf dem Kopf und einem Schrotgewehr in der Hand erschien von der Seite des Gebäudes her. »Das wird nichts«, sagte er.

Ich steckte den Zapfhahn langsam zurück. »Sie haben keinen Strom?«

»Richtig.«

»Und kein Notaggregat?«

Er zuckte mit den Achseln und kam näher. Simon schickte sich an, aus dem Wagen zu steigen, aber ich winkte ihn zurück. Der Mann mit der Bengals-Mütze — er war ungefähr dreißig und hatte schätzungsweise dreißig Pfund Übergewicht — besah sich den auf der Rückbank installierten Infusionstropf. Dann warf er einen Blick auf das Nummernschild. Es war ein kalifornisches, was mir vermutlich keine Goodwillpunkte einbrachte, doch die Notdienstplakette war deutlich zu sehen. »Sie sind Arzt?«

»Ja. Tyler Dupree. Dr. med.«

»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Ist das Ihre Frau da drin?«

Ich bejahte, weil das unkomplizierter war, als lange Erklärungen abzugeben. Simon sah mich an, erhob aber keinen Einspruch.

»Haben Sie irgendwelche Papiere, die belegen, dass Sie Arzt sind? Nichts für ungut, aber es hat in den letzten Tagen eine Menge Autodiebstähle gegeben.«

Ich zog meine Brieftasche hervor und warf sie vor ihm auf den Boden. Er hob sie auf, betrachtete das Kartenfach, fischte eine Brille aus seiner Hemdtasche, sah noch einmal genau hin. Schließlich gab er mir die Brieftasche zurück. »Tut mir Leid, Dr. Dupree. Ich bin Chuck Bernelli. Wenn Sie nur Benzin brauchen, stelle ich die Pumpen an. Falls Sie mehr benötigen, kostet es mich eine Minute, den Laden zu öffnen.«

»Das Benzin brauche ich auf jeden Fall. Verpflegung wäre zwar schön, aber ich habe nicht viel Bargeld bei mir.«

»Zum Teufel damit. Für Kriminelle und Betrunkene — und daran herrscht momentan kein Mangel auf den Straßen — haben wir geschlossen, aber fürs Militär und für die Autobahnpolizei machen wir jederzeit auf. Und auch für Mediziner. Jedenfalls so lange es noch Benzin gibt. Ich hoffe, Ihrer Frau geht es nicht allzu schlecht.«

»Nicht, wenn ich sie dahin bekomme, wo ich hinwill.«

»Lexington V. A.? Samaritan?«

»Ein bisschen weiter noch. Sie braucht spezielle Behandlung.«

Er blickte zum Auto. Simon hatte die Fenster heruntergelassen, damit frische Luft hineinwehte. Regen klatschte auf das staubige Fahrzeug und den öligen, von Pfützen übersäten Asphalt. Diane drehte sich im Schlaf um, begann zu husten. Bernelli runzelte die Stirn. »Dann mach ich mal die Pumpen an. Sie wollen sicher gleich weiter.«

Bevor wir wieder losfuhren, stellte er noch einige Lebensmittel für uns zusammen: ein paar Suppendosen, eine Schachtel Cracker, einen Dosenöffner. Aber er kam nicht in die Nähe des Autos.


Quälender, periodisch auftretender Husten ist ein typisches Symptom für KVES. Es mutet schon beinahe hinterhältig an, wie der Erreger seine Opfer vorerst schont, es vorzieht, sie erst einmal nicht in einer verheerenden Pneumonie zu ertränken, obwohl das dann letzten Endes doch das Mittel ist, mit dem er sie umbringt — sofern nicht schon vorher komplettes Herzversagen eintritt. Bei dem Großhändler in der Nähe von Flagstaff hatte ich mir einen Sauerstoffbehälter und eine Maske verschafft, und als der Husten Dianes Atmung zu beeinträchtigen begann — sie war am Rande der Panik, verdrehte die Augen, weil sie das Gefühl hatte, in ihrem eigenen Sputum zu ertrinken —, machte ich die Atemwege, so gut es ging, frei und hielt ihr die Sauerstoffmaske über Mund und Gesicht, während Simon fuhr.

Irgendwann wurde sie ruhiger, ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich, und sie konnte wieder schlafen. Ich saß bei ihr, ihr fiebriger Kopf schmiegte sich an meine Schulter. Der Regen fiel unerbittlich und zwang uns, langsamer zu fahren. Jedes Mal wenn wir durch eine Senke fuhren, zog der Wagen eine schäumende Wasserwolke hinter sich her. Zum Abend hin schwand das Licht, hinterließ glimmende Kohlen am westlichen Horizont.

Es gab keinerlei Geräusche neben dem Trommeln des Regens auf dem Autodach, und ich war recht zufrieden damit, dem zuzuhören, als sich Simon plötzlich räusperte und fragte: »Bist du Atheist, Tyler?«

»Wie bitte?«

»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe mich gefragt, ob du dich als Atheisten bezeichnen würdest?«

Ich wusste nicht recht, wie ich darauf antworten sollte. Simon hatte einen hilfreichen, ja unverzichtbaren Beitrag dazu geleistet, dass wir bis hierher gekommen waren. Doch er war auch jemand, der sein geistiges Kapital in einen Haufen unzurechnungsfähiger Dispensationalisten investiert hatte, deren einziger Einwand gegen das Ende der Welt darin bestand, dass es ihren detaillierten Erwartungen nicht entsprach. Ich wollte ihn nicht beleidigen, ich brauchte ihn noch — Diane brauchte ihn noch. Also sagte ich: »Spielt es denn eine Rolle, als was ich mich bezeichnen würde?«

»Ich war einfach nur neugierig.«

»Tja… Ich weiß es nicht. Schätze, das wäre meine Antwort. Ich erhebe nicht den Anspruch zu wissen, ob Gott existiert oder warum er das Universum auf diese Weise ins Schleudern gebracht hat. Tut mir Leid, Simon, das ist alles, was ich an der theologischen Front zu bieten habe.«

Einige Kilometer lang schwieg er. Dann sagte er: »Vielleicht ist es das, was Diane meinte.«

»Was sie wozu meinte?«

»Wenn wir darüber sprachen. Was wir übrigens länger nicht mehr getan haben, wenn ich’s mir recht überlege. Wir waren unterschiedlicher Ansicht über Pastor Dan und Jordan Tabernacle, auch vor dem Schisma schon. Ich fand, dass sie zu zynisch war. Sie sagte, ich sei zu leicht zu beeindrucken. Nun, kann schon sein. Pastor Dan besaß die Gabe, die Schrift aufzuschlagen und auf jeder Seite Erkenntnisse zu finden — solide wie ein Haus, Säulen und Grundpfeiler der Erkenntnis. Das ist wirklich eine Gabe, weißt du. Ich selber kann es nicht. So sehr ich es versuche, ich bin bis heute nicht in der Lage, die Bibel aufzuschlagen und sofort zu begreifen, was da steht.«

»Vielleicht ist es auch gar nicht so gedacht.«

»Ich wollte es aber. Ich wollte so sein wie Pastor Dan — klug und immer, na ja, mit festem Boden unter den Füßen. Diane sagte, es sei ein Teufelspakt, Dan Condon hätte Demut gegen Gewissheit getauscht. Vielleicht ist es das, was mir abging. Und vielleicht ist es das, was sie in dir sah, warum sie all die Jahre an dir festgehalten hat: deine Demut.«

»Simon, ich…«

»Schon gut. Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, und du brauchst es auch nicht um meinetwillen zu beschönigen. Ich weiß, dass sie dich angerufen hat, wenn sie dachte, ich schlafe, oder wenn ich außer Haus war. Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen darf, sie so lange bei mir gehabt zu haben.« Er drehte sich zu mir um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Sag ihr bitte, es täte mir Leid, dass ich mich nicht besser um sie gekümmert habe, als sie krank wurde.«

»Das kannst du ihr doch selber sagen.«

Er nickte nachdenklich und fuhr tiefer in den Regen hinein. Ich sagte ihm, er solle versuchen, nützliche Informationen im Radio zu finden, jetzt, wo es wieder dunkel war. Meine Absicht war, wach zu bleiben und zuzuhören, aber ich hatte rasende Kopfschmerzen und begann alles doppelt zu sehen, und nach einer Weile schien es dann doch angenehmer, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen.


Ich schlief fest und lange, jede Menge Kilometer blieben unter den Rädern des Autos zurück. Als ich aufwachte, war es erneut ein regnerischer Morgen. Wir parkten auf einem Rastplatz — westlich von Manassas, wie ich später erfuhr —, und eine Frau mit einem eingerissenen schwarzen Regenschirm klopfte ans Fenster.

Blinzelnd öffnete ich die Tür, worauf sie, mit achtsamen Blicken auf Diane, einen Schritt zurückwich. »Soll Ihnen von dem Mann sagen, Sie solln nich warten.«

»Wie bitte?«

»Soll Sie von ihm grüßen und Sie solln nich auf ihn warten.«

Simon saß nicht auf dem Vordersitz. Auch zwischen den Mülltonnen, den nassen Picknicktischen und den Plastiktoiletten war er nicht zu sehen. Einige andere Wagen standen herum, die meisten im Leerlauf vor sich hintuckernd, während ihre Fahrer auf dem Klo waren. Ich registrierte Bäume, Parklandschaft, einen hügeligen Ausblick auf eine regennasse kleine Industriestadt unter einem feuerroten Himmel. »Dünner blonder Typ? Schmutziges T-Shirt?«

»Genau der. Meinte, Sie solln nicht zu lange schlafen. Dann isser losgezogen.«

»Zu Fuß?«

»Ja. Runter Richtung Fluss, nicht anner Straße lang.« Die Frau schielte wieder zu Diane hinüber. »Geht’s Ihnen beiden gut?«

»Nein. Aber wir haben’s nicht mehr weit. Nett, dass Sie fragen. Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Ja. Soll ausrichten, Gott segne Sie und er findet von hier aus selber weiter.«

Ich versorgte Diane. Warf einen letzten Blick über den nassen Parkplatz. Dann fuhr ich weiter.


Ich musste mehrmals anhalten, um Dianes Tropf zu richten oder ihr Sauerstoff zu verabreichen. Sie öffnete die Augen überhaupt nicht mehr, und sie schlief nicht einfach nur — sie war ohne Bewusstsein. Ich mochte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.

Die Straßen erlaubten kein schnelles Fahren, der Regen prasselte nur so herunter und überall gab es Hinweise auf das Chaos der letzten Tage. Ich kam an dutzenden von ausgebrannten, an den Straßenrand geschobenen Autowracks vorbei, aus einigen stieg noch Rauch auf. Etliche Straßen waren für den zivilen Verkehr gesperrt, durften nur von Militär oder Notdienstfahrzeugen befahren werden. Mehrmals stand ich vor Straßensperren und musste kehrtmachen. Die Hitze des Tages machte die feuchte Luft fast unerträglich, am Nachmittag kam zwar ein starker Wind auf, doch auch der brachte nur wenig Erleichterung.

Zumindest war Simon erst kurz vor unserem Ziel desertiert. Ich schaffte es zum Großen Haus, solange noch Licht am Himmel war.

Der Wind war noch heftiger geworden, hatte fast Sturmstärke erreicht, und die Auffahrt der Lawtons war von Zweigen und Ästen übersät. Das Haus selbst war dunkel, jedenfalls sah es in der gelbbraunen Dämmerung so aus.

Ich ließ Diane im Auto, klopfte an die Tür. Und wartete. Klopfte noch einmal, nachdrücklich. Endlich öffnete sie sich einen Spaltbreit, und Carol Lawton spähte hinaus.

Ich konnte ihr Gesicht in der schmalen Öffnung kaum erkennen: ein blassblaues Auge, eine runzelige Wange.

»Tyler Dupree«, sagte sie. »Bist du allein?« Die Tür ging weiter auf.

»Nein. Diane ist bei mir. Und ich brauche Hilfe, um sie nach drinnen zu schaffen.«

Carol trat auf die Veranda und linste hinunter zum Auto. Als sie Diane sah, versteifte sich ihr kleiner Körper, sie zog die Schultern hoch und rang nach Luft. »Großer Gott«, flüsterte sie. »Sind denn beide meine Kinder zum Sterben nach Hause gekommen?«

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