Ich verbrachte einige Tage in einem Krankenhaus in der Nähe von Miami, genas von leichteren Verletzungen, schilderte dem FBI meine Sicht der Ereignisse und versuchte, Wuns Tod zu verarbeiten. Es war in dieser Zeit, dass ich den Entschluss fasste, Perihelion zu verlassen und eine eigene Praxis zu eröffnen.
Ich beschloss aber auch, meine Absicht erst nach dem Replikatorenstart kundzutun; ich wollte Jason nicht zu einem so heiklen Zeitpunkt damit belasten.
Im Vergleich zu den gewaltigen Anstrengungen der Terraformung stellte der Abschuss der Replikatoren geradezu eine Antiklimax dar. Die Ergebnisse, so denn alles nach Plan verlief, würden weitaus großartiger ausfallen, aber die Unaufwändigkeit des Vorgangs — nur eine Hand voll Raketen wurde benötigt, kein cleveres Timing war erforderlich — verhinderte jede dramatische Wirkung.
Präsident Lomax ließ in dieser Sache nichts anbrennen. Trotz wütender Proteste seitens der EU, der Chinesen, Russen und Inder weigerte er sich, irgendjemand außerhalb des engsten Kreises wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Perihelion und der NASA Einblick in die Replikatorentechnologie zu gewähren, und hatte alle entsprechenden Passagen in den veröffentlichten Editionen der marsianischen Archive streichen lassen. »Künstliche Mikroben« (Lawton-Sprech) seien eine »Hochrisiko«-Technologie, sie könnten »waffenfähig« gemacht werden (dies war zutreffend, wie selbst Wun eingeräumt hatte), die USA seien daher verpflichtet, dieses brisante Wissen in »sichere Obhut« zu nehmen, um »nanotechnische Proliferation sowie einen neuen, tödlichen Rüstungswettlauf« zu verhindern.
Die Europäische Union hatte Beschwerde eingereicht und die UNO einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, aber in einer Welt, in der auf vier Kontinenten lokale Konflikte brodelten, hatten Lomax’ Argumente ein beträchtliches Gewicht (obwohl, wie Wun ihm hätte entgegenhalten können, die Marsianer es seit mehreren Jahrhunderten schafften, mit eben dieser Technologie zu leben — und die Marsianer waren nicht mehr und nicht weniger menschlich als ihre terrestrischen Vorfahren).
Aus all diesen Gründen lockte der spätsommerliche Raketenstart in Canaveral nur wenige Menschen an und erregte kein sehr großes Medieninteresse. Wun Ngo Wen war schließlich tot, und die Sender hatten sich mit der Berichterstattung über seine Ermordung reichlich verausgabt — die auf den Offshore-Rampen installierten vier schweren Delta-Raketen schienen da eher wie eine Fußnote zu den Begräbnisfeierlichkeiten, oder, schlimmer noch, eine Wiederaufführung: die Saatguttransporte, neu aufbereitet für eine Zeit gesunkener Erwartungen.
Aber wenn es auch nur eine kleine Show war, so war es dennoch eine Show. Lomax kam extra eingeflogen. E. D. Lawton hatte eine Höflichkeitseinladung angenommen und sich sogar auf gutes Benehmen verpflichten lassen. Und so fuhr ich am Morgen des Starttages zusammen mit Jason zu den VIP-Logen an der östlichen Küste Cape Canaverals.
Die alten Offshore-Rampen — noch gut in Schuss, nur vom Salzwasser ein wenig rötlich verfärbt — waren dafür gebaut worden, die riesigen Trägerraketen der Saatgutära aufzunehmen, die brandneuen Deltas muteten im Vergleich dazu geradezu winzig an. Nicht, dass wir auf die Entfernung nennenswerte Einzelheiten hätten erkennen können — nur vier weiße Säulen draußen im sommerlichen Dunst des Meeres, dazu das Gitterwerk der anderen Abschussrampen, die Schienenverbindungen, die im sicheren Umkreis vor Anker liegenden Begleit- und Hilfsschiffe. Es war ein klarer, heißer Morgen. Der Wind war böig — nicht stark genug, um den Start zu gefährden, aber mehr als ausreichend, um die Fahnen knattern zu lassen und das wohlfrisierte Haar von Präsidenten Lomax zu zerzausen, als er das Podium erklomm, um zu den versammelten Würdenträgern und Pressevertretern zu sprechen.
Die Rede war dankenswert kurz. Lomax beschwor das Vermächtnis Wun Ngo Wens und gab seiner tiefen Überzeugung Ausdruck, dass das Replikatorennetzwerk, das nun in die eisigen Randbereiche des Sonnensystems gepflanzt werden sollte, uns Aufschluss über die Natur und den Zweck des Spins verschaffen werde. In hehren Worten sprach er davon, dass die Menschheit ihre Spuren im Kosmos hinterlassen werde. (»Er meint die Galaxis«, flüsterte Jason, »nicht den Kosmos. Und — unsere Spuren hinterlassen? Wie ein Hund, der einen Hydranten anpinkelt? Irgendjemand sollte wirklich diese Reden gegenlesen.«) Abschließend zitierte der Präsident einen russischen Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert, F. I. Tjutschev:
Wie ein Trugbild entschwunden ist die äuß’re Welt,
Und der Mensch, eine Waise, klein und hässlich,
blickt — hilflos, allein und gänzlich nackt —
ins schwarze Nichts des Weltalls, welches unermesslich.
Alles Leben, Licht — nur noch als Traum erscheinen sie,
da, plötzlich, im Schoß der tiefen Nacht,
nicht länger Rätsel, dennoch fremd, sieht er
ein schicksalhaftes Etwas, für ihn gemacht.
Dann verließ er die Bühne, und nach dem prosaischen Vorgang des Rückwärtszählens ritt die erste Rakete auf ihrer Feuersäule hinauf in den enträtselten Kosmos jenseits des Himmels. Ein schicksalhaftes Etwas. Für uns gemacht.
Während alle anderen nach oben blickten, schloss Jason die Augen und faltete die Hände im Schoß.
Zusammen mit den übrigen Gästen begaben wir uns anschließend in den Empfangsbereich, wo noch einige Pressegespräche auf uns warteten. (Jason hatte einen Zwanzigminutentermin mit einem Kabelsender, ich war für zehn Minuten gebucht. Ich war »der Arzt, der Wun Ngo Wen das Leben zu retten versuchte«, obwohl ich nichts weiter getan hatte, als seinen brennenden Schuh zu löschen und seinen Körper aus der Schusslinie zu ziehen. Ein rascher Check — Atmung, Puls — hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ich nichts für ihn tun konnte und es am klügsten war, den Kopf unten zu halten, bis Hilfe eintraf. Was ich auch den Reportern immer wieder erzählte, bis sie es endlich begriffen hatten, jedenfalls nicht mehr fragten.)
Präsident Lomax bewegte sich händeschüttelnd durch den Raum und wurde schließlich von seinen Beratern in Beschlag genommen und fortgezerrt. Kurz darauf lauerte E. D. Jason und mir am Bufett auf.
»Jetzt hast du also bekommen, was du wolltest«, sagte er. Der Kommentar war für Jason bestimmt, aber E. D. sah mich an. »Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen.«
»Weshalb«, erwiderte Jason, »es sich auch nicht lohnt, noch groß darüber zu streiten.«
Wun und ich hatten Jason in den Monaten nach seiner Behandlung unter strengster Beobachtung gehalten. Er hatte sich einer ganzen Reihe neurologischer Tests unterzogen, darunter eine Serie von Magnetresonanz-Tomographien. Keiner der Tests hatte irgendeinen Defekt offenbart, die einzigen auffälligen physiologischen Veränderungen waren auf seine Gesundung von der AMS zurückzuführen. Ein blitzsauberes Gesundheitsattest also, eindeutiger, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Und doch schien er auf subtile Weise verändert. Ich hatte Wun gefragt, ob alle Vierten einen psychologischen Wandel durchmachten. »In einem gewissen Sinne, ja«, hatte er geantwortet. Von marsianischen Vierten wurde erwartet, dass sie sich nach ihrer Behandlung anders verhielten, aber in dem Wort »Erwartung« steckte etwas Mehrdeutiges: Ja, sagte Wun, es werde »erwartet« (für wahrscheinlich gehalten), dass ein Vierter sich verändert, aber sein Umfeld, seine Freunde und Kollegen, würde diese Veränderung auch »von ihm erwarten« (ihm abverlangen).
Wie hatte Jason sich verändert? Zum einen bewegte er sich anders. Er hatte seine AMS sehr geschickt getarnt, doch nun waren sein Gang und seine Gesten wieder deutlich freier geworden. Er war der blecherne Holzfäller nach der Ölkannenbehandlung. Zwar war er noch gelegentlich missgestimmt, aber seine Launen waren nicht mehr so heftig. Er fluchte weniger — stolperte nicht mehr so leicht in eine jener emotionalen Senkgruben, in denen das einzige noch verwendbare Wort »Scheiße« hieß — und scherzte häufiger als früher.
Das alles klingt gut, und das war es auch, doch es betraf nur die Oberfläche. Andere Veränderungen schienen problematischer. Von der Leitung des Tagesgeschäfts bei Perihelion hatte er sich so weit zurückgezogen, dass sein Mitarbeiterstab ihn nur noch einmal in der Woche über die laufenden Geschäfte informierte. Er hatte begonnen, marsianische Astrophysik zu studieren, unter Umgehung, wenn nicht gar krasser Missachtung der Sicherheitsbestimmungen, und das einzige Ereignis, das seine neu erlangte Gemütsruhe durchbrach, war Wuns Tod, der ihm auf eine Weise naheging, die ich nicht recht nachvollziehen konnte.
»Dir ist klar«, sagte E. D. jetzt, »dass es das Ende von Perihelion war, was wir gerade gesehen haben.«
Das war es, in der Tat. Abgesehen von der noch zu leistenden Interpretation des Feedbacks, das wir von den Replikatoren zu erhalten hofften, war Perihelions Geschichte als zivile Raumfahrtbehörde zu Ende. Der Stellenabbau war bereits in vollem Gange, die Hälfte der technischen Mitarbeiter hatte ihre Kündigung bekommen. Das wissenschaftliche Personal schrumpfte etwas langsamer, wurde aber zusehends von Universitäten oder finanzstarken Unternehmen abgeworben.
»Dann soll es eben so sein«, gab Jason mit dem Gleichmut eines Vierten (oder einer lange unterdrückten Feindseligkeit gegen seinen Vater) zurück. »Die Arbeit, die wir zu tun hatten, ist getan.«
»Und das sagst du mir so einfach ins Gesicht.«
»Ich glaube, dass es der Wahrheit entspricht.«
»Ist es irgendwie von Bedeutung, dass ich mein Leben damit verbracht habe, das aufzubauen, was du gerade eingerissen hast?«
»Ist es von Bedeutung?« Jason überlegte. »Nein, vermutlich nicht.«
»Mein Gott, was ist nur mit dir passiert? Wenn du einen Fehler von dieser Tragweite machst…«
»Ich denke nicht, dass es ein Fehler ist.«
»… solltest du auch die Verantwortung dafür übernehmen.«
»Das habe ich meines Erachtens getan.«
»Denn wenn es schief läuft, bist du derjenige, dem man die Schuld geben wird.«
»Das ist mir bewusst.«
»Den man der Meute zum Fraß vorwerfen wird.«
»Wenn es dazu kommt.«
»Ich kann dich nicht schützen.«
»Das konntest du nie.«
Ich fuhr mit Jason zurück zu Perihelion. Er hatte seit neuestem ein deutsches Brennstoffzellenauto, ein Nischenfahrzeug, denn die meisten von uns benutzten immer noch die Benzinverbrenner, entwickelt von Leuten, die nicht glaubten, dass es sich noch lohnte, Rücksicht auf irgendeine Zukunft zu nehmen. Eilige Pendler überholten uns, wollten nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.
Ich teilte ihm mit, dass ich Perihelion verlassen und eine eigene Praxis eröffnen wolle.
Jason schwieg eine Weile lang, beobachtete die Straße, von deren Belag warme Luft aufstieg, als würden die Ränder der Welt in der Hitze schmelzen. Dann sagte er: »Das musst du nicht, Tyler. Perihelion wird noch ein paar Jahre lang über die Runden kommen, und ich habe genügend Einfluss, um deine Stellung zu sichern. Falls nötig, kann ich dich auch privat anstellen.«
»Aber genau das ist es ja, Jase. Es besteht keine Notwendigkeit. Ich war immer ein wenig unausgelastet bei Perihelion.«
»Du meinst, du hast dich gelangweilt?«
»Könnte ganz gut sein, sich zur Abwechslung mal etwas nützlich zu machen.«
»Du fühlst dich unnütz? Ohne dich würde ich jetzt im Rollstuhl sitzen.«
»Das ist nicht mein Verdienst, das war Wun. Ich hab nur die Spritze reingedrückt.«
»Von wegen. Du hast mich durch das ganze Martyrium geschleust. Dafür bin ich dir dankbar. Außerdem… ich brauche jemand zum Reden, jemand, der nicht versucht, mich zu kaufen oder zu verkaufen.«
»Wann haben wir unser letztes richtiges Gespräch geführt?«
»Nur weil ich damit beschäftigt war, eine gesundheitliche Krise zu überstehen, heißt das doch nicht, dass es keine mehr geben wird.«
»Du bist ein Vierter, Jase. Die nächsten fünfzig Jahre wirst du keinen Arzt mehr brauchen.«
»Und die einzigen Leute, die das von mir wissen, sind du und Carol. Was ein weiterer Grund ist, warum ich dich nicht gehen lassen möchte.« Er zögerte. »Wie wär’s, wenn du dich selber der Behandlung unterziehst? Dir fünfzig zusätzliche Jahre gönnst?«
Das hätte ich wohl tun können. Aber fünfzig Jahre würden uns tief in die Heliosphäre der sich ausdehnenden Sonne tragen. Es wäre eine sinnlose Geste. »Ich wäre lieber jetzt nützlich.«
»Du bist also fest entschlossen zu gehen?«
E. D. hätte gesagt: Bleib! E. D. hätte gesagt: Es ist deine Aufgabe, auf ihn aufzupassen!
E. D. hätte so einiges gesagt.
»Ja.«
Jason packte das Lenkrad fester und starrte auf die Straße, als habe er dort etwas unendlich Trauriges gesehen. »Tja«, sagte er. »Dann kann ich nichts weiter tun, als dir alles Gute zu wünschen.«
An meinem letzten Tag bei Perihelion beorderte das technische Personal mich in einen der inzwischen nur noch selten benutzten Konferenzräume, wo mir zu Ehren eine Abschiedsparty stattfand und ich einige Geschenke erhielt, die dem Anlass — ein weiterer Abgang aus einer unaufhaltsam schwindenden Belegschaft — angemessen waren: ein Minikaktus in einem Terrakottatopf, ein Kaffeebecher mit meinem eingravierten Namen, eine Krawattennadel in Form eines Merkurstabs.
Abends dann stand Jason mit einem problematischeren Geschenk an meiner Tür.
Es war ein verschnürter Pappkarton. Als ich ihn öffnete, stieß ich auf etwa ein Pfund eng bedrucktes Papier und sechs nicht näher gekennzeichnete optische Speicherplatten.
»Was ist das?«
»Medizinisches Wissen. Du kannst es als Lehrbuch betrachten.«
»Welche Art von medizinischem Wissen?«
Er lächelte. »Aus den Archiven.«
»Den marsianischen Archiven?«
Er nickte.
»Aber das ist alles streng geheim.«
»Genau genommen, ja. Aber Lomax würde auch die Telefonnummer für den Notruf als streng geheim einstufen, wenn er der Ansicht wäre, dass er damit durchkäme. Könnte sein, dass hier Informationen zu finden sind, die Pfizer und Eli Lilly die Geschäftsgrundlage entziehen. Aber deren Interessen kann ich nicht als maßgeblich empfinden. Du vielleicht?«
»Nein, aber…«
»Ich glaube auch nicht, dass Wun dieses Wissen hätte geheim halten wollen. Also habe ich in aller Stille Teile des Archivs nach außen gegeben, an Leute, denen ich vertraue. Du musst nichts Bestimmtes damit machen, Tyler. Sieh es dir an oder ignorier es, hefte es ab — ganz wie du willst.«
»Toll. Danke, Jase. Ein Geschenk, für dessen Besitz ich verhaftet werden könnte.«
Ein noch breiteres Lächeln. »Ich weiß, dass du das Richtige tun wirst.«
»Was immer das sein mag.«
»Du wirst es herausfinden. Ich habe Vertrauen zu dir, Tyler. Seit der Behandlung…«
»Ja?«
»Scheine ich alles ein bisschen klarer zu sehen.«
Er erläuterte das nicht weiter, und schließlich stellte ich den Karton zu meinem anderen Gepäck, als eine Art Souvenir. Ich war sogar versucht, das Wort ANDENKEN draufzuschreiben.
Die Replikatorentechnologie war langsam sogar im Vergleich zur Terraformung eines toten Planeten. Zwei Jahre vergingen, bevor wir so etwas wie eine erkennbare Rückmeldung von den Einheiten erhielten, die wir am Rand des Sonnensystems verstreut hatten.
Die Replikatoren waren allerdings durchaus emsig da draußen. Kaum berührt von der Schwerkraft der Sonne, taten sie das, wofür sie gemacht waren: sich Stück für Stück, Jahrhundert für Jahrhundert zu vermehren, den Anweisungen folgend, die in ihr supraleitfähiges Äquivalent einer DNA eingeschrieben waren. Mit der nötigen Zeit und einem angemessenen Vorrat an Eis und kohlenstoffhaltigen Spurenelementen würden sie irgendwann so weit sein, nach Hause zu telefonieren. Die ersten in eine Umlaufbahn außerhalb der Spinmembran geschickten Aufklärungssatelliten fielen jedoch zur Erde zurück, ohne ein Signal aufgenommen zu haben.
Während dieser zwei Jahre gelang es mir, einen Partner zu finden — Herbert Hakkim, ein sanftmütiger in Bengalen geborener Arzt, der sein Praktikum ungefähr zu der Zeit abgeschlossen hatte, als Wun den Grand Canyon besuchte —, und gemeinsam übernahmen wir die Praxis eines Arztes in San Diego, der in den Ruhestand ging. Hakkim war offen und freundlich im Umgang mit den Patienten, aber er hatte praktisch kein Privatleben und schien damit auch recht zufrieden zu sein: außerhalb der Sprechstunden hatten wir kaum miteinander zu tun, und ich glaube, die intimste Frage, die er mir je gestellt hat, war die, warum ich zwei Handys mit mir herumtragen würde. (Eines aus dem üblichen Grund; das andere, weil seine Nummer die letzte war, die ich Diane gegeben hatte. Nicht, dass es je geklingelt hätte. Auch machte ich keinen weiteren Versuch, mit ihr in Verbindung zu treten. Aber wenn ich mich von der Nummer und dem dazugehörigen Handy getrennt hätte, hätte sie keine Möglichkeit gehabt, mich zu erreichen, und das erschien mir immer noch… nun, nicht richtig.)
Ich mochte meine Arbeit und im Großen und Ganzen mochte ich auch meine Patienten. Ich bekam mehr Schusswunden zu sehen, als ich erwartet hatte, aber das waren jetzt die harten Jahre des Spins: Die Kurven für Mord und Selbstmord begannen sich der Senkrechten anzunähern, und man hatte den Eindruck, dass alle unter dreißig irgendeine Art von Uniform trugen — Armee, Nationalgarde, Heimatschutz, privater Sicherheitsdienst; es gab sogar uniformierte Scouts, die die verunsicherten Produkte sinkender Geburtsraten nach Hause geleiteten. Es war die Zeit, als Hollywood Massen von extrem gewalttätigen und extrem frommen Filmen auf den Markt warf, in denen der Spin nie ausdrücklich erwähnt wurde; denn der Spin war — genau wie Sex in welcher Form auch immer sowie alle Wörter, die ihn bezeichneten — von Lomax’ Kulturausschuss und der Medienkontrollbehörde FCC aus dem »Entertainment-Diskurs« verbannt worden.
Es waren auch die Jahre, in denen die Regierung eine Reihe von Gesetzen erließ, die dem Zweck dienten, die marsianischen Archive zu zensieren. Diese Archive, so der Präsident und seine Verbündeten im Kongress, enthielten überaus gefährliches Wissen, das redigiert und geschützt werden müsse. Sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sei das Gleiche, als würde man »Baupläne für eine Kofferatombombe ins Internet stellen«. Auch das anthropologische Material war davon betroffen: in der veröffentlichten Version wurde ein Vierter als »angesehener älterer Mensch« definiert. Kein Wort über medizinisch bewirkte Langlebigkeit.
Aber wer wollte schon Langlebigkeit? Das Ende der Welt rückte mit jedem Tag näher.
Falls es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, so lieferte ihn das Flackern.
Die ersten positiven Ergebnisse aus dem Replikatorenprojekt lagen seit etwa einem halben Jahr vor, als das Flackern begann. Den Großteil der Neuigkeiten über die Replikatoren erfuhr ich von Jason, ein paar Tage bevor sie in den Medien verbreitet wurden. An sich war es nichts Spektakuläres: Ein NASA/Perihelion-Beobachtungssatellit hatte ein schwaches Signal aufgefangen, das von einem bekannten Planetenkörper in der Oortschen Wolke stammte, ein gutes Stück jenseits der Umlaufbahn des Pluto — ein regelmäßiger, unkodierter Signalton, der die bevorstehende Fertigstellung einer Replikatorenkolonie anzeigte (die bevorstehende Reife, könnte man sagen).
Was trivial anmutet — bis man sich klar macht, was es bedeutet.
Die schlummernden Zellen einer neuartigen, von Menschenhand geformten Biologie waren auf einem Brocken staubigen Eises in den Tiefen des Weltalls gelandet. Daraufhin hatten diese Zellen einen quälend langsamen Stoffwechselprozess begonnen, bei dem sie die geringe Hitze der fernen Sonne absorbierten, diese benutzten, um in der Nähe umherschwirrende Wasser- und Kohlenstoffmoleküle aufzuspalten, und mit Hilfe des entstandenen Rohmaterials Duplikate ihrer selbst herstellten.
Im Laufe etlicher Jahre wuchs diese Kolonie zur Größe, sagen wir, eines Kugellagers an. Ein Astronaut, der die unfassbar lange Reise auf sich nehmen würde und genau wüsste, wo er hinzusehen hatte, würde sie als schwarzes Grübchen auf dem felsig-eisigen Regolith des Wirtskörpers erkennen. Die Kolonie aber war um ein winziges bisschen effizienter als ihr einzelliger Vorfahr. Sie begann, schneller zu wachsen und mehr Hitze zu erzeugen. Das Temperaturgefälle zwischen der Kolonie und ihrer Umgebung betrug nur ein Bruchteil eines Grad Kelvin — außer wenn Fortpflanzungsschübe latente Energie in die unmittelbare Umgebung pumpten —, aber es war stabil. Weitere Jahrtausende (oder irdische Monate) vergingen. Subprogramme im genetischen Substrat der Replikatoren, von lokalen Hitzegradienten aktiviert, modifizierten das Wachstum der Kolonie, und wie ein menschlicher Embryo produzierte die Kolonie nicht nur immer weitere, sondern nun auch spezialisierte Zellen, die Entsprechung von Herz und Lunge, Armen und Beinen. Diese besaßen Ranken, die sich in das lockere Material des Wirtskörpers zwängten, nach kohlenstoffhaltigen Molekülen gruben.
Schließlich begannen mikroskopisch kleine, aber sorgsam kalkulierte Dampfexplosionen die Rotation des Wirtsobjekts abzubremsen (geduldig, über Jahrhunderte), bis die Oberfläche der Kolonie permanent der Sonne zugekehrt war. Jetzt nahm die Differenzierung ernsthafte Formen an: Die Kolonie stieß Kohlenstoff-Kohlenstoff- sowie Kohlenstoff-Silizium-Verbindungen aus, sie bildete monomolekulare Schnurrhaare aus, um diese Verbindungen zu verketten und sich auf der Komplexitätsleiter nach oben zu hieven. Aus diesen Verbindungen heraus generierte sie lichtempfindliche Punkte — Augen — und die Fähigkeit, Hochfrequenzrauschen zu erzeugen und zu verarbeiten.
Im Laufe weiterer Jahrhunderte erweiterte und verfeinerte die Kolonie diese Fähigkeiten, bis sie mit einem regelmäßigen Zwitschern auf sich aufmerksam machte, ein Geräusch etwa, wie es ein neugeborener Sperling machte. Und dieses Geräusch hatte unser Satellit aufgefangen.
Die Medien berichteten einige Tage lang — mit Archivfotos von Wun Ngo Wen, seiner Beerdigung, des Raketenstarts — und vergaßen die Sache dann wieder. Schließlich war es lediglich die erste Phase dessen, wofür die Replikatoren konzipiert waren. Nichts Aufregendes. Eher langweilig. Es sei denn, man dachte länger als dreißig Sekunden darüber nach.
Dies war Technologie mit einem Eigenleben — ganz buchstäblich: Ein Geist aus der Flasche, für immer und ewig.
Das Flackern kam ein paar Monate später.
Das Flackern war das erste Anzeichen für eine Veränderung oder Störung in der Spinmembran — wenn man die Himmelserscheinung nicht mitzählt, die dem chinesischen Raketenangriff auf die Polarartefakte gefolgt war, damals in der Frühzeit des Spins. Beide Ereignisse waren von jedem Punkt des Erdballs aus sichtbar (gewesen). Davon abgesehen, hatten sie jedoch kaum etwas gemeinsam.
Nach dem Raketenangriff schien die Spinmembran gewissermaßen ins Stottern geraten zu sein und erholte sich erst, nachdem sie Stroboskopbilder des Himmels erzeugt hatte, vervielfältigte Monde, kreisende Sterne.
Das Flackern war anders.
Ich beobachtete es vom Balkon meiner Vorstadtwohnung aus. Ein warmer Septemberabend. Einige der Nachbarn hatten sich schon draußen aufgehalten, als es begann — jetzt kamen wir alle raus. Wie schnatternde Stare hockten wir auf unseren Brüstungen.
Der Himmel war hell. Nicht von Sternen, sondern von hauchdünnen goldenen Feuerfäden, die wie Blitze über den Horizont zuckten. Die Fäden bewegten und verschoben sich auf völlig unberechenbare Weise, erloschen, flammten neu auf. Es war faszinierend und furchterregend zugleich.
Und es war ein globales, kein lokal begrenztes Ereignis. Auf der Tageslichtseite des Planeten war es nur undeutlich sichtbar, vom Sonnenlicht verschluckt oder von Wolken verdeckt. In Nord- und Südamerika sowie in Westeuropa jedoch führte das Schauspiel am dunklen Himmel zu Panikausbrüchen. Immerhin erwarteten wir seit etlichen Jahren das Ende der Welt, und jetzt schien es so weit zu sein — zumindest sah es nach der Ouvertüre aus.
In dieser Nacht wurden allein in der Stadt, in der ich lebte, Hunderte von Selbstmorden oder Selbstmordversuchen, Dutzende von Morden oder Tötungen auf Verlangen verzeichnet. Offenbar gab es viele Menschen wie Molly Seagram, Menschen, die dem vorhergesagten Überkochen der Meere mit Hilfe von tödlichen Tabletten dieser oder jener Art entgehen wollten; die einen Vorrat angelegt hatten, der auch für Freunde und Familie reichte. Als der Himmel aufleuchtete, entschlossen sich viele von ihnen, die letzte Reise anzutreten. Etwas voreilig, wie sich herausstellte.
Das Schauspiel dauerte etwa acht Stunden. Am nächsten Morgen war ich im örtlichen Krankenhaus, um in der Notaufnahme auszuhelfen. Bis Mittag hatte ich sieben Fälle von Kohlenmonoxidvergiftung gesehen, Leute, die sich mit ihrem im Leerlauf laufenden Auto in der Garage eingeschlossen hatten. Bei den meisten konnte ich nur noch den Tod feststellen, und die Überlebenden waren kaum besser dran. Menschen, die ansonsten vollkommen gesund waren, denen man tagtäglich im Supermarkt begegnet sein mochte, würden den Rest ihres Lebens an Beatmungsgeräten zubringen, mit irreparablen Hirnschäden, Opfer eines fehlgeschlagenen Ausstiegsplans. Sehr unerfreulich. Doch die Schusswunden waren noch schlimmer. Ich konnte sie nicht behandeln, ohne an Wun Ngo Wen zu denken, wie er auf dem Highway in Florida gelegen hatte und das Blut aus den Trümmern seines Schädels gesprudelt war.
Acht Stunden. Dann war der Himmel wieder leer und die Sonne strahlte aus ihm heraus wie die Pointe eines schlechten Witzes.
Anderthalb Jahre später geschah das Gleiche noch einmal.
»Du siehst aus wie jemand, der seinen Glauben verloren hat«, sagte Hakkim einmal zu mir.
»Oder nie einen besessen hat«, erwiderte ich.
»Ich meine nicht den Glauben an Gott. Davon scheinst du vollkommen unbelastet zu sein. Der Glaube an irgendetwas anderes. Ich weiß nicht, an was.«
Das kam mir rätselhaft vor. Ich begriff es erst nach meinem nächsten Gespräch mit Jason.
Er rief mich zu Hause an (auf meinem regulären Handy, nicht dem verwaisten Gerät, das ich wie einen untauglichen Glücksbringer mit mir herumtrug). Ich sagte: »Hallo?«, und er sagte: »Du siehst dir das bestimmt gerade im Fernsehen an.«
»Was sehe ich mir an?«
»Stell einen der Nachrichtensender ein. Bist du allein?«
Die Antwort war ja. Freiwillig. Keine Molly Seagram, die das Ende aller Tage verkomplizierte.
Der Nachrichtensender zeigte ein mehrfarbiges Diagramm, dazu ein monotoner Offkommentar. Ich stellte ihn stumm. »Was sehe ich da, Jase?«
»Eine JPL-Pressekonferenz. Es geht um den vom Orbitalempfänger aufgenommenen Datensatz.«
Replikatorendaten, mit anderen Worten. »Und?«
»Wir sind im Geschäft.« Ich konnte sein Lächeln praktisch hören.
Der Satellit hatte multiple Radioquellen geortet, die Signale aus dem äußeren Sonnensystem sendeten. Was bedeutete, dass mehr als eine Replikatorenkolonie zur Reife gelangt war. Komplexe Daten, sagte Jason. Während die Replikatorenkolonien alterten, verlangsamte sich zwar ihr Wachstum, doch ihre Funktionen wurden raffinierter. Sie richteten sich nicht mehr nur nach der Sonne aus, um ihre Energiezufuhr zu sichern — sie analysierten das Sternenlicht und errechneten Planetenumlaufbahnen und verglichen die Ergebnisse mit den in ihren genetischen Code eingeschriebenen Mustern. Nicht weniger als ein Dutzend voll ausgereifte Kolonien hatten haargenau die Daten zurückgeschickt, für deren Sammlung sie konzipiert worden waren, vier binäre Datenströme, die Folgendes verkündeten:
1. Dies ist ein Planetensystem eines Sterns mit einer Sonnenmasse von 1,0.
2. Das System besitze acht große Planetenkörper (Pluto liegt unterhalb des wahrnehmbaren Massenlimits).
3. Zwei dieser Planeten sind optisch leer, umgeben von Spinmembranen.
4. Die berichterstattenden Replikatorenkolonien haben in den Reproduktionsmodus umgeschaltet, stoßen unspezifische Samenzellen ab und expedieren sie mittels Kometendampfexplosionen in Richtung benachbarter Sterne.
Dieselbe Botschaft, so Jason, sei an Benachbarte, weniger reife Kolonien geschickt worden, die in Reaktion darauf redundante Funktionen übersprangen und ihre Energie voll und ganz auf die eigene Fortpflanzung ausrichteten.
Mit anderen Worten: Wir hatten das äußere Sonnensystem erfolgreich mit Wuns quasibiologischen Systemen infiziert.
Welche nunmehr Sporen bildeten.
»Das verrät uns aber nichts über den Spin«, sagte ich.
»Natürlich nicht. Noch nicht. Doch dieses kleine Rinnsal an Information wird in nicht allzu langer Zeit zu einem reißenden Strom werden. Bald werden wir ein Spinverzeichnis aller Sterne im Umkreis erstellen können — und irgendwann der ganzen Galaxis. Auf dieser Grundlage sollten wir imstande sein zu deduzieren, woher die Hypothetischen kommen, wo sie überall Spins installiert haben und was mit Spinwelten geschieht, wenn ihre Sterne expandieren und ausbrennen.«
»Aber damit wäre noch nichts wieder in Ordnung gebracht, oder?«
Er seufzte, als hätte ich eine äußerst dumme Frage gestellt und ihn damit schwer enttäuscht. »Nein, vermutlich nicht. Aber ist wissen nicht besser als spekulieren? Vielleicht erfahren wir, dass wir dem Untergang geweiht sind, vielleicht erfahren wir aber auch, dass uns mehr Zeit bleibt, als wir denken. Denk dran, Tyler, wir arbeiten auch noch an anderen Fronten. Wir haben uns in die theoretische Physik aus Wuns Archiven vertieft. Wenn man die Spinmembran als ein Wurmloch darstellt, das ein Objekt umschließt, welches auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt…«
»Aber wir beschleunigen nicht. Wir bewegen uns nirgendwo hin.« Außer geradewegs in die Zukunft.
»Nein, aber wenn du die Rechnung durchführst, erhältst du Ergebnisse, die unseren Beobachtungen über den Spin entsprechen. Woraus wir Hinweise darauf gewinnen können, welche Kräfte die Hypothetischen manipulieren.«
»Aber zu welchem Zweck, Jase?«
»Es ist noch zu früh, das zu sagen. In jedem Fall glaube ich nicht an die Nutzlosigkeit von Wissen.«
»Auch wenn wir sterben?«
»Jeder muss mal sterben.«
»Ich meine, wir als Gattung.«
»Das bleibt abzuwarten. Was immer der Spin sein mag, er ist mehr als eine Art ausgefeiltes globales Euthanasieprogramm. Die Hypothetischen verfolgen irgendein Ziel.«
Vielleicht. Aber genau das, begriff ich jetzt, war der Glaube, der mich verlassen hatte. Der Glaube an die Große Rettung.
Alle Sorten und Geschmacksrichtungen der Großen Rettung. Etwa: in letzter Minute würden wir ein technisches Wundermittel ersinnen und uns in Sicherheit bringen. Oder: die Hypothetischen waren wohltätige Wesen, die den Planeten in ein Reich des Friedens verwandeln würden. Oder: Gott würde uns alle erretten, jedenfalls die wahren Gläubigen unter uns. Oder. Oder. Oder.
Die Große Rettung. Es war eine honigsüße Lüge. Ein Rettungsboot aus Papier. Es war nicht der Spin, der meine Generation so verkrüppelt hatte. Es war die Verlockung und der Preis der Großen Rettung.
Das Flackern kehrte ein Jahr später im Winter zurück, hielt achtundvierzig Stunden an und verschwand wieder. Viele von uns begannen es für eine Art Wetterleuchten zu halten, unvorhersehbar, aber im Grunde harmlos.
Im April gab es ein Flackern, das drei Tage dauerte und die Übertragung der Aerostatsignale störte. Dies rief eine neue (kleinere) Welle von Selbstmorden beziehungsweise Selbstmordversuchen hervor — in Panik gerieten die Leute weniger durch das, was sie am Himmel sahen, als wegen des Versagens ihrer Telefone und Fernsehgeräte.
Ich hatte aufgehört, die Nachrichtensendungen zu verfolgen, aber bestimmte Ereignisse konnte man nicht ignorieren: die militärischen Rückschläge in Nordafrika und Osteuropa, der von Anhängern eines Kults durchgeführte Staatsstreich in Simbabwe, der Massensuizid in Korea. Vertreter des apokalyptischen Islams erzielten in diesem Jahr große Erfolge bei Wahlen in Algerien und Ägypten. Ein philippinischer Kult, der sich dem Andenken an Wun Ngo Wen verpflichtet hatte — der als pastoralistischer Heiliger, als agrarischer Gandhi angesehen wurde —, hatte in Manila einen Generalstreik angezettelt.
Und ich bekam weitere Anrufe von Jason. Er schickte mir ein Telefon mit irgendeinem eingebauten Verschlüsselungsteil, das uns seiner Einschätzung nach einen »ganz guten Schutz gegen Stichwortjäger« bot, was immer das heißen mochte.
»Klingt ein bisschen paranoid«, sagte ich.
»Sinnvoll paranoid, glaube ich.«
Vielleicht, sofern wir Dinge besprechen wollten, die die nationale Sicherheit berührten. Das taten wir aber nicht, jedenfalls anfangs. Stattdessen fragte mich Jason über meine Arbeit aus, mein Leben, die Musik, die ich hörte. Ich begriff, dass er versuchte, eine Gesprächssituation herzustellen, wie sie vor zwanzig oder dreißig Jahren bestanden hatte — vor Perihelion, sogar noch vor dem Spin. Er habe seine Mutter besucht, berichtete er. Sie richte ihre Tage noch immer nach der Uhr und nach der Flasche aus. Im Haus habe sich nichts geändert, Carol hätte darauf bestanden. Das Personal halte alles sauber, alles an seinem Platz. Er sagte, das Große Haus sei wie eine Zeitkapsel — als wäre es in der ersten Nacht des Spins hermetisch abgeriegelt worden. Ein bisschen gespenstisch sei das.
Ich fragte ihn, ob Diane jemals anrufe.
»Diane hat schon vor Wuns Tod aufgehört, mit Carol zu sprechen. Nein, wir haben nichts von ihr gehört.«
Dann fragte ich nach dem Replikatorenprojekt. Man hatte in letzter Zeit nichts mehr darüber gehört.
»Das JPL hält die Ergebnisse unter Verschluss.«
Ich hörte die Traurigkeit in seiner Stimme. »So schlimm?«
»Es läuft nicht nur schlecht. Jedenfalls bis vor kurzem. Die Replikatoren haben alles getan, was Wun sich von ihnen erhoffte. Erstaunliche Dinge, Tyler, ich meine, wirklich verblüffend. Ich wünschte, ich könnte dir die Softwareverzeichnisse zeigen, die wir erstellt haben. Fast zweihunderttausend Sterne in einem Raum von Hunderten von Lichtjahren. Wir wissen inzwischen mehr über die Evolution der Sterne und Planeten, als ein Astronom aus E. D.s Generation sich je hätte vorstellen können.«
»Aber nichts über den Spin?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Und, was hast du erfahren?«
»Zum einen, dass wir nicht allein sind. Im erwähnten Raumvolumen haben wir drei optisch leere Planeten etwa von der Größe der Erde gefunden, in Umlaufbahnen, die nach Erdmaßstäben bewohnbar sind oder es in der Vergangenheit waren. Der nächstgelegene umkreist den Stern Ursa Majoris 47. Der am weitesten entfernte…«
»Die Details brauche ich nicht unbedingt.«
»Wenn wir uns das Alter der betroffenen Sterne ansehen, dann scheinen die Hypothetischen irgendwo aus der Richtung des galaktischen Mittelpunkts zu stammen. Es gibt noch andere Hinweise: Die Replikatoren haben ein paar Weiße Zwerge gefunden — ausgebrannte Sterne im Wesentlichen, aber Sterne, die vor ein paar Milliarden Jahren wie die Sonne ausgesehen haben müssen —, mit Planeten in diversen Umlaufbahnen, die die solare Ausdehnung niemals hätten überstehen dürfen.«
»Spinüberlebende?«
»Vielleicht.«
»Bewohnbare Planeten?«
»Wir haben keine rechte Möglichkeit, das herauszufinden. Aber sie sind nicht durch Spinmembrane geschützt, und ihre derzeitige stellare Umgebung ist nach unseren Maßstäben absolut lebensfeindlich.«
»Und was bedeutet das?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß das. Wir dachten, wir können ergiebigere Vergleiche anstellen, je weiter das Replikatorennetzwerk expandiert. Was wir mit den Replikatoren geschaffen haben, ist ein neurales Netzwerk von unvorstellbarer Ausdehnung. Sie reden mit sich selbst, wie Neuronen es auch tun, nur tun sie es über Jahrhunderte und Lichtjahre hinweg. Es ist einfach atemberaubend schön, Tylor. Ein Netzwerk, das größer ist als alles, was die Menschheit je geschaffen hat. Es sammelt Informationen, filtert sie, speichert sie, sendet sie an uns zurück…«
»Und was ist jetzt schiefgegangen?«
Es klang, als könnte er es nur unter Schmerzen aussprechen. »Vielleicht das Alter. Alles altert, sogar sorgfältigst geschützte genetische Codes. Könnte sein, dass sie sich über unsere Vorgaben hinaus entwickeln. Oder…«
»Ja, aber was ist passiert, Jase?«
»Die Daten werden weniger. Und wir erhalten fragmentarische, widersprüchliche Informationen von den Replikatoren, die am weitesten von der Erde entfernt sind. Das kann alles Mögliche bedeuten. Sollten sie sterben, liegt es vielleicht daran, dass ein Fehler im Quellcode wirksam wird. Aber einige der seit langem bestehenden Knotenpunkte geben ebenfalls den Geist auf.«
»Irgendetwas hat es auf sie abgesehen?«
»Das wäre eine etwas voreilige Annahme. Ich hätte eine andere Erklärung anzubieten: Als wir diese Dinger in die Oortsche Wolke geschossen haben, haben wir eine einfache interstellare Ökosphäre geschaffen — Eis, Staub und künstliches Leben. Aber was, wenn wir nicht die Ersten waren? Vielleicht ist die interstellare Ökosphäre ja gar nicht so einfach beschaffen.«
»Du meinst, es sind noch andere Arten von Replikatoren da draußen?«
»Könnte sein. Jedenfalls, wenn es so ist, konkurrieren sie um die Ressourcen, ja vielleicht benutzen sie sogar einander als Ressourcen. Wir dachten, wir würden unsere Replikatoren in einen leeren, sterilen Raum schicken. Aber vielleicht gibt es dort schon eine andere Spezies. Eine feindliche Spezies.«
»Du glaubst, sie werden gefressen?«
»Gut möglich.«
Das Flackern kehrte im Juni zurück, um nach knapp achtundvierzig Stunden wieder zu verschwinden.
Im August gab es sechsundfünfzig Stunden Flackern plus zeitweilige Telekommunikationsprobleme.
Als es Ende September wieder anfing, war niemand überrascht. Den ersten Abend verbrachte ich bei geschlossenen Jalousien, kümmerte mich nicht um den Himmel und sah mir einen Film an, den ich eine Woche zuvor heruntergeladen hatte. Einen alten Film, prä-Spin. Ich interessierte mich dabei weniger für die Handlung als für die Gesichter, die Gesichter von Menschen, die ihr Leben ohne Angst vor der Zukunft lebten. Menschen, die sich, jedenfalls hin und wieder, ohne Ironie oder Nostalgie über den Mond und die Sterne unterhielten.
Dann klingelte das Telefon.
Nicht mein reguläres Telefon und auch nicht das technisch aufgerüstete, das Jason mir geschickt hatte. Ich erkannte das aus drei Tönen zusammengesetzte Klingeln sofort wieder, obwohl ich es seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Es klang gedämpft — ich hatte das Handy in der Tasche einer Jacke gelassen, die im Flurschrank hing.
Es klingelte noch zweimal, bevor ich es hervorgekramt hatte und mich melden konnte.
»Hallo?« Ich rechnete damit, dass es eine falsche Verbindung war. Ich hoffte, das ich Dianes Stimme hören würde. Hoffte es und hatte zugleich Angst davor.
Doch es war eine Männerstimme am anderen Ende. Simons Stimme, wie ich mit etwas Verspätung erkannte.
»Tyler? Tyler Dupree? Bist du das?«
Ich hatte in meinem Leben genug Notrufe entgegengenommen, um die Besorgnis in seiner Stimme wahrzunehmen. »Ja, ich bin’s, Simon. Was ist los?«
»Ich dürfte gar nicht mit dir sprechen, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich kenne keine Ärzte hier in der Gegend. Und es geht ihr so schlecht. Sie ist krank, Tyler! Ich glaube nicht, dass es besser wird. Ich glaube, sie braucht…«
Dann wurde die Verbindung durch das Flackern unterbrochen und es war nur noch Rauschen in der Leitung.