4 x 109 n. Chr. Ein jeder landet irgendwo

Ich blieb auf dem Deck, während die Capetown Maru dem offenen Meer zustrebte.

Nicht weniger als ein Dutzend Containerschiffe flüchteten aus Teluk Bayur und kämpften um eine günstige Position vor der Hafenausfahrt. Die meisten davon kleine Handelsschiffe mit zweifelhafter Registrierung, vermutlich unterwegs nach Port Magellan, obwohl ihre Frachtbriefe etwas ganz anderes auswiesen — Schiffe, deren Besitzer und Kapitäne viel zu verlieren hatten, wenn sie einer eingehenden Überprüfung unterzogen würden.

Ich stand neben Jala, wir hielten uns an der Reling fest und beobachteten einen mit Rost gesprenkelten Küstenfrachter, der aus einer dichten Rauchbank heraussteuerte und dabei dem Heck der Capetown gefährlich nahe kam. Beide Schiffe gaben Alarm, und die Deckmannschaft der Capetown wandte sich besorgt nach achtern. Doch der Küstenfrachter drehte ab, bevor es zum Zusammenstoß kam.

Dann verließen wir den Schutz des Hafens, setzten uns der hohen See und den wogenden Wellen aus, und ich ging nach unten in den Aufenthaltsraum, zu Ina und Diane und den anderen Emigranten. En saß mit Ina und seinen Eltern an einem Klapptisch. Mit Rücksicht auf ihre Verletzung war Diane der einzige gepolsterte Sessel überlassen worden; inzwischen hatte die Wunde aufgehört zu bluten, und es war ihr gelungen, sich trockene Sachen anzuziehen.

Eine Stunde später kam Jala herein, lenkte mit einem lauten Ruf die Aufmerksamkeit auf sich und hielt eine Rede, die Ina mir anschließend folgendermaßen übersetzte: »Wenn man alles selbstgefällige Eigenlob weglässt, dann hat Jala nur gesagt, dass er auf die Brücke gegangen sei und mit dem Kapitän gesprochen habe. Alle Feuer an Deck seien gelöscht und unserer Fahrt stehe nichts mehr im Wege. Der Kapitän bittet um Entschuldigung für die raue See. Nach den Vorhersagen müssten wir bis zum Abend, spätestens morgen Früh aus dem Wetter heraus sein. In den nächsten paar Stunden allerdings…« In diesem Augenblick schnitt En, der neben Ina saß, ihr auf denkbar wirkungsvolle Weise das Wort ab: indem er sich zu ihr umdrehte und sich in ihren Schoß übergab.


Zwei Nächte später gingen Diane und ich aufs Deck hinauf, um uns die Sterne anzusehen. Nachts war es dort ruhiger als zu jeder anderen Zeit. Wir suchten uns einen Platz zwischen den Zehn-Meter-Containern und den Achterdeckaufbauten, wo wir reden konnten, ohne dass jemand mithörte. Die See war ruhig, die Luft angenehm warm, und über den Schornsteinen und dem Radar der Capetown wimmelte es von Sternen, als hätten sie sich in der Takelage verfangen.

»Schreibst du immer noch an deinen Erinnerungen?« Diane hatte die Sammlung von Speicherkarten gesehen, die ich in meinem Gepäck aufbewahrte, zusammen mit den digitalen und pharmazeutischen Schmuggelwaren, die wir aus Montreal mitgebracht hatten. Dazu diverses vollgekritzeltes Papier, Notizhefte, lose Seiten.

»Nicht mehr so oft. Es scheint nicht mehr so dringend — das Bedürfnis, alles aufzuschreiben.«

»Oder die Angst, zu vergessen.«

»Oder das.«

»Und fühlst du dich anders?« Sie lächelte.

Ich war ein neuer Vierter. Diane nicht. Ihre Wunde hatte sich inzwischen geschlossen, ohne mehr als einen Streifen gekräuselter Haut zu hinterlassen, der der Krümmung ihrer Hüfte folgte. Die Selbstheilungskräfte ihres Körpers waren mir immer noch ein bisschen unheimlich. Obwohl ich sie, so stand zu vermuten, jetzt auch besaß.

Ihre Frage war ironisch gemeint. Viele Male hatte ich Diane gefragt, ob sie sich als Vierte anders fühlen würde, und die eigentliche Frage lautete: Kam sie mir anders vor?

Eine befriedigende Antwort darauf hatte es nie gegeben. Natürlich war sie verändert nach ihrer »Wiederauferstehung« im Großen Haus — wer wäre das nicht gewesen? Sie hatte einen Ehemann und einen Glauben verloren und war aus langer Agonie in eine Welt erwacht, bei deren Anblick sich wohl selbst ein Buddha vor Verblüffung am Kopf gekratzt hätte.

»Der Übergang ist nur eine Tür«, sagte sie. »Eine Tür zu einem Zimmer, in dem du noch nie gewesen bist, allenfalls hast du von Zeit zu Zeit einen Blick hineingeworfen. Jetzt ist es das Zimmer, in dem du wohnst, es ist deins, es gehört dir. Es hat bestimmte Eigenschaften, die du nicht verändern kannst. Du kannst es nicht größer oder kleiner machen. Aber wie du es einrichtest, das ist dir überlassen.«

»Eine ziemlich philosophische Antwort.«

»Tut mir Leid, mehr kann ich nicht anbieten.« Sie wandte ihren Blick hinauf zu den Sternen. »Sieh mal, man kann den Bogen sehen.«

Wir bezeichnen ihn als »Bogen«, weil wir eine in gewissem Sinne kurzsichtige Spezies sind. Der große Torbogen ist in Wirklichkeit ein Ring, ein Kreis mit einem Durchmesser von anderthalbtausend Kilometern, doch nur die Hälfte davon erhebt sich über den Meeresspiegel. Der Rest ist unter Wasser oder in der Erdkruste vergraben, vielleicht — so ist verschiedentlich spekuliert worden — um das subozeanische Magma als Energiequelle anzuzapfen. Aber aus unserem Ameisenblickwinkel war es in der Tat ein Bogen, dessen Scheitelpunkt ein gutes Stück über die Atmosphäre hinausreichte, und selbst seine exponierte Hälfte war vollständig sichtbar nur auf Fotos, die aus dem Weltraum aufgenommen wurden, Bilder, die in der Regel bearbeitet waren, um bestimmte Details hervorzuheben. Wenn man einen Querschnitt des Ringmaterials — der Draht, der zum Reifen gebogen wird — hätte machen können, würde sich ein Rechteck mit einer Kantenlänge von einem halben respektive anderthalb Kilometern ergeben. Gewaltig, dennoch nur ein winziger Bruchteil des Raums, den er umschloss — und von weitem eben nicht immer leicht zu sehen.

Die Route der Capetown Maru verlief südlich des Ringes, parallel zu seinem Radius und fast genau unterhalb seines Scheitels. Die Sonne strahlte noch immer auf diesen Gipfelpunkt, der nicht mehr wie ein gekrümmtes U oder J erschien, sondern wie ein mildes Stirnrunzeln (ein Stirnrunzeln über das ganze Gesicht, wie Diane einmal sagte) hoch oben am Nordhimmel. Sterne rotierten an ihm vorbei wie phosphoreszierendes Plankton, das vom Bug eines Schiffes geteilt wird.

Diane lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. »Ich wünschte, Jason hätte das hier sehen können.«

»Ich glaube, er hat es gesehen. Nur nicht aus dieser Perspektive.«


Im Großen Haus stellten sich nach Jasons Tod drei Probleme.

Das dringlichste betraf Diane, deren körperlicher Zustand noch Tage nach der Verabreichung der marsianischen Substanz unverändert blieb. Sie schwebte am Rande des Komas und wurde periodisch von heftigem Fieber ergriffen, Phasen, in denen ihr der Puls am Hals schlug wie ein flatternder Insektenflügel. Wir hatten kaum etwas da, um sie zu versorgen, und ich hatte Mühe, sie dazu zu bewegen, wenigstens hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken Der einzige echte Fortschritt war das Atemgeräusch, das entspannter und weniger schleimhaltig klang — wenigstens ihre Lunge befand sich also auf dem Weg der Besserung.

Das zweite Problem teilten wir mit vielen anderen Familien im ganzen Land: einer von uns war gestorben und musste beerdigt werden. Eine Welle des Todes — Unfall, Selbstmord, Mord — war in den letzten Tagen über die Welt hinweggespült, und kein Land der Erde war darauf vorbereitet, mit den Folgen umzugehen, außer auf die denkbar grobschlächtigste Art und Weise: Im Radio wurden Sammelstellen für Massenbegräbnisse bekannt gegeben; Kühlfahrzeuge von Fleischfabriken waren requiriert worden; es gab auch eine Nummer, die man anrufen konnte, jetzt wo das Netz wieder funktionsfähig war — jedoch Carol wollte von all dem nichts hören. Als ich das Thema anschnitt, fuhr sie empört auf: »Das werde ich nicht tun, Tyler. Ich lasse nicht zu, dass Jason in eine Grube geworfen wird wie die Armen im Mittelalter.«

»Aber wir können ihn nicht…«

»Still. Ich habe immer noch den einen oder anderen Kontakt von früher. Lass mich ein paar Anrufe machen.«

Sie war mal eine angesehene Fachärztin gewesen und musste in den Zeiten vor dem Spin über ein großes Netzwerk von Kontakten verfügt haben, doch nach dreißig Jahren alkoholseliger Abgeschiedenheit — wen konnte sie da noch kennen? Trotzdem verbrachte sie einen ganzen Vormittag am Telefon, machte geänderte Nummern ausfindig, stellte sich neu vor, erklärte, lockte, bat inständig. Für mich klang das alles hoffnungslos. Aber fünf Stunden später fuhr ein Leichenwagen die Auffahrt hinauf, zwei erschöpfte, doch unbeirrbar freundliche und kompetente Männer kamen herein, legten Jasons Leichnam auf eine Rollbahre und beförderten ihn — zum letzten Mal — aus dem Großen Haus.

Den Rest des Tages saß Carol im Obergeschoss, hielt Dianes Hand und sang Lieder, die diese nicht hören konnte. Am Abend dann genehmigte sie sich den ersten Drink seit dem Morgen, an dem die rote Sonne aufgegangen war — eine »Instandhaltungsdosis«, so nannte sie es.

Unser drittes Problem war E. D. Lawton.


E. D. musste darüber informiert werden, dass sein Sohn gestorben war, und Carol wappnete sich dafür, auch dieser Pflicht Genüge zu tun. Sie gestand, dass sie seit einigen Jahren nur noch über Anwälte mit E. D. gesprochen und er ihr immer Angst gemacht habe, jedenfalls wenn sie nüchtern war: Er war groß, herausfordernd, einschüchternd — Carol war zart, ausweichend, schüchtern. Ihre Trauer jedoch hatte die Gewichte ein wenig verschoben.

Es dauerte Stunden, doch irgendwann gelang es ihr, ihn zu erreichen — er war in Washington, eine kurze Autofahrt entfernt — und ins Bild zu setzen. Über die Todesursache äußerte sie sich nur vage, sie erzählte ihm, Jason sei mit einer Lungenentzündung nach Hause gekommen und sein Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, kurz nachdem der Strom ausgefallen und die Welt aus den Fugen geraten war — kein Telefon, kein Notfalldienst, keine Hoffnung.

Ich fragte sie, wie E. D. die Nachricht aufgenommen habe.

Sie zuckte mit den Achseln. »Zuerst hat er gar nichts gesagt, Schweigen ist E. D.s Art, Schmerz auszudrücken. Sein Sohn ist gestorben. Das mag ihn nicht unbedingt überrascht haben, angesichts dessen, was in den letzten Tagen geschehen ist, aber es hat ihm wehgetan — ich glaube, es hat ihm unsagbar wehgetan.«

»Haben Sie ihm gesagt, dass Diane hier ist?«

»Ich hielt es für klüger, es nicht zu tun.« Sie sah mich an. »Ich habe ihm auch nicht gesagt, dass du hier bist. Ich weiß, dass Jason und E. D. Streit hatten. Jason ist nach Hause gekommen, um vor irgendetwas zu fliehen, was bei Perihelion vorging, etwas, das ihm Angst gemacht hat. Und ich nehme an, dass es etwas mit dem marsianischen Medikament zu tun hat. Nein, Tyler, du brauchst es mir nicht zu erklären — ich will es nicht hören, würde es vermutlich auch gar nicht verstehen. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn E. D. hier nicht ins Haus einfallen und versuchen würde, die Kontrolle zu übernehmen.«

»Er hat sich nicht nach ihr erkundigt?«

»Nein, nicht nach Diane. Eines allerdings war merkwürdig: Er hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Jason… dass Jasons Leichnam konserviert wird. Er hat eine Menge Fragen dazu gestellt. Ich habe ihm gesagt, ich hätte Vorbereitungen getroffen, es werde eine Beerdigung geben und ich würde ihn verständigen. Aber dabei wollte er es nicht belassen. Er will, dass eine Autopsie vorgenommen wird. Ich habe mich stur gestellt. Warum sollte er eine Autopsie wollen, Tyler?«

»Ich weiß es nicht.«

Aber ich machte mich daran, es herauszufinden. Ich ging in Jasons Zimmer, wo inzwischen die Laken von seinem Bett gezogen worden waren. Ich öffnete das Fenster, setzte mich in den Sessel neben der Kommode und sah mir an, was er hinterlassen hatte.

Jason hatte mich gebeten, seine Erkenntnisse über die Natur der Hypothetischen und ihre Manipulation der Erde aufzuzeichnen, jeweils eine Kopie dieser Aufzeichnung in etwa ein Dutzend wattierte, bereits adressierte und frankierte Umschläge zu stecken und diese zu verschicken, sobald die Post ihren Dienst wieder aufgenommen hatte. Zweifellos hatte er, als er wenige Tage vor Ende des Spins im Großen Haus eintraf, nicht damit gerechnet, einen solch atemberaubenden Monolog zu produzieren. Irgendetwas anderes hatte ihn verfolgt.

Ich ging die Umschläge durch. Sie waren, in Jasons Handschrift, an Personen adressiert, deren Namen ich nicht kannte. Nein, den Namen auf einem der Umschläge erkannte ich. Es war mein Name.


Lieber Tyler,

ich weiß, ich habe dir in der Vergangenheit manch unzumutbare Last auferlegt. Und nun bin ich, wie ich fürchte, im Begriff, dir eine weitere aufzuerlegen — und diesmal steht erheblich mehr auf dem Spiel. Es tut mir Leid, falls dies allzu abrupt wirkt, aber ich bin in Eile, aus Gründen, die sich dir bald erschließen werden.

Die jüngsten Himmelserscheinungen, die die Medien als »Flackern« bezeichnen, haben bei der Regierung Lomax die Alarmglocken läuten lassen. Das Gleiche gilt für einige andere Ereignisse, die weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben. Nur ein Beispiel: Nach dem Tod von Wun Ngo Wen sind Gewebeproben seiner Organe im Zentrum für Tierkrankheiten auf Plum Island untersucht worden, derselben Einrichtung, in der er nach seiner Ankunft auf der Erde in Quarantäne gehalten wurde. So subtil die marsianische Biotechnologie sein mag — die moderne Forensik ist hartnäckig. Dabei ist deutlich geworden, dass Wuns Physiologie, insbesondere sein Nervensystem, auf weitaus radikalere Weise verändert worden war, als die in seinen Archiven beschriebene Prozedur des »Vierten Alters« vorsieht. Aus diesem und anderen Gründen haben Lomax und seine Leute E. D. aus seinem unfreiwilligen Ruhestand geholt und sind jetzt geneigt, seinen Vermutungen über Wuns Motive Gehör zu schenken. E. D. hat die Gelegenheit genutzt, neuen Anspruch auf Perihelion zu erheben, und er verliert keine Zeit, um aus der Paranoia im Weißen Haus Kapital zu schlagen.

Für welches Vorgehen hat sich die Administration entschieden? Für das plumpe. Lomax (oder sein Beraterstab) hat den Plan gefasst, eine Razzia bei Perihelion durchzuführen und alles zu beschlagnahmen, was uns aus Wuns Besitz zur Verfügung stand, ebenso wie unsere sämtlichen Aufzeichnungen und Arbeitsnotizen.

Noch sieht E. D. den Zusammenhang zwischen meiner Genesung von der AMS und Wuns Pharmazeutika nicht, oder er behält seine Erkenntnis für sich. Jedenfalls möchte ich das glauben. Denn sollte ich in die Hände der Sicherheitsdienste fallen, würden sie als Erstes eine Blutanalyse durchführen und mich dann zu einem wissenschafllichen Studienobjekt machen, vermutlich in Wuns alter Zelle auf Plum Island. Und ich glaube nicht, dass E. D. es dazu wirklich kommen lassen will. So sehr er es mir auch verübeln mag, dass ich ihm Perihelion »gestohlen« und mit Wun Ngo Wen gemeinsame Sache gemacht habe — er ist immer noch mein Vater.

Aber keine Sorge. Auch wenn E. D. wieder mitmischt im Weißen Haus — ich habe ebenfalls Verbündete. Keine mit großer Macht ausgestatteten Menschen — wenn auch einige von ihnen durchaus so manches Gewicht auf die Waagschale werfen können —, sondern intelligente, anständige Leute, die gewillt sind, das Schicksal der Menschheit in einem etwas weiteren Rahmen zu begreifen. Dank ihrer wurde ich rechtzeitig vor dem Zugriff auf Perihelion gewarnt. Ich bin den Häschern durch die Finger geschlüpft. Jetzt bin auf der Flucht.

Du, Tyler, stehst lediglich unter dem Verdacht der Beihilfe — obwohl auch du in die gleiche Situation geraten könntest wie ich. Es tut mir Leid. Ich weiß, ich trage Verantwortung dafür, dass du dich in dieser Lage befindest. Eines Tages werde ich dich persönlich um Verzeihung bitten. Vorläufig aber kann ich nicht mehr anbieten als einen guten Rat.

Die Datenträger, die ich dir bei deinem Abschied von Perihelion übergeben habe, enthalten streng geheime Auszüge aus Wun Ngo Wens Archiven. Kann sein, dass du sie verbrannt, vergraben oder in den Pazifik geworfen hast. Egal. Lange Jahre in der Raumfahrtplanung haben mich die Vorzüge der Redundanz gelehrt. Ich habe Wuns Informationen an Dutzende von Personen in diesem Land und in aller Welt versandt. Noch ist davon nichts ins Internet gestellt worden — so verantwortungslos ist keiner —, aber sie kursieren. Dies ist ohne Zweifel eine zutiefst unpatriotische, kriminelle Handlung. Falls ich gefasst werde, wird man mich wegen Hochverrat anklagen.

Ich bin aber nicht der Auffassung, dass Informationen dieser Art (sie enthalten etwa Beschreibungen menschlicher Modifikationen, die unter anderem —, und ich sollte es wissen — schwere Krankheiten heilen können) unter Verschluss gehalten werden sollten, selbst wenn ihre Freigabe Probleme aufwirft. Lomax und sein handzahmer Kongress sind da anderer Meinung. Also verbreite ich die letzten Fragmente der Archive und mache mich aus dem Staub. Tauche unter. Du wirst vielleicht das Gleiche tun wollen. Vielleicht wirst du es sogar müssen. Jeder, der zur alten Perihelion-Truppe gehörte, jeder, der mir nahe stand, kann sich früher oder später des besonderen Interesses der Bundesbehörden sicher sein.

Oder du willst — im Gegenteil — bei der nächsten FBI-Dienststelle vorsprechen und den Inhalt dieses Umschlags übergeben. Falls du das für das Beste, für das Richtige, hältst, folge deinem Gewissen — ich nehme es dir nicht übel, will allerdings auch nicht für das Ergebnis garantieren. Meine Erfahrungen mit der Regierung Lomax legen die Vermutung nahe, dass die Wahrheit in diesem Fall eher nicht befreiend sein wird.

Wie auch immer, ich bedaure, dich in diese schwierige Lage gebracht zu haben. Es ist nicht fair. Es ist zu viel verlangt von einem Freund, und ich war stets stolz darauf, dich meinen Freund nennen zu dürfen.

Vielleicht hatte E. D. in einem Punkt Recht: Unsere Generation hat sich dreißig Jahre lang abgemüht, das wiederzuerlangen, was der Spin uns in jener Oktobernacht gestohlen hat. Aber es gelingt uns nicht. Es gibt in diesem Universum nichts, an dem wir uns festhalten können, und es nützt auch nichts, es dennoch zu versuchen. Wenn ich eines gelernt habe aus meiner »Viertheit«, dann das. Wir sind so vergänglich wie Regentropfen. Wir fallen alle, und ein jeder landet irgendwo.

Fall du, wie du magst, Tyler. Mach von den beigefügten Dokumenten Gebrauch, wenn es erforderlich ist. Sie waren teuer, aber sie sind absolut verlässlich. (Es ist gut, Freunde in hohen Ämtern zu haben!)


Bei den »beigefügten Dokumenten« handelte es sich im Wesentlichen um eine Garnitur von Ersatzidentitäten: Pässe, ID-Karten des Heimatschutzministeriums, Sozialversicherungsnummern, sogar medizinische Diplome, alle mit meiner Personenbeschreibung, keines davon mit meinem richtigen Namen.


Dianes Gesundung schritt weiter voran. Der Puls stabilisierte sich, die Lunge wurde frei, nur das Fieber hielt sich noch. Das marsianische Medikament verrichtete sein Werk, regenerierte ihren Körper bis ins kleinste Detail, bearbeitete und verbesserte ihn auf subtilste Weise.

Und sie begann Fragen zu stellen — über die Sonne, über Pastor Dan, über die Reise von Arizona zum Großen Haus. Wegen der Fieberschübe blieben die Antworten, die ich ihr gab, nicht immer haften. Mehr als einmal fragte sie mich, was mit Simon sei. In klaren Momenten erzählte ich ihr von dem roten Kalb und der Rückkehr der Sterne; wenn sie groggy war, sagte ich nur, dass Simon »woanders« sei und ich mich noch eine Weile um sie kümmern würde. Keine dieser Antworten — weder die wahren noch die halb wahren — schienen sie zu befriedigen.

An manchen Tagen war sie völlig teilnahmslos, saß mit dem Gesicht zum Fenster, sah zu, wie das Sonnenlicht über die Berge und Täler der Bettdecke strich. An anderen ergriff sie eine fiebrige Unruhe. Eines Nachmittags verlangte sie Papier und Kugelschreiber — doch als ich ihr das Gewünschte brachte, schrieb sie nur einen einzigen Satz: Bin ich nicht meines Bruders Hüterin, den allerdings immer wieder, bis sie einen Krampf in den Fingern bekam.

»Ich hab ihr von Jason erzählt«, gestand Carol, als ich ihr das vollgeschriebene Blatt zeigte.

»Sind Sie sicher, dass das klug war?«

»Früher oder später musste sie es erfahren. Sie wird darüber hinwegkommen, Tyler. Keine Sorge. Diane wird damit fertig. Diane war schon immer stark.«


Am Morgen des Tages von Jasons Beerdigung machte ich die Umschläge fertig und warf sie auf dem Weg in die örtliche Kapelle, die Carol für die Trauerfeier reserviert hatte, in einen aufs Geratewohl ausgesuchten Briefkasten. Die Päckchen mit der Aufnahme seiner »letzten Worte« würden vielleicht ein paar Tage auf Beförderung warten müssen — der Postbetrieb kam erst allmählich wieder in Gang —, doch nach meiner Einschätzung waren sie dort sicherer als im Großen Haus.

Die »Kapelle« war ein konfessionsfreies Bestattungsinstitut an einer der Ausfallsstraßen, auf der es recht lebhaft zuging, seit die Reisebeschränkungen aufgehoben waren. Zwar hatte Jason für aufwändige Beerdigungen immer nur die Geringschätzung des Rationalisten übrig gehabt, aber Carols Auffassung von Würde verlangte nach einer Zeremonie, selbst wenn sie nur bescheiden, pro forma war. Es war ihr gelungen, eine kleine Trauergemeinde zusammenzutrommeln, größtenteils langjährige Nachbarn, die Jason als Kind gekannt und seine Karriere bruchstückhaft im Fernsehen und in der Zeitung verfolgt hatten. Es war sein verblassender Prominentenstatus, der die Bankreihen füllte.

Ich hielt eine kurze Rede (Diane hätte es natürlich besser gemacht, aber sie war noch zu krank, um teilzunehmen). Jase, sagte ich, habe sein Leben dem Streben nach Erkenntnis verschrieben, nicht hochmütig, sondern in Demut — es sei seine tiefe Überzeugung gewesen, dass Wissen nicht geschaffen, sondern entdeckt werde; es könne nicht Eigentum sein, sondern müsse weitergegeben werden, von Hand zu Hand, von Generation zu Generation. Jason habe sich in den Prozess dieser Weitergabe eingegliedert und nach wie vor sei er Teil davon, auch nach seinem Tod lebe er fort im großen Netzwerk des Wissens.

E. D. betrat die Kapelle, während ich noch auf der Kanzel stand. Er war schon halb den Gang hinunter, als er mich erkannte. Lange starrte er mich an, bevor er sich auf der nächsten freien Bank niederließ.

Er war noch hagerer, als ich ihn in Erinnerung hatte, und die verbliebenen Haare hatte er sich so kurz scheren lassen, dass sie fast unsichtbar waren. Doch er trat noch immer wie ein Mann von Macht und Einfluss auf. Er trug einen wie angegossen sitzenden Anzug. Er verschränkte die Arme und inspizierte mit herrschaftlichem Gebaren den Raum, um festzustellen, wer anwesend war. Schließlich blieb sein Blick bei Carol hängen.

Als die Zeremonie schließlich zu Ende war, erhob sich Carol und nahm tapfer die Beileidsbekundungen der in Reih und Glied antretenden und dann nach draußen strebenden Nachbarn entgegen.

Sie hatte während der letzten Tage ausgiebig geweint und zeigte sich nun entschlossen tränenlos, beinahe distanziert. E. D. trat auf sie zu, als der letzte Gast gegangen war. Sie versteifte sich, wie eine Katze, die die Anwesenheit eines überlegenen Feindes spürt.

»Carol«, sagte er und warf mir einen säuerlichen Blick zu. »Tyler.«

»Unser Sohn ist tot«, erwiderte sie.

»Deswegen bin ich hier.«

»Ich hoffe, du bist hier, um zu trauern…«

»Selbstverständlich.«

« … und nicht aus anderen Gründen. Er ist nämlich nach Hause gekommen, um vor dir zu fliehen. Ich nehme an, du weißt das.«

»Ich weiß mehr darüber, als du dir vorstellen kannst. Jason war verwirrt…«

»Jason war so manches, E. D., aber verwirrt war er nicht. Ich war bei ihm, als er starb.«

»Tatsächlich? Das ist interessant. Ich war bei ihm, als er noch lebte.«

Carol atmete heftig ein und wandte den Kopf zur Seite, als habe sie eine Ohrfeige erhalten.

»Ich war derjenige, der Jason aufgezogen hat, das weißt du so gut wie ich. Vielleicht hat dir das Leben, das ich ihm verschafft habe, nicht gefallen, jedenfalls habe ich ihm einen Weg gewiesen und ihm die Mittel verschafft, dieses Leben zu führen.«

»Ich habe ihn geboren.«

»Das ist eine physiologische Funktion, keine moralische. Alles, was Jason je besessen hat, hat er von mir. Alles, was er gelernt hat, habe ich ihn gelehrt.«

»Zum Guten und zum Schlechten.«

»Und jetzt willst du mir Vorwürfe machen, nur weil ich ein paar praktische Anliegen habe.«

»Was für praktische Anliegen?«

»Ich spreche von der Autopsie.«

»Ja, das hast du schon am Telefon gesagt. Aber das ist würdelos und überhaupt auch unmöglich.«

»Ich hatte gehofft, du würdest das ernst nehmen — offenbar ist das nicht der Fall. Aber ich brauche dein Einverständnis gar nicht. Draußen vor dem Haus warten Männer, die Anspruch auf den Leichnam erheben werden, unter Vorlage einer gerichtlichen Anordnung gemäß dem Gesetz über Notfallmaßnahmen.«

Sie machte einen Schritt von ihm weg. »So viel Macht hast du?«

»Wir haben gar keine Wahl in dieser Angelegenheit, weder du noch ich. Es wird so verfahren, ob es uns gefällt oder nicht. Und es ist doch im Grunde nur eine Formalität, es entsteht kein Schaden. Also lass uns um Gottes willen ein bisschen Würde und gegenseitigen Respekt wahren. Überlass mir den Leichnam meines Sohnes.«

»Das kann ich nicht.«

»Carol…«

»Ich kann dir seinen Leichnam nicht geben.«

»Du hörst mir nicht zu. Du hast gar keine Wahl.«

»Nein, tut mir Leid, du hörst mir nicht zu. Also noch mal, E. D., ich kann dir seinen Leichnam nicht geben.«

Er machte den Mund auf und wieder zu. Seine Augen weiteten sich. »Was hast du getan?«

»Es gibt keinen Leichnam. Nicht mehr.« Ihre Lippen schürzten sich zu einem verschlagenen, bitteren Lächeln. »Aber seine Asche kannst du haben. Wenn du darauf bestehst.«


Ich fuhr Carol zum Großen Haus zurück, wo Emil Hardy — der sein Nachrichtenblättchen nicht mehr produzierte, seit es wieder Strom gab — Diane Gesellschaft geleistet hatte. »Wir haben uns über die alten Zeiten hier in der Nachbarschaft unterhalten«, sagte Hardy beim Abschied. »Hab die Kinder früher öfter beim Fahrradfahren beobachtet. Ach, ist das lange her. Diese Hautgeschichte, die sie hat…«

»Ist nicht ansteckend«, unterbrach ihn Carol. »Keine Sorge.«

»Allerdings ungewöhnlich.«

»Ja, ungewöhnlich ist sie. Vielen, vielen Dank, Emil.«

»Ashley und ich würden uns freuen, wenn Sie demnächst mal zum Abendessen rüberkämen.«

»Das klingt wunderbar. Richten Sie ihr meinen Dank aus.« Sie schloss die Tür und wandte sich mir zu. »Jetzt bräuchte ich einen Drink. Aber eins nach dem anderen. E. D. weiß, dass du hier bist. Du musst also woanders hin und du musst Diane mitnehmen. Kannst du das? Kannst du sie an einen sicheren Ort bringen? Wo E. D. sie nicht findet?«

»Natürlich. Aber was ist mit Ihnen?«

»Ich bin nicht in Gefahr. E. D. schickt vielleicht irgendwelche Leute her, um nach dem zu suchen, was Jason ihm seiner Meinung nach gestohlen hat. Aber er wird nichts finden — solange du nur gründlich genug bist, Tyler —, und das Haus kann er mir nicht wegnehmen. E. D. und ich — wir haben unseren Waffenstillstand schon vor langer Zeit unterzeichnet, unsere Scharmützel sind trivial. Aber dir kann er etwas anhaben, und er kann auch Diane schaden, selbst wenn es nicht in seiner Absicht liegt.«

»Das werde ich nicht zulassen.«

»Dann pack deine Sachen zusammen. Du hast vielleicht nicht mehr viel Zeit.«


Am Tag, bevor die Capetown Maru den Torbogen queren sollte, ging ich aufs Deck, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Der Bogen war weitgehend unsichtbar, beide Enden hinter dem Horizont verborgen, doch in der letzten halben Stunde vor der Dämmerung war das Scheitelstück eine messerscharfe und sanft glühende Linie am Himmel, fast direkt über unseren Köpfen. Am Vormittag war es dann hinter einem Schleier aus hohen Zirruswolken verschwunden, doch wir wiegten uns in dem Bewusstsein, dass es trotzdem da war.

Die Aussicht auf den Transit machte alle nervös — nicht nur die Passagiere, auch die Crew. Zwar gingen sie den üblichen Tätigkeiten nach, die das Schiff ihnen abverlangte, reparierten, was zu reparieren war, schmirgelten und malten, doch in ihrem Arbeitsrhythmus war etwas Hektisches, Eiliges, das am Vortag noch nicht da gewesen war. Jala kam mit einem Plastikstuhl aufs Deck und setzte sich zu mir, vom Wind geschützt durch die über zehn Meter langen Container, mit einem schmalen Ausblick aufs Meer.

»Das ist meine letzte Fahrt auf die andere Seite«, sagte er. Den Temperaturen angepasst trug er ein weites gelbes Hemd und Jeans, das Hemd hatte er aufgeknöpft, um seine Brust in die Sonne zu halten. Er holte eine Dose Bier aus einer Kühlbox und öffnete sie. All dies, sein gesamtes Verhalten, wies ihn als säkularisierten Mann aus, als Geschäftsmann, der der Scharia der Muslime und dem Adat der Minang gleichermaßen geringschätzig begegnete. »Diesmal gibt es keine Rückkehr.« Er hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen — buchstäblich, sollte er etwas mit den Unruhen in Teluk Bayur zu tun gehabt haben (der Ausbruch des Feuers war zu einem für unsere Flucht verdächtig günstigen Zeitpunkt erfolgt, auch wenn wir davon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurden). Jahrelang hatte er Emigrantenschmuggel betrieben, weitaus lukrativer als seine legalen Import/Export-Geschäfte. Mit Menschen ließe sich mehr Geld verdienen als mit Palmöl, sagte er. Doch die Konkurrenz aus Indien und Vietnam nehme zu und das politische Klima habe sich verschlechtert — lieber jetzt in den Ruhestand nach Port Magellan gehen, als den Rest des Lebens in einem Gefängnis der New Reformasi verbringen.

»Sie haben den Transit schon einmal mitgemacht?«

»Zweimal.«

»War es schwierig?«

Er zuckte mit den Achseln. »Glauben Sie nicht alles, was Sie hören.«

Bis zum Mittag waren etliche der übrigen Passagiere aufs Deck gekommen. Neben den Minangkabau-Dörflern war eine bunte Mischung aus Achinesen, Malaien und Thai an Bord, insgesamt waren wir etwa hundert Leute, zu viele für die vorhandenen Kabinen, doch im Laderaum waren drei Aluminiumcontainer als Schlafquartiere präpariert worden. Natürlich mit ausreichender Belüftung — dies war nicht der grauenhafte Menschenschmuggel, der einst Flüchtlinge nach Europa und Nordamerika gebracht hatte. Viele von denen, die den Bogen Tag für Tag querten, waren gewissermaßen Überlauf aus den von der UNO initiierten Umsiedlungsprogrammen und oft durchaus zahlungskräftig. Wir wurden mit Respekt behandelt von einer Mannschaft, die zum Teil schon Monate in Port Magellan zugebracht hatte und die Reize und Fallgruben des Ortes aus eigener Anschauung kannte.

Einer der Matrosen hatte einen Teil des Hauptdecks mit Netzen abgeteilt, damit eine Gruppe von Kindern Fußball spielen konnte. Hin und wieder flog der Ball über die Netze hinweg, oft genau in Jalas Schoß, was ihn jedes Mal verärgerte. Er war ein bisschen reizbar heute.

Ich fragte ihn, wann das Schiff den Transit beginnen würde.

»Bei dieser Geschwindigkeit, in ungefähr zwölf Stunden.«

»Unser letzter Tag auf Erden.«

»Machen Sie keine Witze.«

»Wörtlich gesprochen.«

»Und reden Sie nicht so laut — Seeleute sind abergläubisch.«

»Was werden Sie in Port Magellan machen?«

Er hob die Augenbrauen. »Was werde ich machen? Schöne Frauen vögeln. Und vielleicht auch ein paar hässliche. Was sonst?«

Der Fußball flog einmal mehr übers Netz. Diesmal hob ihn Jala auf und hielt ihn fest. »Verdammt noch mal, ich habe euch gewarnt. Das Spiel ist vorbei!«

Sofort drängte ein Dutzend Kinder gegen das Netz und erhob kreischend Protest. En war es schließlich, der den Mut aufbrachte, zu uns zu kommen und Jala direkt gegenüberzutreten. »Gib ihn bitte zurück«, sagte er.

»Du willst ihn wiederhaben?« Jala stand auf, herrisch und auf schwer nachvollziehbare Weise wütend. »Du willst ihn haben? Dann hol ihn dir.« Er kickte den Ball aus der Hand hoch in die Luft, ein weiter Torwartabschlag, der ihn über die Reling hinweg in die blaugrüne Unendlichkeit des Indischen Ozeans beförderte.

Erst war En verblüfft, dann machte sich Zorn auf seinem Gesicht breit. Er sagte etwas Leises, verbittert Klingendes auf Minang.

Jala lief rot an und schlug den Jungen mit der flachen Hand ins Gesicht, so heftig, dass Ens schwere Brille über das Deck polterte. »Entschuldige dich, Rotzbengel.«

En ließ sich auf ein Knie nieder, die Augen zusammengepresst. Schluchzend holte er einige Male Luft. Dann stand er wieder auf und sammelte seine Brille ein. Etwas zitternd setzte er sie auf und kam zu uns zurück mit einer, wie ich fand, erstaunlichen Würde. Er blieb genau vor Jala stehen. »Nein«, sagte er leise. »Du musst dich entschuldigen.«

Jala schnappte nach Luft, fluchte und hob erneut die Hand.

Ich packte sein Handgelenk mitten im Schwung.

Er sah mich verdutzt an. »Was soll das? Lassen Sie los.«

Er versuchte mir die Hand zu entreißen, doch ich hielt sie fest. »Schlagen Sie ihn nicht noch mal.«

»Ich mache, was ich will!«

»Natürlich. Aber schlagen Sie ihn nicht noch mal.«

»Sie — nach allem, was ich für Sie getan habe…!« Er blickte mir ins Gesicht. Und stockte.

Ich weiß nicht, was er in meinen Augen sah. Ich weiß nicht mal genau, was ich in diesem Augenblick empfand. Was immer es war, es schien ihn zu verwirren. Sein Arm erschlaffte. »Verrückter Scheißamerikaner«, sagte er kleinlaut. »Ich gehe in die Kantine.« Und an die kleine Ansammlung von Kindern und Matrosen, die uns mittlerweile umringte, gewandt, fügte er hinzu: »Wo ich hoffentlich ein bisschen Ruhe und Respekt finde!« Er stakste davon.

En starrte mich mit offenem Mund an.

»Tut mir Leid, das alles«, sagte ich.

Er nickte.

»Den Ball kann ich euch allerdings nicht wiederholen.«

Er berührte seine Wange an der Stelle, wo Jala ihn erwischt hatte. »Nicht so schlimm.«

Später beim Essen, wenige Stunden vor der Querung, erzählte ich Diane von dem Vorfall. »Ich habe völlig ohne Überlegung gehandelt. Es schien einfach… naheliegend. Wie ein Reflex. Hat das etwas mit dem Viertentum zu tun?«

»Mag sein. Der Impuls, ein Opfer zu beschützen, zumal wenn es ein Kind ist, und es spontan, ohne Nachdenken zu tun — diesen Drang hab ich auch schon verspürt. Ich vermute, das ist etwas, das die Marsianer in unsere neurale Neukonstruktion eingeschrieben haben — vorausgesetzt, dass sie wirklich in der Lage sind, Gefühle derart fein zu steuern. Ich wünschte, wir hätten Wun Ngo Wen hier, damit er es uns erklärt. Oder Jason. Fühlte es sich erzwungen an?«

»Nein.«

»Oder falsch, unangemessen?«

»Nein. Ich glaube, es war genau das Richtige.«

»Aber vor der Behandlung hättest du so etwas nicht getan?«

»Vielleicht schon. Oder ich hätte es gewollt. Hätte aber wahrscheinlich so lange überlegt, bis es zu spät gewesen wäre.«

»Also bist du froh darüber.«

Nein. Einfach nur überrascht. Es sei gleichermaßen Ich wie marsianische Biotechnologie im Spiel gewesen, sagte Diane, und ich war geneigt, ihr zuzustimmen. Wie bei jedem anderen Übergang — von Kindheit zu Jugend, von Jugend zu Erwachsensein — bekam man es mit neuen Verpflichtungen zu tun, neuen Möglichkeiten, neuen Zweifeln.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren war ich mir selbst wieder fremd.


Ich war fast fertig mit Packen, als Carol, ein wenig betrunken, die Treppe herunterkam, einen Schuhkarton im Arm. Der Karton trug die Aufschrift ANDENKEN (AUSBILDUNG). »Das solltest du an dich nehmen«, sagte sie. »Es gehörte deiner Mutter.«

»Wenn es Ihnen etwas bedeutet, behalten Sie’s ruhig.« »Danke, aber was ich daraus haben wollte, habe ich mir bereits genommen.«

Ich öffnete den Deckel und warf einen Blick auf den Inhalt. »Die Briefe.« Die anonymen Briefe, adressiert an Belinda Sutton, wie meine Mutter mit Mädchennamen hieß.

»Ja. Dann hast du sie also gesehen. Hast du sie mal gelesen?«

»Nein, nicht richtig. Gerade mal genug, um zu sehen, dass es Liebesbriefe waren.«

»O Gott, das klingt so süßlich. Ich würde sie eher als Huldigungen ansehen. Sie sind eigentlich ziemlich keusch, wenn man genau liest. Nicht unterschrieben. Deine Mutter hat sie bekommen, als wir noch auf der Universität waren. Sie ging damals mit deinem Vater aus, und dem konnte sie sie schwerlich zeigen — er hat ihr ja selbst Briefe geschrieben. Also hat sie sie mir gezeigt.«

»Sie hat nie herausgefunden, von wem sie kamen?«

»Nein, nie.«

»Sie muss doch neugierig gewesen sein.«

»Natürlich. Aber sie war inzwischen mit Marcus verlobt. Sie hatte ihn kennen gelernt, als er und E. D. ihr erstes Unternehmen gründeten — die Entwicklung und Fertigung von Höhenballons —, damals, als die Aerostaten noch ›Blauer Himmel‹-Technologie waren, wie Marcus es nannte, ein bisschen verrückt, ein bisschen idealistisch. Belinda nannte die beiden die Zeppelin-Brüder. Also waren wir wohl die Zeppelin-Schwestern, Belinda und ich. Denn zu der Zeit begann ich mit E. D. zu flirten. Weißt du, in gewisser Weise war meine ganze Ehe nichts anderes als der Versuch, mit deiner Mutter befreundet zu bleiben.«

»Die Briefe…«

»Interessant, nicht wahr, dass sie sie all die Jahre aufbewahrt hat. Irgendwann habe ich sie gefragt, warum. Warum sie nicht einfach wegwerfen? Sie erwiderte: ›Weil sie aufrichtig sind.‹ Das war ihre Art, die Person zu ehren, die sie geschrieben hatte. Der letzte Brief traf eine Woche vor ihrer Hochzeit ein. Danach keine mehr. Und ein Jahr später habe ich E. D. geheiratet. Auch als Paare waren wir unzertrennlich, hat sie dir das je erzählt? Wir sind zusammen in Urlaub gefahren, zusammen ins Kino gegangen. Belinda kam zu mir ins Krankenhaus, als die Zwillinge geboren wurden, und ich habe ihr die Tür aufgemacht, als sie dich zum ersten Mal nach Haus brachte. Aber das alles ging zu Ende nach Marcus’ Unfall. Dein Vater war ein wundervoller Mensch, Tyler, sehr direkt, sehr witzig, der Einzige, der E. D. zum Lachen bringen konnte. Doch leider auch sehr leichtsinnig. Belinda war am Boden zerstört, als er starb. Und nicht nur seelisch. Marcus hatte den Großteil ihrer Ersparnisse durchgebracht, und von dem, was noch übrig war, musste sie die Hypothek tilgen, die auf ihrem Haus in Pasadena lag. Als also E. D. nach Osten ging und wir dieses Grundstück kauften, da lag es irgendwie nahe, ihr anzubieten, das Gästehaus zu beziehen.«

»Und den Haushalt zu führen.«

»Das war E. D.s Idee. Ich wollte sie einfach nur in der Nähe haben. Meine Ehe war nicht so erfolgreich, wie ihre es gewesen war. Eher das Gegenteil. Und sie war mehr oder weniger die einzige Freundin, die ich hatte. Die Einzige, der ich alles anvertrauen konnte. Fast alles.«

»Deswegen wollen Sie die Briefe behalten? Weil sie Teil Ihrer gemeinsamen Geschichte sind?«

Carol lächelte wie zu einem Kind, das etwas schwer von Begriff ist. »Nein, Tyler. Ich hab’s doch gesagt — es sind meine Briefe.« Sie zwinkerte. »Nun schau nicht so fassungslos. Deine Mutter war so heterosexuell, wie eine Frau nur sein kann. Ich hatte einfach das Pech, mich in sie zu verlieben. Mich so verzweifelt in sie zu verlieben, dass ich bereit war, alles zu tun — sogar einen Mann zu heiraten, der einen etwas widerlichen Eindruck machte, schon damals —, nur um in ihrer Nähe zu bleiben. Die ganze Zeit über, Tyler, in all den Jahren, habe ich ihr nie etwas von meinen Gefühlen verraten. Nie, außer in diesen Briefen. Ich habe mich gefreut, dass sie sie aufbewahrte, auch wenn sie mir immer ein wenig gefährlich vorkamen, wie etwas Explosives oder Radioaktives, ein Zeugnis meiner Narrheit. Als deine Mutter starb — ich meine, genau an dem Tag, als sie starb —, habe ich Panik gekriegt. Ich versteckte die Schachtel. Ich dachte daran, die Briefe zu zerstören, aber ich konnte es nicht, hab’s nicht fertig gebracht. Und dann, als E. D. sich von mir hat scheiden lassen, als niemand mehr getäuscht werden musste, habe ich sie einfach an mich genommen. Weil es ja meine Briefe sind, nicht wahr. Es waren immer meine.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Carol sah den Ausdruck in meinem Gesicht und legte ihre zerbrechlichen Hände auf meine Schultern. »Reg dich nicht auf. Die Welt ist voller Überraschungen. Wir sind uns und einander von Geburt an fremd — und nur selten werden wir formell vorgestellt.«


Also brachte ich vier Wochen in einem Motelzimmer in Vermont zu und versorgte Diane, während sie langsam gesundete.

Körperlich gesundete, sollte ich sagen. Das emotionale Trauma, das sie auf der Condon-Ranch und später erlitten hatte, wirkte nach, schlug sich in Erschöpfung und Introvertiertheit nieder. Sie hatte sich schon verabschiedet von einer Welt, die zu Ende zu gehen schien — und fand sich dann wider Erwarten in einer ganz anderen Welt wieder. Es stand nicht in meiner Macht, sie mit dem allen zu versöhnen. Ich erklärte, was erklärt werden musste. Ich erhob keine Forderungen und machte deutlich, dass ich keine Belohnung erwartete.

Ihr Interesse an der veränderten Welt wuchs nach und nach. Sie erkundigte sich nach der wieder in ihre angestammte Funktion eingesetzten Sonne, und ich gab an sie weiter, was mir Jason erzählt hatte: Die Spinmembran war noch da, aber die zeitliche Umhüllung beendet; sie schützte uns weiterhin, wie sie es die ganze Zeit getan hatte, indem sie die tödliche Strahlung in ein Simulakrum von Sonnenlicht umwandelte, das für das Ökosystem des Planeten verträglich war.

»Warum haben sie die Membran dann für sieben Tage abgeschaltet?«

»Sie wurde heruntergeschaltet, nicht abgeschaltet. Und das haben sie gemacht, damit etwas durch die Membran hindurchkommen konnte.«

»Das Ding im Indischen Ozean.«

»Ja.«

Sie bat mich, ihr die Aufnahme von Jasons letzten Stunden vorzuspielen, und sie weinte, als sie sie hörte. Sie fragte nach seiner Asche. Hatte E. D. sie an sich genommen oder hatte Carol sie behalten? (Keines von beidem — Carol hatte sie mir in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, ich solle damit machen, was mir angemessen erscheine. »Die Wahrheit ist, Tyler, dass du ihn besser kanntest als ich. Jason war für mich ein Geheimnis. Der Sohn seines Vaters. Aber du warst sein Freund.«)

Wir beobachteten, wie sich die Welt wiederentdeckte. Die Massenbegräbnisse nahmen ein Ende. Die trauernden, verängstigten Überlebenden begann zu begreifen, dass der Planet seine Zukunft zurückgewonnen hatte — so merkwürdig und fremd diese Zukunft auch sein mochte. Für unsere Generation war das ein atemberaubender Umschwung, der Mantel der Auslöschung war uns von den Schultern geglitten. Was würden wir ohne ihn anfangen? Wie würden wir darauf reagieren, dass wir nicht mehr zum Tode verdammt, dass wir nur noch sterblich waren?

Wir sahen die Aufnahmen der gewaltigen Konstruktion im Indischen Ozean, die sich in die Haut des Planeten gegraben hatte. Noch immer verdampfte das Meerwasser, wo es mit den gewaltigen Säulen in Berührung kam. Der Bogen, wurde er bald genannt, oder auch der Torbogen, nicht nur seiner Form wegen, auch weil etliche auf See befindliche Schiffe in die Häfen zurückkehrten mit Berichten über verschwundene Navigationspunkte, eigenartiges Wetter, durchdrehende Kompasse und Küstenlinien, wo es gar kein Land hätte geben dürfen. Diverse Seestreitkräfte wurden in Marsch gesetzt. Jasons »Testament« gab Hinweise auf eine Erklärung der Vorgänge, doch nur wenige Menschen wussten davon — ich, Diane, das Dutzend, denen es mit der Post zugestellt worden war.

Diane begann etwas für ihre Fitness zu tun, joggte, während das Wetter herbstlich wurde, auf einem unbefestigten Weg hinter dem Motel und kehrte mit dem Geruch nach gefallenem Laub und Holzrauch in den Haaren zurück. Ihr Appetit wuchs, ebenso wie das Speisenangebot im Coffeeshop. Es wurden wieder Nahrungsmittel geliefert, die Wirtschaft kam langsam wieder in Gang.

Wir erfuhren, dass auch der Mars vom Spin befreit war. Signale waren zwischen den beiden Planeten hin- und hergegangen, und in einer seiner Reden deutete Präsident Lomax an, dass das Raumfahrtprogramm wiederaufgelegt werden sollte, ein erster Schritt auf dem Weg zur Aufnahme ständiger Beziehungen mit »unserem Schwesterplaneten«, wie er sich ausdrückte.

Wir sprachen über die Vergangenheit. Wir sprachen über die Zukunft.

Was wir nicht taten: Wir fielen uns nicht in die Arme.

Wir kannten einander zu gut — oder nicht gut genug. Wir hatten eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Und Diane machte sich große Sorgen um Simon.

»Er hat dich beinahe sterben lassen«, erinnerte ich sie.

»Nicht mit Absicht. Er ist nicht boshaft. Das weißt du.«

»Dann ist er gefährlich naiv.«

Nachdenklich schloss sie die Augen. Dann sagte sie: »Es gibt da eine Wendung, die Pastor Kobel vom Jordan Tabernacle gebrauchte: ›Sein Herz schrie nach Gott‹. Wenn es jemanden gibt, auf den das passt, dann Simon. Aber man muss den Satz verallgemeinern. ›Sein Herz schrie‹ — ich glaube, das sind wir alle, das ist universell. Du, Simon, ich, Jason. Sogar Carol. Und auch E. D. Wenn Menschen begreifen, wie groß das Universum und wie kurz ihr Leben ist, dann schreit ihr Herz auf. Manchmal ist es ein Freudenschrei — ich glaube, das war es bei Jason, und das war es, was ich an ihm nicht verstanden habe: Er war in der Lage, Ehrfurcht zu empfinden. Doch für die meisten von uns ist es ein Schreckensschrei. Der Schrecken des Todes, der Schrecken der Sinnlosigkeit. Unsere Herzen schreien auf. Vielleicht nach Gott, vielleicht nur, um das Schweigen zu übertönen.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn, und ich sah, dass ihr Arm, vor nicht allzu langer Zeit noch erschreckend dünn, wieder rund und kräftig geworden war. »Ich glaube, der Schrei, der sich aus Simons Herz gelöst hat, war der reinste, unverfälschteste Laut, zu dem Menschen fähig sind. Nein, er ist kein guter Menschenkenner. Ja, er ist naiv. Deshalb ist er auch von einem Glauben zum nächsten geirrt: New Kingdom, Jordan Tabernacle, die Condon-Ranch — egal was, solange es offen und freimütig war, solange es ihm vermittelte, dass die Menschen eine Bedeutung haben.«

»Und unterdessen hättest du elendig zugrunde gehen können.«

»Ich sage nicht, dass er klug ist. Ich sage, dass er nicht böse ist.«

Später wusste ich diese Art zu denken und zu argumentieren besser einzuschätzen: Diane sprach wie eine Vierte. Mit Distanz, aber doch engagiert. Vertraulich, aber objektiv. Ich kann nicht sagen, dass es mir missfiel, doch von Zeit zu Zeit ließ es mir die Nackenhärchen zu Berge stehen.


Nicht lange, nachdem ich sie für vollständig gesund erklärt hatte, teilte mir Diane mit, dass sie weggehen wolle. Ich fragte sie, was sie vorhabe.

Sie müsse Simon finden, erwiderte sie. »Einige Dinge klären«, so oder so. Schließlich wären sie immer noch verheiratet. Es war ihr wichtig, herauszufinden, ob er noch am Leben sei.

Ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie weder Geld noch eine eigene Wohnung hatte. Sie sagte, sie würde schon irgendwie über die Runden kommen. Also gab ich ihr eine der Kreditkarten, mit denen mich Jason ausgestattet hatte, allerdings mit der Warnung verbunden, dass ich nicht dafür garantieren könne — ich hatte keine Ahnung, wer für die Deckung aufkam, wo das Limit lag und ob man sie anhand der Karte würde aufspüren können.

Sie fragte, wie sie mit mir in Verbindung treten könne.

»Ruf einfach an.« Sie hatte meine Nummer, jene über all die Jahre beibehaltene und weiterbezahlte Nummer eines Handys, das ich immer mit mir herumgetragen hatte, obwohl es sehr selten klingelte.

Dann fuhr ich sie zum nächsten Busbahnhof.


Das Handy klingelte sechs Monate später, als die Zeitungen haufenweise Artikel über »die neue Welt« produzierten und die TV-Sender erste Bilder einer felsigen, wilden Landspitze »von der anderen Seite des Torbogens« zeigten.

Inzwischen hatten hunderte von Schiffen, große und kleine, die Überfahrt gewagt. Zum Teil waren es wissenschaftliche Expeditionen, von der UNO genehmigt, von der amerikanischen Marine eskortiert, von »eingebetteten« Reportern begleitet. Es gab aber auch viele private Charterfahrten. Und es gab Fischtrawler, die bei der Rückkehr in den Hafen einen Fang im Laderaum hatten, der bei schlechten Lichtverhältnissen als Kabeljau durchgehen konnte. Das war natürlich streng untersagt, doch bis das Verbot in Kraft getreten war, hatte sich der »Bogenkabeljau« bereits auf allen asiatischen Märkten breitgemacht. Er erwies sich als essbar und sogar nahrhaft. Was man, wie Jason gesagt hätte, als Anhaltspunkt werten durfte — als der Fisch einer DNA-Analyse unterzogen wurde, wies sein Genom auf entfernte terrestrische Abstammung hin. Die neue Welt war nicht nur gastlich, sie schien auch menschlichen Bedürfnissen gemäß ausgestattet zu sein.

»Ich habe Simon gefunden«, sagte Diane.

»Und?«

»Er lebt in einem Wohnwagenpark am Rand von Wilmington. Er verdient ein wenig Geld mit Reparaturen — Fahrräder, Toaster, solche Sachen. Ansonsten lebt er von der Wohlfahrt und besucht eine kleine Pfingstkirche.«

»Hat er sich gefreut, dich zu sehen?«

»Er wollte gar nicht wieder aufhören, sich für das zu entschuldigen, was auf der Condon-Ranch passiert ist. Er sagte, er will es wieder gutmachen. Er hat mich gefragt, ob es irgendetwas gibt, was er tun kann, um mir das Leben zu erleichtern.«

Ich umklammerte das Handy ein bisschen fester. »Was hast du ihm gesagt?«

»Dass ich mich scheiden lassen will. Er war einverstanden. Und er hat noch was gesagt — er meinte, ich hätte mich verändert, irgendetwas sei anders an mir. Er konnte es nicht genau festmachen. Aber ich glaube, es hat ihm nicht gefallen.«

Ein Hauch von Schwefel möglicherweise.

»Habe ich mich so sehr verändert, Tyler?«

»Alles verändert sich.«


Ihr nächster wichtiger Anruf kam ein Jahr später. Ich lebte inzwischen, zum Teil ermöglicht durch Jasons gefälschte Ausweispapiere, in Montreal, wartete darauf, dass mein Immigrantenstatus amtlich wurde, und hatte eine Assistentenstelle in einer Ambulanzklinik in Outremont inne.

Seit unserer letzten Unterhaltung war man der grundlegenden Dynamik des Bogens auf die Spur gekommen. Die Fakten waren verwirrend für jeden, der sich ihn als statische Maschine oder simple »Tür« vorstellte, doch wenn man ihn so betrachtete, wie Jason es getan hatte — als komplexe, mit Bewusstsein begabte Wesenheit, die fähig war, Ereignisse im Rahmen eines definierten Bereichs wahrzunehmen und zu beeinflussen —, kam man der Sache schon viel näher.

Zwei Welten waren durch den Bogen verbunden worden, aber nur für bemannte Meeresfahrzeuge, die ihn von Süden querten.

Man bedenke, was das bedeutet: Für den Wind, die Meeresströmung oder den Zugvogel war der Bogen nichts anderes als ein Paar stationärer Säulen zwischen dem Indischen Ozean und dem Golf von Bengalen; sie bewegten sich ungehindert um den Bogenbereich herum und durch ihn hindurch, ebenso wie alle Schiffe, die von Norden nach Süden kreuzten.

Wenn man dagegen per Schiff den Äquator von Süden her bei neunzig Grad östlich überquerte und zum Bogen zurückblickte — dann tat man das von einem unbekannten Meer aus, unter einem seltsamen Himmel, Lichtjahre von der Erde entfernt.

In Madras hatte ein ehrgeiziger, illegaler Kreuzfahrtveranstalter englischsprachige Plakate drucken lassen mit der Aufforderung: REISEN SIE BEQUEM ZU EINEM FREUNDLICHEN PLANETEN! Interpol machte dem ein Ende — die UNO versuchte damals noch, die Überfahrten zu regulieren —, doch die Plakate hatten es ziemlich gut getroffen. Wie konnte so etwas zugehen? Fragen Sie die Hypothetischen!

Dianes Scheidung war vollzogen, wie sie mir mitteilte, aber sie hatte weder Arbeit noch sonstige Perspektiven. »Ich dachte, wenn ich zu dir kommen könnte…« Sie klang zaghaft, überhaupt nicht wie eine Vierte — oder wie eine Vierte nach meiner Vorstellung hätte klingen sollen. »Wenn das geht, wenn dir das recht ist. Ehrlich gesagt, brauche ich ein bisschen Hilfe. Um zur Ruhe zu kommen und, na ja, das Richtige für mich zu finden.«

Also besorgte ich ihr einen Job in der Klinik und kümmerte mich um die Einwanderungsformalitäten. Im Herbst kam sie zu mir nach Montreal.


Es folgte ein überaus zaghafter Prozess der Annäherung, sehr langsam, sehr altmodisch — vielleicht ein bisschen marsianisch —, und dabei entdeckten Diane und ich einander in einem gänzlich neuen Licht. Wir steckten nicht mehr in der Zwangsjacke des Spins. Wir waren auch keine Kinder mehr, die blind nach Trost suchten. Wir verliebten uns als Erwachsene.

Es waren die Jahre, als die Weltbevölkerung ihren Höchststand von acht Milliarden erreichte. Der Großteil des Wachstums war in die aufgeblähten Megastädte geflossen: Schanghai, Jakarta, Manila, die Küstenstädte Chinas, Lagos, Kinshasa, Nairobi, Maputo, Caracas, La Paz, Tegucigalpa — all die von Feuern beleuchteten, von Smog umhüllten Karnickelbauten dieser Welt. Es hätte ein Dutzend Torbögen gebraucht, um die Wachstumskurve umzukehren, aber die Überbevölkerung sorgte für eine stete Welle von Auswanderern, Flüchtlingen, »Pionieren«, die sich häufig in die Laderäume illegaler Schiffe gepfercht sahen und nicht selten tot oder im Sterben liegend die Küste von Port Magellan erreichten.

Port Magellan war die erste getaufte Ansiedlung in der neuen Welt. Inzwischen waren große Teile dieser Welt grob kartografiert worden, meistenteils aus der Luft. Port Magellan bildete die östliche Spitze eines Kontinents, der, wenn auch noch nicht offiziell, »Äquatoria« genannt wurde. Es gab eine zweite, sogar noch größere Landmasse — »Borea« —, die den nördlichen Pol überspannte und bis in die gemäßigte Zone des Planeten reichte. Die südlichen Meere waren von Inseln und Archipelen übersät.

Das Klima war gemäßigt, die Luft frisch, die Schwerkraft lag bei 95,5 Prozent der auf der Erde herrschenden. Beide Kontinente waren Vorratskammern, die nur darauf warteten, geöffnet zu werden — in den Meeren und Flüssen wimmelte es von Fischen. In den Slums von Douala und Kabul kursierten Geschichten, wonach man sich das Essen in Äquatoria nur von den Bäumen zu pflücken brauchte und anschließend ein Schläfchen zwischen den Wurzeln machen konnte.

Die Wirklichkeit sah natürlich ein bisschen anders aus: Port Magellan war eine von Soldaten bewachte UNO-Enklave, die rundherum gewachsenen Barackensiedlungen dagegen waren unregiert und unsicher. Die Küstenlinie jedoch war über hunderte von Kilometern mit Fischerdörfern gesprenkelt, es wurden Touristenhotels rings um die Lagunen von Reach Bay und Aussie Harbor gebaut, und die Aussicht auf freies, fruchtbares Land lockte zahlreiche Siedler landeinwärts entlang der Flusstäler des Weißen und des Neuen Irrawaddi.

Die bedeutendste Nachricht aus der neuen Welt in jenem Jahr allerdings betraf die Entdeckung des zweiten Bogens. Er befand sich eine halbe Welt vom ersten Bogen entfernt, nahe den südlichen Ausläufern der borealischen Landmasse, und dahinter gab es eine weitere neue Welt — anfänglichen Berichten zufolge nicht ganz so einladend wie die erste, doch das lag vielleicht nur daran, dass dort gerade Regenzeit herrschte.


»Es muss noch mehr Leute wie mich geben«, sagte Diane eines Tages im fünften Jahr der Nachspinzeit. »Ich würde sie gerne kennen lernen.«

Ich hatte ihr meine Ausgabe der marsianischen Archive gegeben, eine grobe Erstübersetzung auf einer Reihe von Speicherkarten, und sie studierte sie mit der gleichen Gründlichkeit, mit der sie sich früher der viktorianischen Dichtung oder den New-Kingdom-Traktaten gewidmet hatte.

Sollte Jasons Vorgehen erfolgreich gewesen sein, ja, dann gab es sicher noch mehr Vierte auf der Erde. Aber sich als solcher zu erkennen zu geben, war nichts anderes als ein Freifahrtschein in das nächstgelegene Gefängnis. Die Regierung Lomax hatte alles Marsianische zu einer Angelegenheit der nationalen Sicherheit erklärt und unter Verschluss gestellt, und die inländischen Sicherheitsdienste waren in der Wirtschaftskrise, die auf das Ende des Spins folgte, mit weitreichenden polizeilichen Befugnissen ausgestattet worden.

»Denkst du je darüber nach?«, fragte sie etwas schüchtern.

Darüber, ob auch ich ein Vierter werden wollte. Indem ich mir eine Dosis der klaren Flüssigkeit aus einer der Phiolen, die ich in einem Stahlsafe im Kleiderschrank unseres Schlafzimmers aufbewahrte, in den Arm spritzte. Natürlich hatte ich darüber nachgedacht — wir würden uns dadurch ähnlicher werden.

Aber wollte ich das? Ich war mir des Abstands, der Kluft zwischen ihrer Viertheit und meiner »profanen« Menschlichkeit durchaus bewusst, aber ich hatte keine Angst davor. In manchen Nächten, wenn ich in ihre feierlich ernsten Augen blickte, war mir dieser Abgrund sogar lieb und teuer. Denn der Abgrund ist es, der die Brücke bestimmt, und die Brücke, die wir gebaut hatten, war schön und stabil.

Sie streichelte meine Hand, fuhr mit ihren glatten Fingern über meine strukturierte Haut, ein subtiler Hinweis darauf, dass ich die Behandlung eines Tages so oder so benötigen würde, selbst wenn ich nicht besonders scharf darauf war.

»Noch nicht«, sagte ich.

»Wann?«

»Wenn ich bereit bin.«


Auf Präsident Lomax folgte Präsident Hughes und auf diesen Präsident Chaykin, doch sie waren allesamt Veteranen ein und derselben Spinzeitpolitik. Sie betrachteten die marsianische Biotechnologie als neue Atombombe, potenziell jedenfalls, und im Moment gehörte sie ganz ihnen, konnte als urheberrechtlich geschützte Drohung dienen. In seiner ersten diplomatischen Depesche an die Fünf Republiken hatte Lomax diese darum ersucht, jegliche biotechnischen Informationen aus unkodierten Übertragungen vom Mars zur Erde zu verbannen. Er hatte diese Bitte mit den Wirkungen begründet, die eine derartige Technologie in der politisch geteilten und oft gewalttätigen Welt — als Beispiel führte er den Tod Wun Ngo Wens an — entfalten könnte, und bisher hatten die Marsianer mitgespielt und seinem Wunsch entsprochen.

Doch sogar dieser zensierte Kontakt mit dem Mars hatte sein Maß an Zwietracht gesät. Die egalitäre Wirtschaftsweise der Fünf Republiken hatte Wun Ngo Wen zu einer Art Maskottchen der neuen globalen Arbeiterbewegung gemacht. Ich war reichlich schockiert, Wuns Gesicht auf Transparenten zu erblicken, die von Textilarbeiterinnen aus den asiatischen Fabrikzonen oder von Chipsockelaufsteckern aus den zentralamerikanischen Maquiladoras getragen wurden — aber ich bezweifle, dass es ihm missfallen hätte.


Diane reiste zu E. D.s Beerdigung in die USA, fast auf den Tag genau elf Jahre, nachdem ich sie von der Condon-Ranch befreit hatte.

Wir hatten in den Nachrichten von seinem Tod erfahren, wobei beiläufig erwähnt worden war, dass E. D.s Exfrau Carol sechs Monate vor ihm gestorben war, ein weiterer Schock für Diane. Carol hatte schon vor Jahren aufgehört, unsere Anrufe entgegenzunehmen. Zu gefährlich, sagte sie. Es reiche ihr zu wissen, dass wir in Sicherheit seien. Und es gab im Grunde auch nichts zu sagen.

Diane besuchte das Grab ihrer Mutter, während sie in Washington war. Am meisten bedrückte sie, wie sie sagte, dass Carols Leben so unvollständig gewesen sei: ein Verb ohne Objekt, ein anonymer Brief, missverstanden, weil die Unterschrift fehlte. »Es ist weniger sie, die mir fehlt, als die, die sie hätte sein können.«

Bei E. D.s Trauerfeier achtete sie sorgfältig darauf, sich nicht zu erkennen zu geben. Zu viele seiner politischen Kumpanen waren anwesend, darunter der Vizepräsident und der Justizminister. Doch ihre besondere Aufmerksamkeit galt einer unbekannten Frau auf einer der hinteren Bänke, die ihrerseits immer wieder verstohlen zu Diane sah. »Ich wusste sofort, dass sie eine Vierte ist«, sagte sie später. »Ich kann gar nicht genau sagen, warum. Ihre Haltung, die alterslose Erscheinung — aber es war noch mehr, es war wie ein Signal, das zwischen uns hin- und herlief.« Als die Zeremonie beendet war, ging sie auf die Frau zu und fragte sie, auf welche Weise sie mit E. D. bekannt gewesen war.

»Ich war nicht mit ihm bekannt«, erwiderte die Frau. »Nicht im eigentlichen Sinne. Ich war eine Weile im Forschungsteam bei Perihelion, in der Zeit, als Jason Lawton dort der Leiter war. Ich heiße Sylvia Tucker.«

Der Name kam mir gleich bekannt vor, als Diane ihn nannte. Sylvia Tucker war eine der Anthropologinnen, die in Florida mit Wun Ngo Wen zusammengearbeitet hatten. Sie war freundlicher gewesen als die meisten anderen der befristet angestellten Wissenschaftler — gut möglich, dass Jason sich ihr anvertraut hatte.

»Wir haben E-Mail-Adressen ausgetauscht«, sagte Diane. »Keiner von uns hat das Wort ›Vierte‹ ausgesprochen. Aber wir wussten es beide, da bin ich sicher.«

Eine Korrespondenz folgte nicht daraus, doch von Zeit zu Zeit erhielt Diane digitale Presseausschnitte von Sylvia Tuckers Adresse. Diese betrafen zum Beispiel: Einen Industriechemiker aus Denver, der auf Grund einer Sicherheitsverfügung verhaftet und auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam genommen worden war; eine geriatrische Klinik, die auf Grund eines Bundeserlasses geschlossen worden war, einen Soziologieprofessor von der University of California, der bei einem Feuer ums Leben gekommen war, es wurde Brandstiftung vermutet; und so weiter.

Ich hatte bewusst keine Liste der Adressen aufbewahrt, an die Jasons Päckchen gegangen waren, und sie auch nicht auswendig gelernt. Doch einige der Namen in den Artikeln klangen durchaus vertraut.

»Sie will uns mitteilen, dass wir gejagt werden«, sagte Diane. »Die Regierung jagt Vierte.«

Einen Monat lang diskutierten wir, was wir machen würden, wenn wir die gleiche Art von Aufmerksamkeit auf uns zögen. Wohin sollten wir fliehen, angesichts des globalen Sicherheitsapparats, den Lomax und seine Erben aufgebaut hatten?

Im Grunde gab es darauf nur eine plausible Antwort. Nur einen Ort, wo dieser Apparat nicht tätig werden konnte, wo die Überwachung vollkommen blind war. Wir machten also unsere Pläne — diese Pässe, jenes Bankkonto, diese Route über Europa nach Südasien — und legten sie beiseite, bis wir sie brauchen würden.

Dann empfing Diane eine letzte Nachricht von Sylvia Tucker, die aus nur zwei Wörtern bestand: Haut ab.

Und das taten wir.


Auf der letzten Etappe der Reise, beim Anflug auf Sumatra, sagte Diane: »Bist du sicher, dass du es tun willst?«

Ich hatte die Entscheidung vor einigen Tagen getroffen, während eines Zwischenaufenthalts in Amsterdam, als wir immer noch Sorge hatten, dass wir verfolgt würden, dass unsere Pässe markiert seien, dass unser Vorrat an marsianischen Pharmazeutika doch noch beschlagnahmt werden würde.

»Ja«, erwiderte ich. »Bevor wir die Überfahrt machen.«

»Ganz sicher?«

»So sicher, wie man sein kann.«

Nein, nicht sicher. Aber bereit. Bereit, das zu verlieren, was verloren gehen würde, und bereit, das anzunehmen, was zu gewinnen war.

Diane und ich mieteten uns also ein Zimmer im dritten Stock eines im Kolonialstil gehaltenen Hotels in Padang, wo wir für eine Weile unbemerkt bleiben würden. Wir alle fallen, sagte ich mir, und ein jeder landet irgendwo.

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