Von Padang aus reisten wir landeinwärts — so viel begriff ich —, es ging bergauf, über Straßen, die manchmal seidig glatt, manchmal uneben und von Schlaglöchern übersät waren. Irgendwann hielt das Auto vor einem Gebäude, das in der Dunkelheit wie ein Betonbunker aussah, offenbar aber (zu erkennen an dem unter einer grellen Wolframlampe aufgemalten roten Halbmond) eine medizinische Einrichtung war. Der Fahrer war sauer, als er sah, wohin er uns gefahren hatte — ein weiterer Beleg dafür, dass ich krank war, nicht nur betrunken —, doch Diane drückte ihm noch ein paar Geldscheine in die Hand, sodass er schließlich einigermaßen beschwichtigt davonfuhr.
Ich hatte Schwierigkeiten, mich auf den Beinen zu halten, lehnte mich gegen Diane, die mein Gewicht wacker trug, und so standen wir da in der feuchten Nacht auf einer leeren Straße. Mondschein bohrte sich durch die Wolkenfetzen. Vor uns war eine Klinik, auf der anderen Straßenseite eine Tankstelle und sonst nichts als Wald und flache Abschnitte, bei denen es sich um bewirtschaftete Felder handeln mochte. Es gab kein Anzeichen menschlichen Lebens, bis die Eingangstür der Klinik ächzend aufging und eine kleine, korpulente Frau in einem langen Rock und mit einer kleinen weißen Mütze eilig zu uns herauskam.
»Ibu Diane«, sagte die Frau aufgeregt, aber leise, als befürchte sie, man könne sie, selbst zu dieser einsamen Stunde, belauschen. »Willkommen!«
»Ibu Ina«, erwiderte Diane respektvoll.
»Und dies ist wohl…?«
»Pak Tyler Dupree. Von dem ich Ihnen erzählt habe.«
»Zu krank, um zu sprechen?«
»Zu krank, um irgendetwas Vernünftiges zu sagen.«
»Dann sollten wir ihn unbedingt nach drinnen schaffen.«
Diane stützte mich auf der einen Seite und die Frau, die sie Ibu Ina genannt hatte, packte meinen rechten Arm unter der Schulter. Sie war nicht mehr jung, aber bemerkenswert kräftig. Die Haare unter der Mütze waren grau und schon ausgedünnt. Sie roch nach Zimt. Der Art nach zu urteilen, wie sie die Nase rümpfte, roch ich nach etwas Unangenehmerem.
Dann waren wir im Gebäude, gingen an einem leeren, mit Rattan- und billigen Metallstühlen möblierten Wartezimmer vorbei zu einem dem Eindruck nach recht modernen Untersuchungszimmer, wo Diane mich auf einem gepolsterten Tisch ablud und Ina sagte: »Na, dann wollen wir mal sehen, was wir für ihn tun können.« Ich fühlte mich sicher genug, um das Bewusstsein zu verlieren.
Ich erwachte vom Klang eines Gebetsrufes, der von einer fernen Moschee herwehte, und vom Geruch nach frischem Kaffee.
Ich lag nackt auf einer Pritsche in einem kleinen Zimmer mit Betonwänden; durch das Fenster fiel Licht, eine blasse Vorahnung der Morgendämmerung. Es gab einen Türeingang mit einer Art Bambusvorhang, durch den ich hören konnte, wie jemand etwas Energisches mit Tassen und Schüsseln anstellte.
Die Kleidung, die ich gestern getragen hatte, war gewaschen worden und lag zusammengelegt neben der Pritsche. Ich befand mich zwischen zwei Fieberattacken — ich hatte gelernt, diese kleinen Oasen des Wohlbefindens als solche zu erkennen — und war kräftig genug, mich anzuziehen.
Ich balancierte gerade auf einem Bein und bemühte mich, das andere in meine Hose einzufädeln, als Ibu Ina durch den Vorhang spähte. »Oh, Ihnen geht’s gut genug, dass Sie stehen können«, sagte sie.
Kurzzeitig. Ich sank, erst halb angezogen, zurück auf die Pritsche. Ina betrat das Zimmer mit einer Schüssel Reis, einem Löffel, einem emaillierten Blechbecher. Sie kniete sich neben mich und deutete mit den Augen auf das Holztablett: Ob ich irgendetwas davon haben wolle?
Ich stellte fest, dass das der Fall war. Zum ersten Mal seit vielen Tagen hatte ich Hunger. Meine Hose saß lächerlich locker, meine Rippen stachen obszön hervor. »Danke«, sagte ich.
»Wir sind uns letzte Nacht vorgestellt worden.« Sie reichte mir die Schüssel. »Können Sie sich daran erinnern? Ich muss mich für die primitive Art der Unterbringung entschuldigen. Dieser Raum dient eher der Tarnung als der Bequemlichkeit.«
Sie mochte fünfzig oder sechzig Jahre alt sein. Ihr Gesicht war rund und faltig, die Züge in einem Mond aus braunem Fleisch konzentriert, was ihr etwas Apfelpuppenhaftes verlieh, akzentuiert noch durch den langen schwarzen Rock und die weiße Haube. Hätten die Amish-Leute in Westsumatra gesiedelt, würden sie vielleicht so etwas wie Ibu Ina hervorgebracht haben.
Sie sprach englisch mit singendem indonesischen Akzent, aber ihre Ausdrucksweise war untadelig. »Sie sprechen unsere Sprache sehr gut«, sagte ich, das einzige Kompliment, das mir auf die Schnelle einfiel.
»Danke, ich habe in Cambridge studiert.«
»Englisch?«
»Medizin.«
Der Reis war etwas fade, aber gut. Ich zeigte demonstrativ guten Willen, ihn aufzuessen.
»Vielleicht später mehr?«, fragte sie.
»Ja, danke.«
Ibu war ein Ausdruck des Respekts in der Sprache der Minangkabau, verwendet bei der Anrede von Frauen (das männliche Gegenstück war Pak). Woraus folgte, dass Ina eine Minangkabau-Ärztin war und wir uns im Hochland von Sumatra befanden, vermutlich in unmittelbarer Nähe zum Mount Merapi. Alles, was ich über Inas Volk wusste, stammte aus dem Reiseführer über Sumatra, den ich auf dem Flug von Singapur hierher gelesen hatte: Es gab mehr als fünf Millionen Minangkabau, die in Dörfern und Städten des Hochlands lebten; viele der besten Restaurants in Padang wurden von Minangkabau betrieben; sie waren berühmt für ihre matrilineare Kultur, ihren Geschäftssinn und ihre Vermischung von Islam und traditionellen Adat-Gebräuchen.
Alles keine Erklärung dafür, was ich im Hinterzimmer der Praxis einer Minang-Ärztin zu suchen hatte.
»Schläft Diane noch? Ich verstehe nämlich nicht…«
»Ibu Diane hat den Bus zurück nach Padang genommen, fürchte ich. Aber Sie sind hier sicher.«
»Ich hatte gehofft, dass auch sie sicher sein würde.«
»Sie wäre hier natürlich sicherer als in der Stadt, ganz bestimmt. Aber das würde keinem von Ihnen aus Indonesien heraushelfen.«
»Wie haben Sie Diane kennen gelernt?«
Ina grinste. »Reine Glückssache — oder hauptsächlich Glück. Sie war gerade in Verhandlungen mit meinem Ex-Mann Jala, der, unter anderem, im Import-Export-Geschäft ist, als sich herausstellte, dass sich die New Reformasi ein bisschen allzusehr für sie interessierten. Ich arbeite ein paar Tage im Monat in einem staatlichen Krankenhaus in Padang und war entzückt, als Jala mich mit Diane bekannt machte, auch wenn er nur nach einem vorübergehenden Versteck für einen potenziellen Kunden gesucht hat. Es war so aufregend, der Schwester von Pak Jason Lawton zu begegnen!«
Das war in mehrerlei Hinsicht überraschend, wenn nicht erschreckend. »Sie haben von Jason gehört?«
»Gehört, ja — anders als Sie hatte ich nie die Ehre, mit ihm zu sprechen. Oh, aber wie begierig habe ich die Nachrichten über Jason Lawton in den frühen Tagen des Spins verfolgt! Und Sie waren sein Arzt. Und jetzt sind Sie hier im Hinterzimmer meiner Klinik!«
»Ich weiß nicht, ob Diane irgendetwas davon hätte erwähnen sollen.« Ich war mir absolut sicher, dass sie es besser nicht hätte tun sollen. Unser einziger Schutz war die Anonymität, und die war jetzt gefährdet.
Ibu Ina wirkte niedergeschlagen. »Natürlich wäre es besser gewesen, diesen Namen nicht zu erwähnen. Aber Ausländer mit rechtlichen Problemen sind in Padang gang und gäbe. Es gibt sogar einen ziemlich schrecklichen Ausdruck dafür: Dutzendware. Ausländer mit rechtlichen und gesundheitlichen Schwierigkeiten sind noch problematischer. Diane muss erfahren haben, dass Jala und ich große Bewunderer von Jason Lawton sind — es kann nur reine Verzweiflung gewesen sein, die sie bewogen hat, sich auf seinen Namen zu berufen. Und trotzdem mochte ich ihr nicht glauben, bis ich mir im Internet Fotografien angesehen habe. Ich nehme an, einer der Nachteile der Berühmtheit besteht darin, dass man ständig fotografiert wird. Jedenfalls war da ein Foto der Familie Lawton, aufgenommen in der Frühzeit des Spins, aber ich habe sie trotzdem erkannt: Sie hatte die Wahrheit gesagt! Und also musste es auch wahr sein, was sie mir über ihren kranken Freund erzählt hatte. Sie waren Arzt von Jason Lawton. Und natürlich von dem anderen, dem noch berühmteren…«
»Ja.«
»Dem kleinen schwarzen faltigen Mann.«
»Ja.«
»Von dessen Medizin Sie krank geworden sind.«
»Dessen Medizin mich aber auch wieder gesund machen wird, hoffe ich.«
»Genau wie bei Diane, so hat sie jedenfalls gesagt. Das finde ich interessant. Gibt es wirklich noch ein Stadium des Erwachsenseins jenseits des Erwachsenseins? Wie fühlen Sie sich?«
»Könnte besser sein, ehrlich gesagt.«
»Aber der Prozess ist noch nicht beendet.«
»Nein, der Prozess ist nicht beendet.«
»Dann sollten Sie sich ausruhen. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?«
»Ich hatte Schreibhefte, Papier…«
»In einem Bündel bei Ihrem anderen Gepäck. Ich werde es holen. Sind Sie nicht nur Arzt, sondern auch Schriftsteller?«
»Nur zeitweilig. Ich muss einfach ein paar Gedanken zu Papier bringen.«
»Vielleicht können Sie, wenn Sie sich besser fühlen, einige dieser Gedanken mit mir teilen.«
»Vielleicht. Es wäre mir eine Ehre.«
Sie erhob sich wieder. »Vor allem über den kleinen schwarzen faltigen Mann. Den Mann vom Mars.«
In den folgenden Tagen schlief ich unregelmäßig, war beim Erwachen verblüfft über die vergangene Zeit, die plötzlich angebrochene Nacht oder den unerwarteten Morgen, und orientierte mich, so gut ich konnte, an den Gebetsrufen, den Verkehrsgeräuschen und an der Versorgung durch Ibu Ina, die mir Reis mit Curryeiern brachte und mich gelegentlich mit einem Schwamm wusch. Wir unterhielten uns, aber das Gesprochene rann durch mein Gedächtnis wie Sand durch ein Sieb, und an ihrem Gesichtsausdruck sah ich, dass ich mich gelegentlich wiederholte oder Dinge nicht mehr wusste, die sie mir erzählt hatte. Helligkeit, dann Dunkelheit, Helligkeit, dann Dunkelheit, und dann, plötzlich, Diane neben Ina am Bett kniend. Beide sahen mich ernst an.
»Er ist wach«, sagte Ina. »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich lasse Sie beide allein.«
Dann war nur noch Diane neben mir.
Sie trug eine weiße Bluse, einen weißen Schal über ihren dunklen Haaren, bauschige blaue Hosen. Von der Aufmachung her wäre sie in Padang nicht besonders aufgefallen, wenn sie auch zu groß und zu blass war, um wirklich als Einheimische durchzugehen. »Tyler.« Die Augen waren blau und groß. »Achtest du auch auf deine Flüssigkeitsaufnahme?«
»Sehe ich so schlimm aus?«
Sie streichelte meine Stirn. »Es ist nicht leicht, stimmt’s?«
»Ich habe nicht erwartet, dass es ohne Schmerzen abgeht.«
»Noch ein, zwei Wochen, dann ist es vorbei. Bis dahin…«
Sie musste nichts weitersagen. Das Medikament arbeitete sich tief ins Muskelgewebe, ins Nervengewebe vor.
»Das hier ist aber ein guter Ort. Wir haben Krampflöser, Schmerzmittel. Ina weiß, was los ist.« Sie lächelte schief. »Trotzdem… nicht unbedingt das, was wir geplant hatten.«
Unsere ursprünglichen Pläne waren auf Anonymität gegründet, jede der Bogen-Hafenstädte hätte für zahlungsfähige Amerikaner ein sicherer Ort zum Untertauchen sein sollen. Für Padang hatten wir uns nicht nur der Bequemlichkeit wegen entschieden — Sumatra war die am dichtesten beim Bogen gelegene Landmasse —, sondern auch wegen seines enorm schnellen wirtschaftlichen Wachstums und weil die jüngsten Probleme mit der New-Reformasi-Regierung in Jakarta die Stadt in eine für uns nützliche Anarchie gestürzt hatten. Ich würde die Drogenbehandlung in einem unauffälligen Hotel durchleiden, und wenn alles vorbei war — wenn ich buchstäblich generalüberholt war —, würden wir Plätze für die Überfahrt an einen Ort buchen, an dem uns kein Unheil erreichen konnte. So hatten wir es uns vorgestellt.
Womit wir nicht gerechnet hatten, das war die Rachsucht der Regierung Chaykin und ihre Entschlossenheit, an uns ein Exempel zu statuieren — sowohl für die Geheimnisse, die wir bewahrt, als auch für die, die wir bereits enthüllt hatten.
»Ich schätze, ich habe mich am falschen Ort ein bisschen zu auffällig benommen«, sagte Diane. »Ich hatte bei zwei verschiedenen Rantau-Kollektiven für uns gebucht, aber beide Abmachungen sind geplatzt, plötzlich wollten die Leute nicht mehr mit mir reden, und es war offensichtlich, dass wir viel zu viel Aufmerksamkeit erregten. Das Konsulat, die New Reformasi und die örtliche Polizei, alle haben sie unsere Beschreibung. Keine völlig präzise Beschreibung, aber nahe genug dran.«
»Und deshalb hast du diesen Leuten gesagt, wer wir sind.«
»Ich hab’s ihnen gesagt, weil sie es ohnehin schon vermutet hatten. Nicht Ibu Ina, aber mit Sicherheit Jala, ihr Ex. Das ist ein ganz gerissener Bursche. Er betreibt eine relativ respektable Reederei. Ein Großteil der Beton- und Palmölladungen, die durch den Hafen von Teluk Bayur gehen, machen dabei Station in dem einen oder anderen von Jalas Lagerhäusern. Das Rantau-gadang-Geschäft erzielt zwar weniger Gewinn, ist aber dafür steuerfrei, und diese Emigranten-Schiffe kommen auch nicht leer zurück. Außerdem hat er noch einen flotten Nebenerwerb mit Schwarzmarktrindern und -ziegen.«
»Klingt wie jemand, der uns ohne weiteres an die New Reformasi verkaufen würde.«
»Aber wir zahlen besser. Und bereiten ihm weniger Probleme mit den Gesetzen, solange wir nicht gefasst werden.«
»Was hält Ina davon?«
»Wovon? Dem Rantau gadang? Zwei ihrer Söhne und eine Tochter befinden sich in der Neuen Welt. Von Jala? Sie hält ihn für mehr oder weniger vertrauenswürdig — wenn man ihn kauft, dann bleibt er gekauft. Von uns? Sie glaubt, wir seien nicht weit vom Stand der Heiligkeit entfernt.«
»Wegen Wun Ngo Wen?«
»Hauptsächlich.«
»Was für ein Glück, dass du sie gefunden hast.«
»Es war nicht nur Glück.«
»Trotzdem sollten wir sehen, dass wir so bald wie möglich wegkommen.«
»Sobald es dir besser geht. Jala hat ein Schiff bereit. Die Capetown Maru. Das ist der Grund, warum ich zwischen hier und Padang hin- und hergependelt bin. Es gibt noch mehr Leute, die ich bezahlen muss.«
Aus Ausländern mit Geld verwandelten wir uns sehr schnell in Ausländer, die früher mal Geld hatten. »Trotzdem«, sagte ich, »ich wünschte…«
»Ja, was?« Sie strich mit einem Finger über meine Stirn, hin und her, ganz langsam.
»Ich wünschte, ich müsste nicht alleine schlafen.«
Sie lachte kurz auf und legte ihre Hand auf meine Brust. Auf meinen ausgemergelten Brustkorb, auf die noch immer hässliche Krokodilhaut. Nicht gerade eine Anregung für Intimes. »Es ist zu heiß zum Kuscheln.«
»Zu heiß?«
Ich hatte die ganze Zeit gezittert.
»Armer Tyler.«
Ich wollte ihr sagen, sie solle vorsichtig sein. Aber vorher machte ich noch kurz die Augen zu — und als ich sie wieder öffnete, war sie nicht mehr da.
Schlimmeres würde unvermeidlich folgen, aber tatsächlich fühlte ich mich in den nächsten Tagen viel besser — das Auge des Sturms, wie Diane es genannt hatte. Es war, als hätten die marsianische Substanz und mein Körper einen vorläufigen Waffenstillstand ausgehandelt, Gelegenheit für beide Seiten, sich für die Entscheidungsschlacht zu sammeln. Ich versuchte, mir die Atempause zunutze zu machen.
Ich aß alles, was Ina mir anbot, und von Zeit zu Zeit lief ich im Zimmer hin und her, um ein wenig Energie in meine dürren Beine zu leiten. Hätte ich mich kräftiger gefühlt, wäre mir diese Betonschachtel (in der medizinischer Bedarf aufbewahrt worden war, bevor Ina sich ein an die Klinik angrenzendes alarmgesichertes Lager hatte bauen lassen) vielleicht wie eine Gefängniszelle vorgekommen, unter den gegebenen Umständen war sie sogar beinahe gemütlich. Ich stapelte unsere Hartschalenkoffer in eine Ecke und verwendete sie, auf einer Schilfmatte sitzend, als eine Art Schreibtisch. Das hohe Fenster ließ ein bisschen Sonnenlicht ins Zimmer strömen.
Und es ließ auch einen einheimischen Schuljungen ins Zimmer blicken, dessen Augen ich bereits zweimal auf mich gerichtet gesehen hatte. Als ich Ina davon berichtete, nickte sie, verschwand kurz und kehrte wenig später mit dem Jungen im Schlepptau zurück. »Das ist En«, sagte sie und warf ihn mir, durch den Vorhang hindurch, praktisch in die Arme. »En ist zehn Jahre alt. Er ist sehr gescheit. Er möchte einmal Arzt werden. Außerdem ist er der Sohn meines Neffen. Unglücklicherweise ist er mit großer Neugier geschlagen, was manchmal zu Lasten der Vernunft geht. Er ist auf die Mülltonne geklettert, um zu sehen, was ich in meinem Hinterzimmer versteckt habe. Unverzeihlich. Entschuldige dich bei meinem Gast, En.«
En ließ den Kopf so tief hängen, dass ich Sorge hatte, seine riesige Brille würde ihm von der Nase rutschen. Er murmelte etwas vor sich hin.
»Auf Englisch«, sagte Ina.
»Sorry!«
»Nicht sehr elegant, aber inhaltlich korrekt. Vielleicht kann En etwas für Sie tun, Pak Tyler, um sein schlechtes Benehmen wieder gutzumachen?«
En war offensichtlich in der Bredouille. Ich versuchte, ihn daraus zu befreien. »Außer meine Privatsphäre zu achten, wüsste ich nichts.«
»Ganz bestimmt wird er Ihre Privatsphäre von nun an respektieren — nicht wahr, En?« En wand sich und nickte. »Außerdem habe ich eine Aufgabe für ihn. En kommt fast jeden Tag zur Klinik. Wenn ich nicht zu beschäftigt bin, zeige ich ihm ein paar Sachen. Das Schaubild der menschlichen Anatomie. Das Lackmuspapier, das im Essig seine Farbe verändert. En behauptet, dankbar zu sein für solche Gefälligkeiten.« Ens Nicken bekam einen beinahe spastischen Charakter. »Als Gegenleistung — und als eine Art Wiedergutmachung für seine grobe Missachtung der Budi-Gebote — wird En ab sofort als Beobachtungsposten für die Klinik dienen. En, weißt du, was das bedeutet?«
En hörte auf zu nicken und blickte argwöhnisch drein.
»Es bedeutet, dass deine Wachsamkeit und Neugier von nun an einem guten Zwecke dienen werden. Falls irgendjemand ins Dorf kommt und sich nach der Klinik erkundigt — jemand aus der Stadt, meine ich, vor allem, wenn er wie ein Polizist aussieht oder sich so benimmt —, wirst du sofort hergelaufen kommen und mir Bescheid sagen.«
»Auch wenn ich gerade in der Schule bin?«
»Ich bezweifle, dass die New Reformasi euch in der Schule belästigen werden. Wenn du in der Schule bist, konzentrier dich auf den Unterricht. Ansonsten, auf der Straße, an einem Warung, wo auch immer, sobald du etwas siehst oder mithörst, was mich oder die Klinik oder Pak Tyler — von dem du nicht sprechen darfst — betrifft, kommst du sofort hierher. Hast du verstanden?«
»Ja«, erwiderte En und murmelte noch etwas, das ich nicht verstand.
»Nein«, sagte Ina schnell, »Zahlungen sind damit nicht verbunden. Was für eine beschämende Frage! Allerdings, falls ich zufrieden bin, könnten gewisse Vergünstigungen folgen. Im Augenblick bin ich ganz und gar nicht zufrieden.«
En sauste davon, und sein übergroßes weißes T-Shirt flatterte hinter ihm her.
In der Dunkelheit einer regnerischen Nacht wusch mich Ibu Ina, rieb und spülte einen Sumpf abgestorbener Haut von meinem Körper.
»Erzählen Sie mir etwas von ihnen, an das Sie sich erinnern. Erzählen Sie mir, wie es war, zusammen mit Diane und Jason Lawton aufzuwachsen.«
Ich dachte darüber nach. Oder besser gesagt, ich tauchte in den trüben Teich der Erinnerung, um dort etwas Geeignetes für sie zu finden, etwas, das nicht nur wahr, sondern auch irgendwie bezeichnend war. Ich bekam nicht genau das zu fassen, was ich wollte, aber es trieb doch etwas an die Oberfläche: ein sternenheller Himmel, ein Baum. Der Baum war eine Silberpappel, dunkel und geheimnisvoll. »Einmal sind wir zelten gefahren«, sagte ich. »Das war vor dem Spin, aber nicht lange.«
Es war angenehm, die tote Haut abspülen zu lassen, jedenfalls zuerst, denn die freigelegte neue Haut war extrem empfindlich. Die erste Berührung des Schwamms war lindernd, die zweite fühlte sich an wie Jod auf einer feinen Fleischwunde. Ina war sich dessen bewusst.
»Sie drei? Waren Sie nicht noch ein bisschen jung dafür, ein Zeltausflug, ich meine, nach den Gepflogenheiten dort, wo Sie herkommen? Oder sind Sie mit Ihren Eltern gefahren?«
»Nein. E. D. und Carol sind einmal im Jahr in die Ferien gefahren, zu den einschlägigen Urlaubsorten oder auf einem Kreuzschiff, vorzugsweise ohne Kinder.«
»Und Ihre Mutter?«
»Ist lieber zu Hause geblieben. Es war ein Ehepaar aus der gleichen Straße, das uns in die Adirondacks mitgenommen hat, zusammen mit ihren eigenen zwei Söhnen, Teenager, die nichts mit uns zu tun haben wollten.«
»Warum haben sie dann… oh, ich vermute, der Vater wollte sich bei E. D. Lawton einschmeicheln? Vielleicht, um ihn selbst um einen Gefallen bitten zu können?«
»So ungefähr. Ich habe nicht nachgefragt. Genauso wenig wie Jason. Diane mag es gewusst haben — sie hat auf solche Sachen geachtet.«
»Ist auch nicht so wichtig. Sie sind zu einem Zeltplatz in den Bergen gefahren? Jetzt mal auf die Seite drehen, bitte.«
»Einer von diesen Campingplätzen mit angeschlossenem Parkplatz. Nicht gerade unberührte Natur. Aber es war ein Wochenende im September und wir hatten das Gelände fast für uns. Wir haben die Zelte aufgebaut und ein Feuer angemacht. Die Erwachsenen…«Jetzt fiel mir auch ihr Name wieder ein. »Die Fitches haben Lieder gesungen, und wir mussten beim Refrain mitsingen. Offenbar hatten sie schöne Erinnerungen an die Sommerlager ihrer Jugend. Im Grunde war es ziemlich deprimierend. Die Fitch-Söhne fanden es total schrecklich und haben sich die ganze Zeit mit Kopfhörern in ihrem Zelt versteckt. Die Eltern haben dann irgendwann aufgegeben und sind zu Bett gegangen.«
»Und haben euch drei beim Lagerfeuer zurückgelassen. War es eine klare Nacht oder eine regnerische, wie heute?«
»Eine klare Frühherbstnacht.« Ganz bestimmt nicht wie die jetzige, mit ihrem Froschgequake und dem aufs dünne Dach hämmernden Regen. »Kein Mond, aber eine Menge Sterne. Nicht warm, aber auch nicht richtig kalt, obwohl wir ein ganzes Stück weit oben in den Bergen waren. Windig. So windig, dass man der Unterhaltung der Bäume lauschen konnte.«
Ina lächelte. »Die Unterhaltung der Bäume? Ja, ich weiß, wie das klingt. Und jetzt auf die linke Seite, bitte.«
»Der Ausflug war langweilig gewesen, aber jetzt, wo wir drei unter uns waren, wurde es besser. Jason holte eine Taschenlampe und wir gingen ein bisschen vom Feuer weg, zu einer Lichtung in einem Pappelhain, weg von den Autos und Zelten und Leuten, eine Stelle, wo der Hügel nach Westen hin abfiel. Jason zeigte uns, wie das Zodiakallicht am Himmel aufstieg.«
»Was ist das Zodiakallicht?«
»Sonnenlicht, das von Eispartikeln im Asteroidengürtel reflektiert wird. In sehr klaren, dunklen Nächten kann man es manchmal sehen.« Beziehungsweise konnte man, vor dem Spin. Gab es das Zodiakallicht immer noch, oder hatte der solare Druck das Eis weggefegt? »Es kam vom Horizont herauf wie Atem im Winter, weit entfernt, ganz zart und fein. Diane war fasziniert. Sie hörte zu, wie Jason es uns erklärte, und damals haben Jasons Erklärungen sie noch fasziniert — sie war dem noch nicht entwachsen. Sie liebte seine Intelligenz, liebte ihn für seine Intelligenz…«
»Genau wie Jasons Vater vielleicht? Auf den Bauch jetzt bitte.«
»Aber nicht auf diese besitzergreifende Weise. Es war das reine kulleräugige Entzücken.«
»Entschuldigung, kulleräugig?«
»Große Augen machen. Jedenfalls, dann wurde der Wind stärker und Jason richtete die Taschenlampe auf die Pappeln, damit Diane sehen konnte, wie die Zweige sich bewegten.« Und damit kehrte eine sehr lebendige Erinnerung an die junge Diane zurück: in einem Pullover, der mindestens eine Größe zu groß war, die Hände in Strickwolle vergraben, die Arme umeinander geschlungen, das Gesicht nach oben gerichtet und in den Augen die Spiegelung des Lichtkegels. »Er zeigte ihr, wie die großen Äste sozusagen in Zeitlupe schaukelten, während die Bewegung der Zweige viel schneller war. Das lag daran, dass jeder Ast und jeder Zweig eine Resonanzfrequenz besaß, wie Jason es nannte. Und diese Resonanzfrequenzen könne man sich als musikalische Noten vorstellen — die Bewegung des Baums im Wind sei eigentlich eine Musik, die das menschliche Ohr nur nicht wahrnehmen könne, der Baumstamm gebe den Bass vor, die Äste sängen die Tenorlinien und die Zweige spielten die Piccoloflöte. Oder man könne sie, sagte er, als reine Zahlen begreifen, jede einzelne Resonanz, vom Wind selbst bis zum Zittern eines Blattes, eine Berechnung innerhalb einer Berechnung innerhalb einer weiteren Berechnung.«
»Sie beschreiben das sehr schön.«
»Nicht halb so schön, wie Jason es beschrieben hat. Es war, als sei er in die Welt verliebt, jedenfalls in ihre Strukturen. Die Musik in ihr. Aua!«
»Entschuldigung. Und Diane war in Jason verliebt?«
»Verliebt darin, seine Schwester zu sein. Stolz auf ihn.«
»Und waren Sie darin verliebt, sein Freund zu sein?«
»Vermutlich.«
»Und verliebt in Diane.«
»Ja.«
»Und sie in Sie.«
»Vielleicht. Ich habe es gehofft.«
»Was, wenn ich fragen darf, ist dann schief gelaufen?«
»Wie kommen Sie darauf, dass irgendetwas schief gelaufen sei?«
»Sie sind offensichtlich noch immer verliebt. Sie beide, meine ich. Aber nicht so wie ein Mann und eine Frau, die seit vielen Jahren zusammen sind. Etwas muss Ihrem Zusammensein im Weg gewesen sein… Entschuldigen Sie, ich bin ganz furchtbar aufdringlich.«
Ja, etwas war uns im Weg gewesen. Vieles. Am augenfälligsten, nehme ich an, der Spin. Er hatte ihr so viel Angst gemacht, aus Gründen, die ich nie richtig begriffen hatte; als sei der Spin eine Herausforderung und eine Absage an alles, was ihr Sicherheit gab. Was gab ihr Sicherheit? Der ordentliche Gang des Lebens: Freunde, Familie, Arbeit — eine Art fundamentaler Verständigkeit in der Einrichtung der Welt, die im Großen Haus von E. D. und Carol Lawton bereits ziemlich prekär gewirkt haben muss, mehr ersehnt als wirklich gegeben.
Das Große Haus hatte sie betrogen, und schließlich hatte sogar Jason sie betrogen. Immer noch präsentierte er ihr wissenschaftliche Ideen wie ein ausgefallenes Geschenk, aber was früher zu ihrer Beruhigung beigetragen hatte — die behaglichen Durakkorde Newtons und Euklids —, wurde nun immer fremder und befremdlicher: die Planck-Länge (unterhalb derer sich die Dinge nicht mehr verhielten wie Dinge); schwarze Löcher, von ihrer eigenen unergründbaren Dichte in eine Sphäre jenseits von Ursache und Wirkung gebannt; ein Universum, das sich nicht nur immer weiter ausdehnte, sondern auch beschleunigte, seinem eigenen Verfall entgegen. Wenn sie ihre Hand auf das Fell ihres Hundes lege, so erzählte sie mir einmal, als St. Augustine noch lebte, dann wolle sie seine Wärme und Lebendigkeit spüren — nicht seine Herzschläge zählen oder sich die riesigen Zwischenräume zwischen den Atomkernen und den Elektronen vergegenwärtigen, die sein körperliches Dasein begründeten. St. Dog sollte er selbst und ein Ganzes sein, nicht die Summe seiner furchterregenden Teile, nicht ein flüchtiges evolutionäres Epiphänomen im Leben eines sterbenden Sterns. In ihrem Leben gebe es wenig genug Liebe und Zuneigung, daher müsse jedes bisschen davon gutgeschrieben und im Himmel eingelagert werden, als Vorrat für den Winter des Universums.
Als dann der Spin kam, muss er ihr wie eine monströse Bestätigung für Jasons Weltbild erschienen sein — um so mehr, als er sich so obsessiv damit beschäftigte. Offensichtlich gab es intelligentes Leben in anderen Teilen der Galaxis, und es hatte, ebenso offensichtlich, keinerlei Ähnlichkeit mit dem unseren. Es war stark und mächtig, erschreckend geduldig und absolut gleichgültig gegen den Schrecken, den es der Welt eingejagt hatte. Wenn man sich die Hypothetischen vorstellen wollte, konnte man sich vielleicht hyperintelligente Roboter oder undurchschaubare Energiewesen ausmalen, niemals aber die Berührung einer Hand, einen Kuss, ein warmes Bett oder ein tröstendes Wort.
Also hatte sie den Spin auf eine zutiefst persönliche Weise gehasst, und ich glaube, es war dieser Hass, der sie Simon Townsend und der NK-Bewegung in die Arme getrieben hatte. In der NK-Theologie wurde der Spin zu einem zwar heiligen, aber auch untergeordneten Ereignis erklärt: groß, aber nicht so groß wie der Gott Abrahams; schockierend, aber nicht so schockierend wie ein gekreuzigter Erlöser, wie eine leere Grabkammer.
Ich erzählte Ina einiges davon. Sie sagte: »Ich bin natürlich keine Christin. Ich bin nicht einmal muslimisch genug, um die örtlichen Behörden zufriedenzustellen. Vom westlichen Atheismus korrumpiert, das bin ich. Aber sogar im Islam gab es solche Bewegungen. Leute, die irgendwas über Imam Mehdi und Ad-Dajjal dahergeplappert haben, über Gog und Magog, die den See von Galiläa leer trinken. Weil sie dachten, damit könnten sie die Welt besser erklären. So. Ich bin fertig.« Sie hatte meine Fußsohlen abgerieben. »Haben Sie diese Dinge von Diane schon immer gewusst?«
In welchem Sinne gewusst? Gefühlt, vermutet, geahnt, aber gewusst — nein, das konnte ich nicht behaupten.
»Dann ist es vielleicht so, dass die marsianische Substanz Ihre Erwartungen erfüllt«, sagte Ina, als sie mit ihrem verchromten Topf voll warmem Wasser und ihren verschiedenen Schwämmen wider ging. Darüber konnte ich dann im Dunkel der Nacht noch ein bisschen nachdenken.
Es gab drei Türen, durch die man Inas Klinik betreten oder verlassen konnte. Einmal, als ihr letzter angemeldeter Patient mit einem geschienten Finger gegangen war, führte sie mich durch das Haus.
»Dies ist das, was ich im Laufe meines Lebens aufgebaut habe«, sagte sie. »Wenig genug, mögen Sie denken. Aber die Menschen hier im Dorf brauchten etwas, das näher ist als das Krankenhaus in Padang — eine beträchtliche Entfernung, vor allem, wenn man mit dem Bus fahren muss oder die Straßen nicht verlässlich sind.«
Eine Tür war die Eingangstür, durch die ihre Patienten kamen und gingen.
Eine Tür war die Hintertür, metallverstärkt und stabil. Ina parkte ihr kleines Solarzellenauto auf dem festgetretenen Platz hinter der Klinik, und sie benutzte diese Tür, wenn sie morgens kam, und schloss sie wieder ab, wenn sie abends das Haus verließ. Die Tür befand sich gleich neben dem Zimmer, in dem ich lag, und ich war inzwischen so weit, dass ich das Geräusch ihres Schlüssels im Schloss erkannte, kurz nachdem, einen halben Kilometer entfernt, der erste Gebetsruf von der Dorfmoschee erklungen war.
Die dritte Tür war eine Seitentür, von einem kleinen Flur abgehend, der außerdem die Toilette und einige Vorratsschränke beherbergte. Hier nahm Ina Lieferungen entgegen, und es war auch die Tür, durch die En kam und ging.
En war genau so, wie Ina ihn beschrieben hatte: schüchtern, aber intelligent, klug genug jedenfalls, den medizinischen Grad zu erwerben, auf den er seine Hoffnungen gesetzt hatte. Seine Eltern waren nicht reich, sagte Ina, aber falls er ein Stipendium erringen konnte, das Vorstudium an der neuen Universität in Padang absolvierte, sich dort auszeichnete, eine Finanzierungsmöglichkeit für das Hauptstudium fand — »dann, wer weiß? Vielleicht hat das Dorf dann noch einen Arzt. So habe ich es jedenfalls damals gemacht.«
»Sie glauben, er würde zurückkommen und hier praktizieren?«
»Könnte durchaus sein. Wir gehen weg, wir kommen wieder.« Sie zuckte mit den Achseln, als sei das der natürliche Lauf der Dinge. Und für die Minang war es das auch: Rantau, die Tradition, junge Männer in die Fremde zu schicken, gehörte zum System des Adat, Brauch und Verpflichtung. Adat, wie auch der konservative Islam, hatte in den letzten dreißig Jahren unter dem Einfluss der Modernisierung gewisse Auflösungserscheinungen gezeigt, pulsierte aber noch wie ein Herz unter der Oberfläche des Minang-Lebens.
En war eingeschärft worden, mich nicht zu belästigen, doch allmählich verlor er seine Scheu vor mir. Mit Inas ausdrücklicher Erlaubnis konnte er, wenn ich gerade keinen Fieberanfall hatte, seinen englischen Wortschatz verfeinern, indem er mir Lebensmittel brachte und sie für mich benannte: silomak, klebriger Reis; singgam ayam, Curryhühnchen. Wenn ich »Danke« sagte, rief En »Bitte sehr!« und grinste, wobei er seine strahlend weißen, aber krumm und schief stehenden Zähne zeigte (Ina versuchte seine Eltern davon zu überzeugen, dass er eine Zahnklammer brauchte).
Ina selbst teilte sich mit Verwandten im Dorf ein kleines Haus; allerdings hatte sie in letzter Zeit in einem der Sprechzimmer der Klinik geschlafen, das auch nicht gemütlicher gewesen sein dürfte als meine trübe Zelle. Doch manchmal zwangen familiäre Verpflichtungen sie, über Nacht nach Hause zu gehen. In diesem Fall überprüfte sie meine Temperatur und meinen allgemeinen Zustand, versorgte mich mit Essen und Wasser und ließ mir für Notfälle einen Pager da. Und dann war ich allein, bis am nächsten Morgen ihr Schlüssel wieder im Türschloss klapperte.
Eines Nachts jedoch erwachte ich aus einem wilden, labyrinthischen Traum, aufgeschreckt durch das Rütteln der Seitentür, an deren Türknopf jemand vergeblich drehte, um sie zu öffnen. Nicht Ina. Falsche Tür. Falsche Tageszeit. Nach meiner Uhr war es Mitternacht, erst der Anfang der tiefsten Nacht; einige wenige Dorfbewohner würden noch bei dem einen oder anderen warung herumhängen, Autos auf der Hauptstraße fahren, Lastwagen versuchen, bis zum Morgen irgendeine ferne desa zu erreichen. Vielleicht war es ein Patient, der sie noch anzutreffen hoffte. Vielleicht auch ein Süchtiger auf der Suche nach Drogen.
Das Drehen am Knopf hörte auf.
Leise erhob ich mich, streifte Jeans und ein T-Shirt über. Die Klinik war dunkel, meine Zelle war dunkel, das einzige Licht lieferte der Mond durchs hohe Fenster… das plötzlich verdunkelt war.
Ich blickte auf und sah die Silhouette von Ens Kopf, der vor dem Fenster schwebte wie ein neuer Planet. »Pak Tyler«, flüsterte er.
»En! Du hast mich ganz schön erschreckt.« Tatsächlich waren mir vor Schreck sogar die Beine weich geworden — ich musste mich gegen die Wand lehnen, um nicht umzufallen.
»Lassen Sie mich rein!«
Also tappte ich barfuß los und entriegelte die Seitentür. Die hereinrauschende Brise war warm und feucht. En rauschte hinterher. »Ich muss mit Ibu Ina sprechen!«
»Sie ist nicht da. Was ist los, En?«
Er war äußerst beunruhigt. Er stieß seine Brille über den Nasenhöcker nach oben. »Aber ich muss mit ihr sprechen!«
»Sie ist heute über Nacht zu Hause. Du weißt, wo sie wohnt?«
Er nickte unglücklich. »Aber sie sagte, ich soll hierher kommen und ihr Bescheid sagen.«
»Was? Ich meine, wann hat sie das gesagt?«
»Wenn ein Fremder nach der Klinik fragt, soll ich herkommen und ihr Bescheid sagen.«
»Aber sie ist nicht…« Jetzt erst durchstieß die Bedeutung seiner Worte den Nebel des beginnenden Fiebers. »En, ist jemand in der Stadt, der sich nach Ibu Ina erkundigt?«
Stück für Stück entlockte ich ihm die Geschichte. En wohnte mit seiner Familie in einem Haus hinter einem warung (eine Art Imbissstand) mitten im Dorf, nur drei Häuser vom Büro des Bürgermeisters, dem kepala desa, entfernt. Wenn En nachts wach lag, konnte er von seinem Zimmer aus die Unterhaltung der Kunden am warung hören. Auf diese Weise hatte er sich einen enzyklopädischen, wenn auch kaum begriffenen Vorrat an Dorfklatsch angeeignet. Nach Einbruch der Dunkelheit waren es hauptsächlich die Männer, die noch draußen saßen, redeten und Kaffee tranken, Ens Vater, die Onkel und Nachbarn. Aber heute waren zwei Fremde in einem schnittigen schwarzen Auto angekommen, hatten sich, kühn wie Wasserbüffel, den Lichtern des warung genähert und, ohne sich vorzustellen, gefragt, wo die hiesige Klinik zu finden sei. Keiner der beiden war krank. Sie trugen Stadtkleidung, benahmen sich unhöflich und verhielten sich wie Polizisten, daher war die Wegbeschreibung, die sie von Ens Vater erhielten, vage und irreführend, sodass sie erst einmal genau in die falsche Richtung fahren würden.
Aber sie suchten nach Inas Klinik und würden sie zwangsläufig irgendwann finden; in einem Dorf dieser Größe konnte die Irreführung bestenfalls einen Aufschub bewirken. Also hatte En sich schnell angezogen, war ungesehen aus dem Haus geflitzt und, wie angewiesen, hierher gekommen, um die Abmachung mit Ibu Ina zu erfüllen und sie vor der Gefahr zu warnen.
»Sehr gut«, versicherte ich ihm. »Gute Arbeit, En. Jetzt musst du aber zu ihr nach Hause laufen und ihr alles erzählen.« Und unterdessen würde ich meine Sachen zusammenpacken und die Klinik verlassen. Mich in den benachbarten Reisfeldern verstecken, bis die Polizisten wieder verschwunden waren. Ich war kräftig genug, um das zu schaffen. Wahrscheinlich.
Aber En verschränkte die Arme und wich vor mir zurück. »Sie hat gesagt, ich soll hier auf sie warten.«
»Okay. Aber vor morgen Früh kommt sie nicht zurück.«
»Meistens schläft sie hier.« Er reckte den Kopf und versuchte an mir vorbei durch den dunklen Flur zu spähen, als könne sie jeden Moment aus dem Sprechzimmer kommen.
»Ja, aber nicht heute. Ehrlich. En, die Sache könnte gefährlich werden. Diese Leute sind möglicherweise Feinde von Ibu Ina, verstehst du?«
Aber eine blinde Starrköpfigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen. So freundlich wir zuletzt miteinander umgegangen waren, traute En mir doch noch immer nicht über den Weg. Einen Moment zitterte er vor sich hin, die Augen weit aufgerissen wie ein Lemur, dann schoss er an mir vorbei, lief den mondbeschienenen Flur hinunter und rief: »Ina! Ina!«
Ich jagte hinter ihm her, machte dabei verschiedene Lampen an.
Und versuchte gleichzeitig, ein paar zusammenhängende Gedanken zu fassen. Die unfreundlichen Männer, die nach der Klinik suchten, konnten New Reformasi aus Padang sein, oder auch örtliche Polizei, oder aber sie arbeiteten für Interpol oder das US-Außenministerium oder irgendeine andere Einrichtung, die die Regierung Chaykin wie einen Hammer zu schwingen wusste.
Und falls sie nach mir suchten — bedeutete das, dass sie Jala, Inas Ex-Mann, gefunden und verhört hatten? Bedeutete es, dass sie Diane bereits verhaftet hatten?
En stürzte in ein dunkles Sprechzimmer. Seine Stirn kollidierte mit den Haltern eines Untersuchungstisches, er prallte zurück und setzte sich auf den Hintern. Als ich bei ihm ankam, weinte er lautlos, völlig verunsichert. Der Striemen über seiner linken Augenbraue sah wüst aus, aber nicht gefährlich.
Ich legte meine Hände auf seine Schultern. »En, sie ist nicht hier. Wirklich wahr. Sie ist wirklich, ehrlich nicht hier. Und sie möchte unter Garantie nicht, dass du hier im Dunkeln sitzt und wartest, während irgendetwas Schlimmes passiert. Das würde sie wirklich nicht wollen, oder?«
»Uhum«, konzedierte En.
»Also läufst du jetzt nach Hause, okay? Du läufst nach Hause und bleibst dort. Ich kümmere mich hier um dieses Problem, und wir beide sehen dann Ibu Ina morgen wieder. Ja?«
En versuchte, den ängstlichen Blick gegen einen kritisch abwägenden zu tauschen. »Ich glaube ja«, sagte er.
Ich half ihm auf die Füße. Und dann ertönte vor der Klinik das Geräusch von Autoreifen, die auf dem Kies knirschten.
Geduckt eilten wir ins Empfangszimmer, wo ich durch die Bambusjalousien spähte, während En hinter mir stand, die kleinen Hände in mein T-Shirt gekrallt.
Das Auto lief im Leerlauf. Ich konnte die Marke nicht erkennen, aber es schien relativ neu zu sein, dem tiefblauen Glanz im Mondschein nach zu urteilen. Im Wageninnern leuchtete es kurz auf, vielleicht ein Zigarettenanzünder. Dann ein viel helleres Licht, eine Stablampe, die aus dem Beifahrerfenster gehalten wurde. Sie strahlte durch die Jalousie hindurch und warf wogende Schatten über die Hygieneplakate an der Wand gegenüber. Wir zogen die Köpfe ein.
»Pak Tyler«, wimmerte En.
Ich schloss die Augen und stellte fest, dass es mir schwer fiel, sie wieder zu öffnen. Hinter meinen Lidern sah ich Windmühlen und Sternregen. Das Fieber wieder. Ein kleiner Chor von inneren Stimmen wiederholte: Das Fieber wieder, das Fieber wieder… Mir zum Hohn.
»Pak Tyler!«
Das war verdammt schlechtes Timing. (Schlechtes Timing, schlechtes Timing…) »Geh zur Tür, En. Zur Seitentür.«
»Kommen Sie mit!«
Ein guter Rat. Ich warf noch einen Blick durchs Fenster. Der Scheinwerfer war ausgegangen. Dann führte ich En den Flur entlang, an den Vorratschränken vorbei, zur Seitentür, die er offengelassen hatte. Die Nacht war trügerisch still, trügerisch einladend; eine Fläche festgetretenen Bodens, ein Reisfeld, der Wald, Palmen, schwarz im Mondschein, ihre Kronen sanft hin und her wogend.
Zwischen uns und dem Auto befand sich das Klinikgebäude. »Lauf geradewegs zum Wald«, sagte ich.
»Ich kenne den Weg.«
»Halt dich von der Straße fern. Versteck dich, wenn nötig.«
»Kommen Sie mit mir.«
»Ich kann nicht«, sagte ich, und das war wortwörtlich gemeint. In meinem gegenwärtigen Zustand war die Vorstellung, hinter einem Zehnjährigen herzusprinten, völlig absurd.
»Aber…«
Ich gab ihm einen kleinen Stoß und sagte, er solle keine Zeit vergeuden.
Er rannte, ohne zurückzublicken, verschwand mit fast erschreckender Geschwindigkeit im Schatten, still, klein, bewundernswert. Ich beneidete ihn. In der darauf folgenden Stille hörte ich, wie eine Autotür geöffnet, dann wieder geschlossen wurde.
Der Mond war drei Viertel voll, er wirkte rötlicher und ferner als früher, zeigte ein anderes Gesicht, als ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Kein Mann im Mond mehr, und diese dunkle ovale Narbe auf der Oberfläche, dieses neue, aber inzwischen schon uralte Mare, war das Ergebnis eines gewaltigen Aufpralls, der vom Pol bis zum Äquator Regolith zum Schmelzen gebracht und die sanfte Spiralbewegung des Mondes von der Erde weg abgebremst hatte.
Hinter mir hörte ich die Polizisten — zwei, vermutete ich — gegen die Eingangstür hämmern. In barschem Ton begehrten sie Einlass, rüttelten am Schloss.
Ich fasste die Möglichkeit ins Auge, loszurennen. Ich glaubte rennen zu können — nicht so flink wie En, aber jedenfalls weit genug. Bis zum Reisfeld etwa. Um mich dort zu verstecken und das Beste zu hoffen.
Doch dann dachte ich an das Gepäck im Zimmer. Gepäck, das nicht nur aus Kleidung bestand, sondern auch aus Notizheften und Disketten, kleinen Digitalspeichern und verräterischen Fläschchen mit durchsichtiger Flüssigkeit.
Ich kehrte um. Ins Haus zurück. Ich verriegelte die Tür hinter mir. Langsam schlich ich den Gang hinunter, lauschte nach den Geräuschen der Polizisten. Vielleicht umkreisten sie das Gebäude, vielleicht versuchten sie es noch mal an der Vordertür. Das Fieber steigerte sich jedoch ziemlich rapide und ich hörte alle möglichen Geräusche, von denen vermutlich nur die wenigsten nicht halluziniert waren.
In meinem Zimmer angekommen, bewegte ich mich mit Hilfe des Tastsinns und des Mondscheins. Ich öffnete einen der beiden Hartschalenkoffer und stopfte einen Stapel handbeschriebener Seiten hinein, machte ihn wieder zu, verschloss ihn, hob ihn an und geriet ins Schwanken. Ich packte den anderen Koffer fürs Gleichgewicht und stellte fest, dass ich kaum noch laufen konnte.
Ich stolperte beinahe über einen kleinen Plastikgegenstand, den ich als Inas Pager identifizierte. Ich blieb stehen, stellte die Koffer ab, hob den Pager auf und stopfte ihn mir in die Hemdtasche. Dann holte ich einige Male tief Luft und nahm die Koffer wieder auf; rätselhafterweise schienen sie jetzt sogar noch schwerer zu sein. Du kannst es, du schaffst es, sagte ich mir vor, aber die Worte klangen abgedroschen und wenig überzeugend, und sie hallten wider, als habe mein Schädel sich auf die Größe einer Kathedrale ausgedehnt.
Ich hörte Geräusche von der Hintertür, die Ina immer von außen mit einem Vorhängeschloss verriegelte: klirrendes Metall und das Ächzen des Riegels, vielleicht ein Brecheisen, zwischen die Bügel des Schlosses gebohrt und herumgedreht. Schon bald, unvermeidlich, würde das Schloss nachgeben und die Männer würden ins Gebäude gelangen.
Ich wankte zur dritten Tür, Ens Tür, die Seitentür, entriegelte sie und öffnete sie vorsichtig, im blinden Vertrauen darauf, dass niemand draußen stehen würde. Es war auch keiner da, beide Eindringlinge (falls es nur zwei waren) standen an der Hintertür. Sie flüsterten miteinander, während sie an dem Schloss zugange waren, trotz der Froschchöre und des Heulens des Windes waren ihre Stimmen schwach zu hören.
Ich war mir nicht sicher, ob ich es bis zum Reisfeld schaffen würde, ohne gesehen zu werden. Schlimmer noch, ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, ohne hinzufallen.
Doch dann gab es einen lauten Knall — offensichtlich hatte sich das Schloss von der Tür verabschiedet. Der Startschuss, dachte ich. Du kannst das, dachte ich. Ich schnappte mir mein Gepäck und schwankte barfuß hinaus in die sternenklare Nacht.