Acht Monate nach Wun Ngo Wens Rede vor den Vereinten Nationen begannen die gekühlten Zuchtbecken im Perihelion-Labor, nutzlastfähige Mengen marsianischer Replikatoren hervorzubringen, und in Canaveral und Vandenberg wurden die Delta-7-Flotten bereit gemacht, um sie ins All zu tragen. Ungefähr um diese Zeit entstand in Wun der dringende Wunsch, den Grand Canyon zu sehen. Auslöser für sein Interesse war eine Ausgabe der Zeitschrift Arizona Highways gewesen, die einer von den Biologen in seinem Quartier hatte liegen lassen.
Er zeigte sie mir einige Tage später. »Schauen Sie.« Beinahe zitternd vor Eifer, blätterte er die Seiten einer Fotoreportage über die Wiederinstandsetzung des Bright-Angel-Wanderwegs auf. Der Colorado River, der durch präkambrischen Sandstein schnitt und einzelne grüne Tümpel bildete. Ein Tourist aus Dubai auf einem Maultier. »Haben Sie schon mal davon gehört, Tyler?«
»Ob ich schon mal was vom Grand Canyon gehört habe? Ja, ich glaube, die meisten Leute haben das.«
»Er ist wirklich erstaunlich. Sehr, sehr schön.«
»Spektakulär. So heißt es. Aber ist nicht gerade der Mars für seine Schluchten berühmt?«
Er lächelte. »Sie sprechen von den Gefallenen Landen. Ihre Leute haben sie Valles Marineris genannt, als sie sie vor sechzig Jahren — vor hunderttausend Jahren — vom Weltraum aus entdeckten. Teile davon sehen diesen Fotografien tatsächlich sehr ähnlich. Aber ich bin nie dort gewesen. Und ich nehme auch nicht an, dass ich noch einmal Gelegenheit dazu haben werde. Ich glaube, ich würde stattdessen gerne den Grand Canyon besuchen.«
»Dann besuchen Sie ihn. Dies ist ein freies Land.«
Wun quittierte die Redensart — womöglich war es das erste Mal, dass er sie hörte — mit einem Blinzeln und nickte. »Ja, das mache ich. Ich werde mit Jason über die Reisemöglichkeiten sprechen. Möchten Sie nicht mitkommen?«
»Was, nach Arizona?«
»Ja, Tyler, nach Arizona, zum Grand Canyon.« Er mochte ein Vierter sein, aber in diesem Augenblick klang er eher wie ein Zehnjähriger. »Wollen Sie mit mir hinfahren?«
»Darüber muss ich nachdenken.«
Ich war noch mit Nachdenken beschäftigt, als ich einen Anruf von E. D. erhielt.
Seit Preston Lomax’ Wahl zum Präsidenten war E. D. Lawton politisch unsichtbar geworden. Seine Kontakte zur Industrie bestanden zwar noch — wenn er eine Party schmiss, konnte man davon ausgehen, dass mächtige Leute auftauchten —, doch er würde nie wieder die Art von Einfluss geltend machen können, derer er sich zu Garlands Amtszeit erfreut hatte. Es gab sogar Gerüchte, dass er sich in einem Zustand psychischen Verfalls befand, eingebunkert in seine Wohnung in Georgetown, von wo aus er ehemalige politische Verbündete mit unerwünschten Anrufen behelligte. Das mochte wohl so sein, aber weder Jason noch Diane hatten in letzter Zeit von ihm gehört, daher war ich einigermaßen perplex, als ich den Hörer abnahm und seine Stimme hörte.
»Ich möchte mit dir reden«, sagte er.
Was eine durchaus interessante Aussage war von einem Mann, der Molly Seagrams sexuelle Spionageaktion finanziert, wenn nicht gar erdacht hatte. Mein erster, wahrscheinlich gesunder Impuls war, gleich wieder aufzulegen, aber als Geste erschien mir das unangemessen.
»Es geht um Jason«, fügte er hinzu.
»Dann reden Sie doch mit Jason.«
»Das kann ich nicht, Tyler. Er hört mich nicht an.«
»Wundert Sie das?«
Er seufzte. »Okay, du stehst natürlich auf seiner Seite. Aber ich will ihm ja nichts Böses. Und es ist sogar dringend. In Bezug auf sein eigenes Wohl.«
»Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
»Und ich kann es am Scheißtelefon nicht erklären. Ich bin gerade in Florida, zwanzig Minuten von dir. Komm ins Hotel, ich geb dir einen aus und du kannst mir ins Gesicht sagen, dass ich mich verziehen soll. Bitte, Tyler. Acht Uhr, Hotelbar im Hilton, an der Fünfundneunzig. Vielleicht rettest du jemandem das Leben.«
Er legte auf, bevor ich antworten konnte.
Ich rief Jason an und erzählte ihm, was gerade passiert war.
»Wow«, sagte er. »Wenn die Gerüchte zutreffen, ist E. D. im Umgang sogar noch unangenehmer als früher. Sieh dich vor.«
»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht hinzufahren.«
»Musst du natürlich auch nicht. Aber… vielleicht solltest du.«
»Ich hab genug von E. D.s Tricks, vielen Dank.«
»Vielleicht wär’s aber besser, wenn wir wüssten, was ihn umtreibt.«
»Soll das heißen, du willst, dass ich mich mit ihm treffe?«
»Nur, wenn du dich dabei wohl fühlst.«
»Wohl fühlen?«
»Es ist natürlich deine Entscheidung.«
Also setzte ich mich in mein Auto und fuhr über den Highway, vorbei an Unabhängigkeitstagbeflaggung (morgen war der 4. Juni) und fliegenden Fahnenhändlern (ohne Lizenz, jederzeit darauf gefasst, in ihren verwitterten Pick-ups das Weite suchen zu müssen), während ich in Gedanken noch einmal all die Fahr-zur-Hölle-Reden rekapitulierte, die ich mir in den vergangenen Monaten für E. D. Lawton ausgedacht hatte. Als ich beim Hilton ankam, war die Sonne hinter den Dächern verschwunden und die Uhr am Empfang zeigte 20:35.
E. D. saß in der Bar an einem Tisch, seinen Drink vor sich. Er wirkte erst überrascht, mich zu sehen. Dann aber erhob er sich, packte meinen Arm und bugsierte mich auf die Sitzbank ihm gegenüber.
»Was zu trinken?«
»So lange bleib ich nicht.«
»Trink etwas, Tyler. Es verbessert die Einstellung.«
»Hat es Ihre Einstellung verbessert? Sagen Sie einfach, was Sie wollen, E. D.«
»Oha, daran erkenne ich, ob einer wütend ist — wenn er meinen Namen ausspricht wie eine Beleidigung. Warum bist du so sauer? Wegen der Sache mit deiner Freundin und dem Arzt, wie hieß er gleich, Malmstein? Ich habe das nicht arrangiert. Ich habe nicht mal meine Einwilligung dazu gegeben. Die Leute, die für mich gearbeitet haben, waren ein wenig übereifrig. Die Sache wurde einfach in meinem Namen abgewickelt. Nur, dass du’s weißt.«
»Das ist eine ziemlich erbärmliche Entschuldigung für ein derartiges Verhalten.«
»Ist es wohl. Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Und bitte um Verzeihung. Können wir jetzt von etwas anderem sprechen?«
An diesem Punkt hätte ich einfach gehen können. Dass ich es nicht tat, lag vermutlich an der Besorgnis, ja Verzweiflung, die er verströmte. E. D. war noch immer zu jener gedankenlosen Herablassung imstande, die ihn seiner Familie so teuer gemacht hatte, aber er besaß nicht mehr die alte Selbstsicherheit. In der Stille zwischen seinen Wortausbrüchen konnte er die Hände nicht still halten, er rieb sich das Kinn, faltete eine Serviette zusammen und wieder auseinander, strich sich über die Haare. Schweigen breitete sich aus, bis er einen guten Schluck von seinem zweiten Drink genommen hatte (nein, vermutlich nicht erst der zweite — die Vertrautheit, mit der die Kellnerin ihn bedient hatte, ließ anderes vermuten).
»Du hast Einfluss auf Jason«, sagte er schließlich.
»Wenn Sie mit Jason reden wollen, warum tun Sie es nicht auf direktem Wege?«
»Weil das nicht geht. Aus naheliegenden Gründen.«
»Was soll ich ihm denn sagen?«
E. D. starrte erst mich an, dann seinen Drink. »Du sollst ihm sagen, dass er den Stecker aus dem Replikatorenprojekt ziehen muss. Buchstäblich. Den Kühlschrank abstellen. Schluss machen.«
Jetzt war es an mir, ungläubig dreinzublicken. »Es muss Ihnen doch klar sein, wie abwegig das ist.«
»Ich bin nicht blöd, Tyler.«
»Also, warum…«
»Er ist mein Sohn.«
»Wie haben Sie denn das herausgefunden?«
»Weil wir politischen Streit hatten, ist er plötzlich nicht mehr mein Sohn? Glaubst du, ich bin so oberflächlich, dass ich das nicht trennen kann? Dass ich ihn nicht liebe, nur weil ich anderer Meinung bin?«
»Ich weiß von Ihnen nur das, was ich gesehen habe.«
»Du hast gar nichts gesehen.« Er hielt kurz inne, dann sagte er: »Jason ist nur eine Marionette in den Händen von Wun Ngo Wen. Ich möchte, dass er aufwacht und begreift, was gespielt wird.«
»Sie haben ihn dazu erzogen, eine Marionette zu sein. Ihre Marionette. Es gefällt Ihnen nur nicht, dass jetzt jemand anders einen derartigen Einfluss auf ihn hat.«
»Blödsinn, totaler Blödsinn. Oder, na gut, wenn wir hier schon mal am Beichten sind, vielleicht ist es so, ich weiß nicht, vielleicht brauchen wir alle mal eine Familientherapie, aber darum geht’s hier nicht. Es geht darum, dass alle mächtigen Leute in diesem Land auf Wun Ngo Wen und sein beschissenes Replikatorenprojekt abfahren. Aus dem offensichtlichen Grund, dass es billig ist und dem Wahlvolk einleuchtend erscheint. Wen kümmert’s da, wenn es nicht funktioniert, denn alles andere funktioniert ja auch nicht, und wenn nichts funktioniert, dann ist das Ende nahe und alle unsere Probleme erscheinen in einem anderen Licht, im Licht der roten Sonne nämlich. Stimmt’s? Ist es nicht so? Sie reden es schön, sie bezeichnen es als Spiel mit offenem Ausgang, aber in Wirklichkeit ist es ein Taschenspielertrick, um das Volk bei Laune zu halten.«
»Interessante These, aber…«
»Würde ich mich hier mit dir unterhalten, wenn ich das Ganze nur für eine interessante These hielte? Stell mir die richtigen Fragen, wenn du anzweifelst, was ich sage.«
»Welche denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel: Wer genau ist eigentlich Wun Ngo Wen? Wen repräsentiert er und was will er wirklich? Anders als er im Fernsehen glauben machen will, ist er nämlich nicht Mahatma Gandhi in der Munchkin-Version. Er ist hier, weil er etwas von uns will. Etwas, das er von Anfang an wollte.«
»Den Start der Replikatoren.«
»Offensichtlich.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Die bessere Frage wäre: Warum starten die Marsianer diese Aktion nicht selbst?«
»Weil sie nicht davon ausgehen können, dass sie für das gesamte Sonnensystem sprechen. Weil ein solches Projekt nicht unilateral in Angriff genommen werden kann.«
E. D. verdrehte die Augen. »Das sind die Sachen, die man halt so sagt, Tyler. Über Multilateralismus und Diplomatie zu sprechen, erfüllt den gleichen Zweck wie ›Ich liebe dich‹ zu sagen: man kriegt das Höschen leichter runter. Es sei denn natürlich, die Marsianer sind wirklich engelsgleiche Wesen, die vom Himmel herabgestiegen sind, um uns von allem Übel zu erlösen. Und ich nehme mal an, dass du das nicht glaubst.«
Wun hatte dies so oft von sich gewiesen, dass ich kaum widersprechen konnte.
»Ich meine, sieh dir ihre Technologie an. Diese Leute betreiben seit tausend Jahren Biotechnik. Wenn sie die Galaxie mit Nanobots bevölkern wollten, hätten sie das schon längst tun können. Also: Warum haben sie es nicht getan? Warum? Offensichtlich doch, weil sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen haben.«
»Vergeltungmaßnahmen von den Hypothetischen? Sie wissen nichts über die Hypothetischen, was wir nicht auch wissen.«
»Das behaupten sie. Braucht aber nicht zu heißen, dass sie nicht Angst vor ihnen hätten. Was uns betrifft — wir sind die Arschlöcher, die vor nicht allzu langer Zeit einen nuklearen Angriff auf die Polarartefakte unternommen haben. Ja, wir nehmen die Verantwortung auf uns, warum nicht? Herrgott, mach die Augen auf, Tyler! Das ist das klassische Täuschungsmanöver. Könnte kaum abgefeimter sein.«
»Vielleicht sind Sie aber auch nur paranoid.«
»Bin ich das? Wer bestimmt, was Paranoia in Spinzeiten heißt? Wir alle sind paranoid. Denn wir alle wissen, dass böse Mächte unser Leben kontrollieren, und schon damit entsprechen wir der Definition von Paranoia.«
»Ich bin ja nur praktischer Arzt. Aber intelligente Menschen sagen mir…«
»Du meinst natürlich Jason. Jason sagt, dass alles gut wird.«
»Nicht nur Jason. Die Regierung. Der größte Teil des Kongresses.«
»Aber die sind vom Rat der Eierköpfe abhängig. Und die Eierköpfe sind von all dem genauso hypnotisiert wie Jason. Willst du wissen, was deinen Freund antreibt? Furcht. Er hat Angst davor, unwissend zu sterben. Wenn er unwissend stirbt, dann heißt das in der Situation, in der wir uns befinden, dass die menschliche Spezies unwissend stirbt. Und das macht ihm eine Scheißangst, diese Vorstellung, dass eine ganze, dem Vernehmen nach intelligente Spezies aus dem Universum getilgt werden kann, ohne dass sie begreift, warum und wozu. Anstatt mir Paranoia zu bescheinigen, solltest du mal über Jasons Größenwahn nachdenken. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Spin zu verstehen. Da taucht Wun auf und hält ihm ein Werkzeug hin, das diesem Zweck zu dienen scheint, und natürlich greift er zu. Das ist so, als würde man einem Pyromanen ein Streichholz hinhalten.«
»Wollen Sie wirklich, dass ich ihm das erzähle?« »Ich…« E. D. wirkte plötzlich verdrossen, vielleicht war aber auch sein Alkoholspiegel zu hoch gestiegen. »Ich dachte, weil er auf dich hört…«
»Das glauben Sie nicht im Ernst.«
Er schloss kurz die Augen. »Vielleicht nicht. Ich weiß nicht. Aber ich muss es versuchen. Verstehst du das? Für mein Gewissen.« Ich war verblüfft über sein Bekenntnis, eines zu besitzen. »Lass mich offen zu dir sein. Ich habe das Gefühl, als würde ich einem Zugunglück in Zeitlupe zusehen. Die Räder schweben schon in der Luft, und der Zugführer hat es noch nicht bemerkt. Was mache ich also? Ist es zu spät, die Notbremse zu ziehen? Zu spät, ›Achtung‹ zu schreien? Vermutlich. Aber er ist mein Sohn, Tyler. Der Mann, der den Zug fährt, ist mein Sohn.« »Er ist in keiner größeren Gefahr als wir alle.« »Ich glaube, das stimmt nicht. Selbst wenn diese Sache gelingt, werden wir daraus nicht mehr gewinnen als abstrakte Information. Jason ist damit zufrieden, doch der Rest der Welt wird damit nicht zufrieden sein. Du kennst Preston Lomax nicht. Ich schon. Lomax wäre nur zu gern bereit, Jason einen Fehlschlag anzuhängen und ihn der Meute zum Fraß vorzuwerfen. In seiner Regierung gibt es eine Menge Leute, die Perihelion dichtmachen oder dem Militär überantworten wollen. Und das sind noch die besten Varianten, die ich hier ausmale. Im ungünstigsten Fall werden die Hypothetischen sauer und schalten den Spin ab.«
»Sie befürchten also, dass Lomax Perihelion dichtmacht?«
»Ich habe Perihelion aufgebaut — ja, ich mache mir deswegen Sorgen. Doch das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.«
»Ich kann Jason weitergeben, was Sie gesagt haben, aber glauben Sie, dass er darauf hören wird?«
»Ich…« Mit wässrigen Augen inspizierte er die Tischplatte. »Nein. Natürlich nicht. Aber wenn er reden möchte… Er soll wissen, dass ich erreichbar bin. Wenn er reden möchte. Ich würd’s ihm nicht zur Qual machen. Ehrlich.« Es war, als hätte er eine Tür geöffnet und seine ganze Einsamkeit würde hervorsprudeln.
Jason vermutete, dass E. D.s Erscheinen in Florida Teil irgendeines machiavellistischen Plans war. Beim alten E. D. wäre das vielleicht zutreffend gewesen, aber der neue E. D. erschien mir wie ein alternder, seiner Macht entkleideter Mann, der seine Pläne am Grund eines Glases fand und den es aus einem plötzlichen Schuldbewusstsein heraus hierher verschlagen hatte.
Mit sanfter Stimme fragte ich: »Haben Sie versucht, mit Diane zu sprechen?«
»Diane?« Er machte eine abwinkende Geste. »Diane hat ihre Telefonnummer geändert. Ich kann sie nicht erreichen. Außerdem hat sie sich ganz diesem beschissenen Weltuntergangskult hingegeben.«
»Es ist kein Kult. Nur eine kleine Kirche mit ein paar seltsamen Ideen. Es ist eher Simon, der sich da engagiert, nicht sie.«
»Sie ist vom Spin paralysiert. Genau wie der Rest eurer verdammten Generation. Sie hat sich kopfüber in diesen religiösen Quatsch gestürzt, als sie kaum aus der Pubertät raus war. Ich kann mich noch gut erinnern. Plötzlich kam sie an und hat beim Abendessen Thomas von Aquin zitiert. Ich wollte, dass Carol mit ihr darüber spricht. Aber Carol war nicht zu gebrauchen, typisch. Und weißt du, was ich dann gemacht habe? Ich habe ein Streitgespräch veranstaltet. Sie und Jason. Sechs Monate lang hatten sie über Gott diskutiert, also habe ich die Sache auf formelle Beine gestellt, so im Stil einer Collegedebatte, und der Trick dabei war, dass beide jeweils für die Sache argumentieren mussten, die sie nicht vertraten: Jason musste die Existenz Gottes verteidigen und Diane musste den atheistischen Standpunkt einnehmen.«
Davon hatten sie mir nie erzählt. Aber ich konnte mir gut vorstellen, mit welchem Unwohlsein sie sich dieser Erziehungsmaßnahme unterzogen hatten.
»Es sollte ihr demonstrieren, wie einfältig sie war. Sie hat ihr Bestes gegeben, ich glaube, sie wollte mich beeindrucken. Sie hat im Wesentlichen das wiedergegeben, was Jason zu ihr gesagt hatte. Aber Jason…« E. D.s Stolz war nicht zu übersehen. »Jason war brillant. Einfach unfassbar brillant. Er gab ihr jedes Argument zurück, das sie ihm je vorgesetzt hatte, und setzte dann noch eins drauf. Und er hat das Zeug nicht einfach nur nachgeplappert. Er hatte theologische Schriften gelesen, hatte sich mit der ganzen Bibelgelehrsamkeit beschäftigt. Und er hat die ganze Zeit gelächelt, so als wolle er sagen: Sieh her, ich kenne diese Argumente in- und auswendig, ich kenne sie mindestens genauso gut wie du, ich kann sie im Schlaf hersagen, und trotzdem halte ich sie für zutiefst falsch. Er war völlig unnachgiebig, und schließlich hat sie nur noch geweint. Sie hat bis zum Ende durchgehalten, aber die Tränen sind ihr nur so übers Gesicht gelaufen.«
Ich starrte ihn an.
Er fing meinen Blick auf. »Steck dir deine moralische Überheblichkeit sonst wohin, Tyler. Ich wollte ihr eine Lektion erteilen. Ich wollte, dass sie sich der Realität stellt und nicht eine von diesen spinverrückten Autisten wird. Eure ganze Scheißgeneration…«
»Interessiert es Sie, ob sie noch lebt?«
»Ja, natürlich.«
»Niemand hat in letzter Zeit von ihr gehört. Sie sind nicht der Einzige, der sie nicht erreichen kann. Ich habe mir überlegt, dass ich versuchen könnte, sie aufzuspüren. Was halten Sie davon?«
Doch die Kellnerin brachte einen neuen Drink, und E. D. verlor das Interesse an dem Thema, an mir, an der Welt um ihn herum. »Ja, ich möchte wissen, ob’s ihr gut geht.« Er nahm seine Brille ab und reinigte die Gläser mit einer Serviette. »Ja, tu das, Tyler.«
Und so beschloss ich, mit Wun Ngo Wen nach Arizona zu fahren.
Mit Wun zu reisen, war so ähnlich, als würde man einen Popstar oder einen hohen Politiker begleiten — viel Sicherheitsvorkehrungen, wenig Spontaneität, aber alles perfekt organisiert. Nach einer streng aufeinander abgestimmten Folge von Flugplatzabsperrungen, Charterflügen und Straßenkonvois landeten wir schließlich am Ausgang des Bright Angel Trails, drei Wochen vor den geplanten Replikatorenstarts, an einem Julitag, der so heiß war wie Feuerwerk und so klar wie ein Flussquell.
Wun stand dort, wo das Geländer dem Rand des Canyons folgte. Die Parkverwaltung hatte den Wanderweg und das Besucherzentrum für Touristen gesperrt und drei ihrer besten (und fotogensten) Ranger standen bereit, Wun und ein Kontingent von Bundesbeamten mit Schulterhalftern unter dem weißen Wanderoutfit auf eine Expedition in den Canyon hineinzuführen, wo man zum Übernachten Zelte aufschlagen würde.
Wun war für die Wanderung Ungestörtheit zugesagt worden, aber momentan war das Ganze noch ein einziger Zirkus. Der Parkbereich war von Übertragungswagen vollgestellt, Journalisten und Fotografen warfen sich wie verzweifelte Bittsteller in die Absperrseile, aus einem über der Canyonkante schwebenden Hubschrauber wurde gefilmt. Wun war trotzdem glücklich. Er grinste. Er saugte die Kiefernnadelluft in großen Zügen ein. Die Hitze war unerträglich, vor allem für einen Marsianer, hätte ich gedacht, doch er ließ keine Anzeichen von Erschöpfung erkennen, trotz des Schweißes, der auf seiner faltigen Haut glitzerte. Er trug ein leichtes Khakihemd, dazu passende Hosen und Wanderstiefel in Kindergröße, die er in den vergangenen Wochen schon eingelaufen hatte. Er nahm einen Schluck aus einer Aluminiumfeldflasche, bot sie dann mir an.
»Wasserbruder«, sagte er.
Ich lachte. »Behalten Sie es. Sie werden es brauchen.«
»Ich wünschte, Sie könnten mit mir zusammen nach unten steigen. Das hier ist…« Er sagte etwas in seiner eigenen Sprache. »Zu viel Kohl für einen Topf. Zu viel Schönheit für einen einzelnen Menschen.«
»Sie können sie jederzeit mit den FBI-Männern teilen.«
Er warf den Sicherheitsleuten einen bösen Blick zu. »Das kann ich leider nicht. Sie schauen, aber sie sehen nichts.«
»Ist das auch eine marsianische Redensart?«
»Klingt ganz so.«
Wun richtete noch einige liebenswürdige Abschiedsworte an die Pressemeute und den frisch eingetroffenen Gouverneur von Arizona, während ich mir eines der diversen Perihelion-Fahrzeuge auslieh und mich Richtung Phoenix aufmachte.
Niemand schritt ein, niemand folgte mir, niemand interessierte sich für mich. Ich mochte Wun Ngo Wens Leibarzt sein — einige von den Presseleuten hatten mich vielleicht sogar erkannt —, aber außerhalb von Wuns Dunstkreis war ich nicht nachrichtenrelevant. Nicht die Bohne. Ein gutes Gefühl. Ich drehte die Klimaanlage auf, bis das Wageninnere sich wie ein kanadischer Herbsttag anfühlte. Gut möglich, dass ich erlebte, was die Medien als »verzweifelte Euphorie« bezeichneten, dieses Wir-müssen-alle-sterben-aber-alles-ist-möglich-Gefühl, das seinen Höhepunkt ungefähr zu der Zeit erreichte, als Wun an die Öffentlichkeit trat. Das Ende der Welt — plus Marsianer: Was sollte angesichts dessen noch unmöglich sein? Oder auch nur unwahrscheinlich? Und was sollte man unter diesen Umständen noch mit einer Moral anfangen, die Anstand, Geduld und Tugend predigte, die mahnte, nicht über die Stränge zu schlagen?
E. D. hatte meine Generation beschuldigt, vom Spin paralysiert zu sein, und vielleicht war das ja auch so. Wir waren jetzt seit dreißig Jahren vom Scheinwerferlicht gebannt. Keiner von uns hatte je dieses Gefühl grundlegender Verletzlichkeit abschütteln können, diese intensive Wahrnehmung des Schwerts, das über unseren Köpfen schwebte. Dieses Gefühl trübte jedes Vergnügen, ließ selbst unsere besten und mutigsten Gesten vorläufig und unentschlossen wirken.
Aber auch die stärkste Lähmung nutzt sich irgendwann ab. Jenseits der Furcht liegt die Unbekümmertheit, jenseits der Starre der Tatendrang. Es sind allerdings nicht unbedingt gute oder besonnene Taten, die dabei herauskommen. Ich fuhr an Dutzenden von Warnschildern vorbei, die auf die Gefahr von Straßenpiraterie hinwiesen, und der Verkehrsreport im Radio vermeldete die »wegen polizeilicher Maßnahmen« gesperrten Straßen so emotionslos, als sei von Bauarbeiten die Rede. Dennoch schaffte ich es ohne Zwischenfälle bis zum Parkplatz hinter dem Jordan Tabernacle.
Der derzeitige Pfarrer war ein junger Mann mit Bürstenschnitt namens Bob Kobel, der sich am Telefon bereit erklärt hatte, mich zu empfangen. Er kam zum Auto, als ich es gerade abschloss, und führte mich ins Pfarrhaus, um mir Kaffee und Doughnuts und ein paar offene Worte anzubieten. Er sah aus wie ein ehemaliger Spitzensportler, der ein wenig rund um die Hüften geworden, aber immer noch vom alten Teamgeist erfüllt war.
»Ich habe nachgedacht über das, was Sie gesagt haben«, sagte er. »Ich verstehe, warum Sie in Kontakt zu Diane Lawton treten wollen. Aber verstehen Sie, warum das eine unangenehme Angelegenheit für unsere Kirche ist?«
»Nicht so richtig, nein.«
»Nun, danke für Ihre Offenheit. Dann lassen Sie mich erklären. Zum Pastor dieser Gemeinde bin ich erst nach der Kälberkrise geworden, doch ich bin schon seit vielen Jahren Mitglied. Ich kenne Diane und Simon. Ich habe sie einmal als meine Freunde betrachtet.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Ich würde gern glauben, dass wir nach wie vor Freunde sind, aber da müssten Sie sie selber fragen. Sehen Sie, Dr. Dupree, für eine relativ kleine Gemeinde haben wir eine recht kontroverse Geschichte. Das liegt vor allem daran, dass wir anfangs eine Art Bastardkirche waren, ein Haufen von Dispensationalisten, der sich mit einigen desillusionierten New-Kingdom-Hippies zusammengetan hat. Was wir gemeinsam hatten, waren der starke Glaube daran, dass die Endzeit unmittelbar bevorsteht, und ein aufrichtiges Bedürfnis nach christlicher Gemeinschaft. Kein ganz leichter Zusammenschluss, wie Sie sich vorstellen können. Wir haben einiges an Glaubenskonflikten durchgemacht. Schismen, wenn Sie so wollen. Dogmatische Dispute, die für die Gemeinde, offen gesagt, gar nicht mehr nachzuvollziehen waren. Simon und Diane schlossen sich einer Gruppe eingefleischter Posttribulationisten an, die Jordan Tabernacle für sich beanspruchten. Daraus ergab sich eine schwierige Situation, das, was man in der säkularen Welt als Machtkampf bezeichnen würde.«
»Den sie verloren haben?«
»O nein. Sie übernahmen die Kontrolle, jedenfalls für eine Weile. Sie radikalisierten Jordan Tabernacle auf eine Weise, die viele von uns mit Unbehagen erfüllte. Dan Condon war einer von ihnen, derjenige, der uns mit diesem Netzwerk von Verrückten in Verbindung gebracht hat, die die Wiederkunft Christi mit Hilfe einer roten Kuh herbeiführen wollen. Was für eine Vermessenheit! Als würde der Herr erst noch auf ein Rinderzuchtprogramm warten, bevor er die Gläubigen versammelt.« Kobel nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich kann zu ihrem Glauben nichts weiter sagen.«
»Sie erwähnten am Telefon, dass Diane keinen Kontakt zu ihrer Familie hat.«
»Ja.«
»Nun, vielleicht will sie es so. Ich habe ihren Vater früher oft im Fernsehen gesehen. Er machte einen ziemlich einschüchternden Eindruck.«
»Ich bin nicht hier, um sie zu entführen. Ich will mich nur davon überzeugen, dass es ihr gut geht.«
Noch ein Schluck Kaffee. Noch ein nachdenklicher Blick. »Ich würde Ihnen gern sagen können, dass es ihr gut geht. Und vermutlich ist es auch der Fall. Doch nach dem Skandal ist die ganze Gruppe hinaus in die Wildnis gezogen. Und einige von ihnen haben der Einladung, sich mit den Strafverfolgungsbehörden zu unterhalten, noch nicht Folge geleistet. Besuche sind daher nicht gern gesehen.«
»Aber nicht unmöglich?«
»Nicht unmöglich, wenn man ihnen bekannt ist. Ich bin nicht sicher, ob das für Sie gilt, Dr. Dupree. Ich könnte Ihnen den Weg erklären, doch ich bezweifle, dass sie Sie reinlassen.«
»Auch nicht, wenn Sie für mich bürgen?«
Kobel blinzelte. Er schien darüber nachzudenken. Dann lächelte er. Er nahm vom Schreibtisch hinter ihm ein Blatt Papier, auf das er eine Adresse sowie ein paar Zeilen Wegbeschreibung kritzelte. »Das ist eine gute Idee, Dr. Dupree. Sagen Sie ihnen, Pastor Bob hätte Sie geschickt. Aber seien Sie trotzdem vorsichtig.«
Pastor Bobs Wegbeschreibung führte mich zu Dan Condons Ranch, ein zweistöckiges Haus in einem dicht bewachsenen Tal etliche Stunden von der Stadt entfernt. Keine sehr eindrucksvolle Ranch allerdings, jedenfalls für meinen ungeschulten Blick. Es gab eine große Scheune, die sich, verglichen mit dem Haus, in einem äußerst reparaturbedürftigen Zustand befand, und ein paar Rinder, die auf einigen unkrautbewachsenen Streifen Grammagras weideten.
Ich hatte kaum die Bremse betätigt, da kam ein stattlicher Mann in Overall die Verandatreppe heruntergepoltert, mindestens hundert Kilo schwer, mit Vollbart und einem ganz und gar nicht erbauten Gesichtsausdruck. Ich ließ das Fenster herunter.
»Privatgrundstück, Meister.«
»Ich würde gern mit Simon und Diane sprechen.«
Er starrte mich an.
»Sie erwarten mich nicht. Aber sie wissen, wer ich bin.«
»Haben sie Sie eingeladen? Wir legen hier nämlich nicht so viel Wert auf Besucher.«
»Pastor Bob Kobel meinte, Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich mal kurz vorbeikäme.«
»So, so. Meinte er.«
»Ich soll Ihnen sagen, ich sei im Grunde harmlos.«
»Pastor Bob, hm? Können Sie sich ausweisen?«
Ich zog meinen Personalausweis hervor. Er griff danach und verschwand wieder im Haus.
Ich wartete. Ich ließ alle Fenster herunter, damit der trockene Wind durchs Auto wehen konnte. Die Sonne stand tief genug, um die Verandapfeiler Schatten werfen zu lassen, und diese Schatten waren ein erkleckliches Stückchen länger geworden, als der Mann endlich zurückkam, mir meinen Ausweis wiedergab und sagte: »Simon und Diane werden Sie empfangen. Und tut mir Leid, wenn ich ein bisschen schroff geklungen habe. Ich heiße Sorley.« Ich stieg aus dem Auto und schüttelte ihm die Hand. Sein Händedruck war von der festen Sorte. »Aaron Sorley. Die meisten nennen mich Bruder Aaron.«
Er geleitete mich durch die quietschende Fliegentür ins Haus. Trotz der Hitze ging es dort drinnen recht lebhaft zu: Ein Kind in Baumwoll-T-Shirt kam uns lachend entgegen; in der Küche kochten zwei Frauen für eine offenbar beträchtliche Anzahl von Leuten — riesige Töpfe auf dem Herd, Berge von Gemüse auf dem Schneidebrett.
»Simon und Diane teilen sich das hintere Zimmer, die Treppe rauf, die letzte Tür auf der rechten Seite. Sie können gern hochgehen.«
Ich hätte keinen Führer gebraucht. Simon erwartete mich oben auf der Treppe.
Der ehemalige Pfeifenreinigererbe sah ein bisschen abgezehrt aus. Was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedenkt, dass ich ihn seit der Nacht des chinesischen Angriffs auf die Polartefakte vor zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er mochte das Gleiche über mich denken. Sein Lächeln war noch immer bemerkenswert, breit und freigebig, ein Lächeln, mit dem er vielleicht sogar in Hollywood etwas hätte anfangen können, wenn Simon dem Mammon mehr zugetan gewesen wäre als seinem Gott. Er mochte sich nicht mit einem Händedruck begnügen — er schloss mich in seine Arme. »Willkommen! Tyler! Tyler Dupree! Ich bitte um Verzeihung, wenn Bruder Aaron ein bisschen ruppig war. Wir haben nicht oft Besuch, aber du wirst feststellen, dass wir großzügige Gastgeber sind, wenn man erst einmal da ist. Wir hätten dich schon längst eingeladen, wenn wir es auch nur für denkbar gehalten hätten, dass du die Reise auf dich nehmen könntest.«
»Das ist ein glücklicher Zufall. Ich bin in Arizona, weil…«
»Oh, ich weiß. Wir hören auch ab und zu mal die Nachrichten. Du bist zusammen mit dem schrumpligen Mann gekommen. Du bist sein Arzt.«
Er führte mich den Flur entlang zu einer cremefarbenen Tür — ihre, Simons und Dianes Tür — und öffnete sie. Das Zimmer dahinter war in einem behaglichen, wenn auch leicht zeitentrückten Stil möbliert, in der Ecke ein großes Bett mit einer gesteppten Tagesdecke über der dicken Matratze, ein Fenstervorhang aus gelbem Gingan, ein Baumwollteppich auf dem Dielenfußboden. Ein Stuhl am Fenster. Auf dem Stuhl Diane.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie. »Danke, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Ich hoffe, wir haben dich nicht von deiner Arbeit weggerissen.«
»Nur so weit, wie ich weggerissen werden wollte. Wie geht es dir?«
Simon ging durchs Zimmer und stellte sich neben sie. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ sie dort.
»Uns geht’s gut«, sagte sie. »Wir sind vielleicht nicht wohlhabend, aber wir kommen zurecht. Mehr kann man in diesen Zeiten wohl auch nicht erwarten. Es tut mir Leid, dass wir uns nicht gemeldet haben, Tyler. Nach den Problemen bei Jordan Tabernacle ist es schwieriger geworden, der Welt außerhalb der Kirche zu trauen. Ich nehme an, du hast von der Sache gehört?«
»Ein fürchterliches Chaos«, sagte Simon. »Der Heimatschutz hat den Computer und den Fotokopierer aus dem Pfarrhaus geholt, einfach abgeholt und nie wieder zurückgegeben. Natürlich hatten wir mit dem ganzen Unsinn um die roten Färsen überhaupt nichts zu tun. Wir hatten lediglich einige Broschüren an die Gemeinde weitergegeben. Damit sie selbst entscheiden konnten, ob man sich für so eine Sache engagieren sollte. Und nur deswegen wurden wir verhört. Kannst du das fassen? Offenbar ist das schon ein Verbrechen in Preston Lomax’ Amerika.«
»Niemand verhaftet worden, hoffe ich?«
»Niemand aus unserem Umfeld.«
»Aber es hat alle nervös gemacht«, sagte Diane. »Plötzlich stellt man alles in Frage, was man für selbstverständlich genommen hat. Telefonanrufe, Briefe.«
»Ich vermute, ihr müsst vorsichtig sein.«
»O ja«, sagte Diane.
»Echt vorsichtig«, sagte Simon.
Diane trug ein schlichtes Baumwollkleid mit einem Gürtel um die Taille und ein rotweiß kariertes Kopftuch, das wie ein Hijab aussah. Kein Make-up, aber sie brauchte auch keins — Diane in Sack und Asche zu kleiden, war genauso aussichtslos, als würde man versuchen, einen Suchscheinwerfer unter einem Strohhut zu verbergen. Mir wurde bewusst, wie heftig es mich nach ihrem bloßen Anblick verlangt hatte. Wie unvernünftig heftig. Ich schämte mich fast für die Freude, die mir ihre Gegenwart bereitete. Zwei Jahrzehnte lang waren wir wenig mehr als alte Bekannte gewesen. Zwei Menschen, die sich einmal näher gestanden hatten. Ich hatte kein Recht auf diesen beschleunigten Puls, dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, das sie in mir hervorrief, indem sie einfach nur auf diesem Holzstuhl saß, indem sie leicht errötend wegsah, als unsere Blicke sich trafen. Es war unrealistisch und es war unfair — irgendjemandem gegenüber unfair, vielleicht mir, wahrscheinlich ihr. Ich hätte gar nicht herkommen dürfen.
»Und wie geht es dir?«, fragte sie. »Du arbeitest immer noch mit Jason zusammen, wie ich höre. Ich hoffe, bei ihm ist alles in Ordnung.«
»Ihm geht’s ausgezeichnet. Er lässt sehr herzlich grüßen.«
Sie lächelte. »Daran zweifle ich. Das klingt so gar nicht nach Jase.«
»Er hat sich verändert.«
»Tatsächlich?«
»Es wird viel über Jason geredet«, sagte Simon, der Dianes Schulter weiter fest im Griff hatte, seine schwielige Hand zeichnete sich dunkel vor dem blassen Baumwollstoff ab. »Über Jason und den runzligen Mann, den sogenannten Marsianer.«
»Nicht nur sogenannt«, erwiderte ich. »Er ist dort geboren und aufgewachsen.«
Simon blinzelte. »Wenn du das sagst, dann muss es wohl wahr sein. Aber wie gesagt, es ist viel geredet worden. Man weiß, dass der Antichrist unter uns wandelt, das steht fest, und es könnte sein, dass er bereits berühmt ist, dass er abwartet und seinen sinnlosen Krieg plant. Und deshalb sieht man sich die Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, sehr genau an. Ich will damit nicht sagen, dass Wun Ngo Wen der Antichrist ist, aber ich stünde nicht allein da, wenn ich es behaupten würde. Kennst du ihn gut, Tyler?«
»Wir unterhalten uns von Zeit zu Zeit. Ich glaube nicht, dass er genug Ehrgeiz besitzt, um der Antichrist zu sein.« Obwohl E. D. Lawton mir an dieser Stelle vermutlich widersprochen hätte.
»Trotzdem ist dies auch ein Punkt, der uns zur Vorsicht veranlasst. Deswegen war es auch ein Problem für Diane, den Kontakt zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten.«
»Weil Wun Ngo Wen der Antichrist sein könnte?«
»Weil wir nicht die Aufmerksamkeit mächtiger Personen auf uns lenken wollen, so nahe am Ende der Tage.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Tyler ist lange unterwegs gewesen«, sagte Diane. »Er hat bestimmt Durst.«
Simons Lächeln flammte wieder auf. »Möchtest du vor dem Essen noch etwas trinken? Wir haben jede Menge Limonaden. Magst du Mountain Dew?«
»Ja, ausgezeichnet.«
Er ging aus dem Zimmer. Diane wartete, bis seine Schritte auf der Treppe zu hören waren. Dann legte sie den Kopf schief und sah mich richtig an. »Du bist weit gefahren.«
»Es gab keine andere Möglichkeit, dich zu erreichen.«
»Aber du hättest dir nicht die Mühe machen müssen. Ich bin gesund und glücklich. Das kannst du Jase mitteilen. Und natürlich auch Carol. Und E. D., falls es ihn interessiert. Ich brauche keine Kontrollbesuche.«
»Das ist auch keiner.«
»Du wolltest nur mal Hallo sagen?«
»Ja, so etwas in der Art.«
»Wir sind keinem Kult beigetreten. Ich stehe unter keinem Zwang.«
»Hab ich auch nicht behauptet.«
»Aber du hast daran gedacht, oder?«
»Ich bin froh, dass es dir gut geht.«
Sie wandte den Kopf, und das Licht der untergehenden Sonne fiel auf ihre Augen. »Entschuldige. Ich bin einfach ein wenig verblüfft, dich so plötzlich hier zu sehen. Und ich bin froh, dass du gut zurechtkommst. Du kommst doch gut zurecht, oder?«
»Nein. Ich bin paralysiert. Jedenfalls glaubt dein Vater das. Er sagt, unsere ganze Generation sei vom Spin paralysiert. Wir sind immer noch gefangen in dem Augenblick, als die Sterne ausgingen, wir haben keinen Frieden damit geschlossen.«
»Und du glaubst, dass das wahr ist?«
»Wahrer vielleicht, als irgendeiner von uns zugeben würde.« Ich sagte Dinge, die ich überhaupt nicht geplant hatte. Aber Simon würde jeden Augenblick mit seiner Dose Mountain Dew und seinem beinharten Lächeln zurückkehren, und die Gelegenheit wäre unwiderruflich vertan. »Ich sehe dich an und sehe immer noch das Mädchen auf dem Rasen vor dem Großen Haus. Vielleicht hat E. D. also Recht. Fünfundzwanzig gestohlene Jahre. Sie sind ziemlich schnell vergangen.«
Diane nahm es schweigend hin. Warme Luft bewegte die Ginganvorhänge, das Zimmer wurde dunkler. Dann sagte sie: »Mach die Tür zu.«
»Würde das nicht ein bisschen ungewöhnlich aussehen?«
»Mach die Tür zu, Tyler, ich möchte nicht, dass jemand mithört.«
Also schloss ich die Tür, ganz vorsichtig, und sie erhob sich, kam zu mir, fasste mich an den Händen. Ihre Hände waren kühl. »Wir sind dem Ende der Welt zu nahe, um einander zu belügen. Es tut mir Leid, dass ich nicht mehr angerufen habe, aber es sind vier Familien, die sich ein Haus und ein Telefon teilen — es ist leicht zu erkennen, wer telefoniert und wohin.«
»Simon hat es nicht erlaubt.«
»Im Gegenteil, Simon hätte es akzeptiert. Simon akzeptiert die meisten meiner Gewohnheiten und Eigenarten. Aber ich möchte ihn nicht belügen, diese Last möchte ich nicht tragen. Ich muss allerdings zugeben, dass mir unsere Gespräche fehlen, Tyler. Diese Gespräche waren wie Rettungsleinen. Als ich kein Geld hatte, als die Kirche sich gespalten hat, als ich mich ohne Grund einsam gefühlt habe… der Klang deiner Stimme war wie eine Transfusion.«
»Warum dann damit aufhören?«
»Weil es illoyal ist. Damals. Und jetzt.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie mir einen schwierigen, aber wichtigen Gedanken vermitteln. »Ich weiß, wie du das mit dem Spin meinst. Ich denke auch darüber nach. Manchmal tue ich so, als gäbe es eine Welt, in der der Spin nicht passiert und unser Leben anders verlaufen ist. Unser Leben, deins und meins.« Sie holte zitternd Luft, errötete heftig. »Und wenn ich schon nicht in dieser Welt leben kann, dachte ich, könnte ich sie wenigstens alle paar Wochen besuchen und dich anrufen, und wir könnten alte Freunde sein und uns über etwas anderes unterhalten als das Ende der Welt.«
»Das hältst du für illoyal?«
»Es ist illoyal. Ich habe mich in Simons Obhut begeben. Er ist mein Ehemann. Selbst wenn das keine weise Entscheidung gewesen sein sollte, so war es doch meine Entscheidung, und ich bin vielleicht keine so gute Christin, wie ich sein sollte, aber ich habe doch ein Bewusstsein für Pflicht und Beharrlichkeit und dafür, zu jemandem zu stehen, selbst wenn… «
»Selbst wenn was, Diane?«
»Selbst wenn es wehtut. Ich glaube, keiner von uns beiden sollte weiter über das Leben nachdenken, das wir hätten haben können.«
»Ich bin nicht gekommen, um dich unglücklich zu machen.«
»Nein, aber diese Wirkung hat es.«
»Dann werde ich nicht bleiben.«
»Bleib zum Essen. Das ist ein Gebot der Höflichkeit.« Sie blickte zu Boden. »Lass mich dir noch etwas sagen, solange wir noch ungestört sind. Ich teile nicht alle von Simons Glaubensgrundsätzen. Ich kann nicht glauben, dass die Welt damit enden wird, dass die Gläubigen zum Himmel auffahren. Gott möge mir vergeben, aber das erscheint mir einfach nicht plausibel. Doch ich glaube, dass die Welt enden wird. Dass sie schon dabei ist zu enden. Schon angefangen hat, unser aller Leben zu beenden. Und…«
»Diane…«
»Nein, lass mich zu Ende sprechen. Lass mich beichten. Ich glaube, dass die Welt enden wird. Ich glaube, was Jason mir vor vielen Jahren erzählt hat — dass eines Morgens eine riesige Sonne aufgehen wird und dass dann in wenigen Stunden oder Tagen unsere Zeit auf der Erde abgelaufen ist. Und ich möchte an dem betreffenden Morgen nicht allein sein.«
»Das möchte niemand.« Außer vielleicht Molly Seagram, dachte ich. Molly, die den Film On the Beach mit ihrem Fläschchen voller Selbstmordpillen nachspielt. Molly und alle Leute ihresgleichen.
»Und ich werde nicht allein sein. Ich werde bei Simon sein. Was ich dir beichten möchte, Tyler — und wofür ich auf Vergebung hoffe —, ist, dass es, wenn ich mir diesen Tag ausmale, nicht unbedingt Simon ist, mit dem ich mich zusammen sehe.«
Die Tür ging polternd auf. Simon. Mit leeren Händen. »Jetzt steht das Essen doch schon auf dem Tisch«, sagte er. »Zusammen mit einem großen Krug Eistee für durstige Reisende. Komm mit runter und setz dich zu uns. Es ist für alle reichlich da.«
»Danke«, erwiderte ich. »Das klingt gut.«
Die acht Erwachsenen, die das Farmhaus gemeinsam bewohnten, waren die Sorleys, Dan Condon und seine Frau, die McIsaacs und Simon und Diane. Die Sorleys hatten drei Kinder, die McIsaacs fünf, sodass wir zu siebzehnt an einem großen, auf Böcke gestellten Tisch in dem an die Küche grenzenden Zimmer saßen. Daraus resultierte ein angenehmer Lärm, der andauerte, bis »Onkel Dan« den Tischsegen ankündigte, worauf sich unverzüglich alle Hände falteten und alle Köpfe senkten.
Dan Condon war das Alpha-Männchen der Gruppe. Er war groß und ernst, fast düster, auf eine Lincolnsche Weise hässlich. Indem er die Mahlzeit segnete, erinnerte er uns daran, dass es stets wohlgetan sei, einem Fremden Speis und Trank vorzusetzen, selbst in dem Fall, dass dieser Fremde ohne Einladung auf Besuch gekommen sei, Amen.
Nach der Art, wie die Unterhaltung geführt wurde, schloss ich, dass Bruder Aaron in der Hierarchie an zweiter Stelle stand und mit der Aufgabe betraut war, im Falle von Meinungsverschiedenheiten für klare Verhältnisse zu sorgen. Sowohl Teddy McIsaac als auch Simon ordneten sich ihm unter, hielten sich aber an Condon, wenn es um letztinstanzliche Urteile ging. War die Suppe zu salzig? »Genau richtig«, sagte Condon. Das Wetter in letzter Zeit ziemlich heiß? »Nicht sehr ungewöhnlich in dieser Gegend«, erklärte Condon.
Die Frauen sprachen kaum und hatten die Augen die meiste Zeit fest auf ihren Teller gerichtet. Condons Gattin war eine kleine, korpulente Frau mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Sorleys Frau war beinahe so stattlich wie er selbst und ließ ihrem Lächeln freien Lauf, als das Essen gelobt wurde. McIsaacs Frau sah kaum älter als achtzehn aus, während er sein verdrießliches Gesicht sicherlich schon über vierzig Jahre trug. Keine der Frauen sprach mich direkt an und keine von ihnen wurde mir mit ihrem eigenen Namen vorgestellt. Diane war ein Diamant unter diesen Zirkonen, das war augenfällig — und erklärte wohl auch ihr äußerst zurückhaltendes Benehmen.
Die Familien waren allesamt Versprengte aus der Jordan-Tabernacle-Gemeinde. Sie seien durchaus nicht die radikalsten Gemeindemitglieder, erläuterte Onkel Dan, nicht so radikal wie diese wilden Dispensationalisten, die sich letztes Jahr nach Saskatchewan abgesetzt hatten, aber sie seien auch nicht lau in ihrem Glauben, so wie Pastor Bob Kobel und seine Truppe von Kompromisslern. Die Familien seien auf die Ranch — Condons Ranch — gezogen, um einige Meilen zwischen sich und die Versuchungen der Stadt zu legen und den letzten Aufruf in klösterlichem Frieden zu erwarten. Bisher, sagte er, sei der Plan aufgegangen.
Ansonsten konzentrierte sich die Unterhaltung auf einen Lastwagen mit ausgelaugter Batterie, eine noch nicht abgeschlossene Dachreparatur und eine drohende Klärbehälterkrise, und als die Mahlzeit beendet war, war ich genauso erleichtert wie die Kinder (Condon warf einem der Sorley-Mädchen, das allzu freudig aufgeseufzt hatte, einen äußerst strengen Blick zu).
Sobald das Geschirr abgetragen war — Frauenarbeit auf der Condon-Ranch —, verkündete Simon, dass ich mich nun verabschieden müsse.
»Macht es Ihnen nichts aus zu fahren, Dr. Dupree?«, fragte Condon. »Es gibt jetzt fast jede Nacht Raubüberfälle.«
»Ich werde die Fenster geschlossen lassen und das Gaspedal immer schön durchtreten.«
»Das ist wahrscheinlich das Beste.«
»Wenn du nichts dagegen hast, Tyler«, sagte Simon, »fahr ich noch bis zum Zaun mit dir mit. An so einem warmen Abend ist es schön, zu Fuß zurückzugehen.«
Dem konnte ich nur zustimmen.
Dann stellten sich alle zum herzlichen Abschiednehmen auf. Die Kinder wanden sich, bis ich ihnen die Hand schüttelte und sie entlassen waren. Als Diane an der Reihe war, nickte sie mir zu, schlug aber die Augen nieder, und als ich ihr die Hand gab, nahm sie sie, ohne mich anzusehen.
Simon fuhr etwa einen halben Kilometer hügelaufwärts mit und zappelte dabei wie jemand, der etwas sagen will, aber doch den Mund hält. Ich ermunterte ihn nicht. Die Abendluft war voller Düfte und relativ kühl. Ich hielt an der Stelle an, die er mir zeigte, vor einem zerbrochenen Zaun und einer Ocatillahecke. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er.
Als er ausstieg, verharrte er einen Moment an der offenen Tür.
»Wolltest du noch was sagen?«, fragte ich.
Er räusperte sich. »Weißt du« — die Stimme kaum lauter als der Wind —, »ich liebe Diane ebenso sehr, wie ich Gott liebe. Ich gebe zu, das klingt blasphemisch, für mich hat es jedenfalls immer so geklungen. Aber ich glaube, dass Gott sie auf die Welt gesetzt hat, damit sie meine Frau wird, und dass das ihr ganzer Daseinszweck ist. Also bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es die zwei Seiten derselben Medaille sind: Sie zu lieben, ist meine Art, Gott zu lieben. Glaubst du, dass das möglich ist, Tyler Dupree?«
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte die Tür zu und schaltete seine Taschenlampe ein. Ich beobachtete im Spiegel, wie er in die Dunkelheit und das Gezirpe der Grillen hinein verschwand.
In dieser Nacht traf ich auf keine Banditen oder Straßenräuber.
Die Abwesenheit der Sterne und des Mondes hatte die Nacht seit den frühen Jahren des Spins zu einer dunklen, gefährlichen Angelegenheit gemacht. Kriminelle hatten ausgefeilte Strategien für Überfälle aus dem Hinterhalt entwickelt. Bei Nacht zu reisen hieß, die Wahrscheinlichkeit, ausgeraubt oder ermordet zu werden, um ein Vielfaches zu erhöhen.
Es herrschte daher nicht viel Verkehr auf der Rückfahrt nach Phoenix, hauptsächlich waren Trucker in ihren gut gesicherten Riesenlastern unterwegs. Meistens war ich ganz allein auf der Straße, bohrte Lichtkeile in die Dunkelheit und lauschte dem Knirschen der Reifen und dem Rauschen des Windes. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein einsameres Geräusch gibt. Vermutlich ist das der Grund, warum man Radios in die Autos einbaut.
Aber es waren keine Diebe oder Mörder auf der Straße.
Nicht in dieser Nacht.
Ich übernachtete in einem Motel außerhalb von Flagstaff und traf am nächsten Morgen am Flughafen wieder mit Wun Ngo Wen und seiner Wachmannschaft zusammen.
Während des Fluges nach Orlando war Wun ziemlich gesprächig. Er hatte die Geologie der südwestlichen Wüste studiert und war besonders angetan von einem Stein, den er auf der Rückfahrt nach Phoenix in einem Souvenirladen gekauft hatte — sein ganzer Tross hatte am Straßenrand halten und warten müssen, während er sich durch das Fossilienregal wühlte. Er zeigte mir seine Ausbeute: eine kreideartige, spiralförmige Höhlung in einem Stück Bright-Angel-Schiefer, gerade zwei, drei Zentimeter im Durchmesser. Der Abdruck eines Trilobiten, sagte er, vor zehn Millionen Jahren gestorben, geborgen aus dem steinig sandigen Ödland unter uns, das einst der Boden eines uralten Meeres gewesen war.
Er hatte noch nie ein Fossil gesehen. Es gebe keine Fossilien auf dem Mars, sagte er. Keine Fossilien im gesamten Sonnensystem, nur hier, auf der uralten Erde.
In Orlando wurden wir auf die Rückbank eines weiteren Wagens in einem weiteren Konvoi gesetzt, der uns zum Perihelion-Gelände bringen sollte. Wir fuhren bei Sonnenuntergang los, nachdem eine großflächige Durchsuchungsaktion uns eine Stunde lang aufgehalten hatte. Als wir den Highway erreichten, entschuldigte sich Wun für sein wiederholtes Gähnen. »Ich bin so viel körperliche Aktivität nicht gewöhnt.«
»Na, ich habe Sie bei Perihelion doch schon öfter auf dem Heimtrainer gesehen.«
»Ein Heimtrainer ist kein Canyon.«
»Das ist wohl wahr.«
»Ich bin erschöpft, aber glücklich. Es war eine wundervolle Expedition. Ich hoffe, Sie haben Ihre Zeit ähnlich angenehm verbracht.«
Ich erzählte ihm, dass ich Diane aufgespürt hatte und dass sie bei guter Gesundheit war.
»Das ist schön. Ich bedaure, dass ich sie nicht kennen lernen konnte. Wenn sie ihrem Bruder auch nur von ferne ähnelt, muss sie eine bemerkenswerte Person sein.«
»Das ist sie.«
»Aber der Besuch hat Ihre Hoffnungen nicht vollständig erfüllt?«
»Vielleicht hab ich mir das Falsche erhofft.« Vielleicht erhoffte ich mir schon seit langem etwas ganz und gar Falsches.
»Nun ja.« Wun gähnte wieder, die Augen halb geschlossen. »Die Frage… wie immer ist doch die Frage, wie man die Sonne anblickt, ohne geblendet zu werden.«
Ich wollte ihn fragen, wie er das meinte, aber sein Kopf war schon gegen das Sitzpolster gesunken und ich hielt es für rücksichtsvoller, ihn schlafen zu lassen.
Unser Konvoi bestand aus fünf Autos plus einem Transportfahrzeug mit einer kleinen Einsatztruppe von Infanteristen, abgestellt für den Fall, dass es Probleme geben sollte. Der Mannschaftswagen war kastenförmig, etwa so groß wie die gepanzerten Fahrzeuge, die zum Transport von Bargeld zwischen den Regionalbanken verwendet wurden, und leicht mit einem solchen zu verwechseln.
Und tatsächlich war zufällig, etwa zehn Minuten vor uns, ein Konvoi der Firma Brink’s unterwegs, der dann jedoch den Highway verließ und Richtung Palm Bay fuhr. Kundschafter, die hinter den Hauptzufahrten Posten bezogen hatten und telefonisch miteinander verbunden waren, verwechselten uns mit dem Geldtransport und wiesen uns als Zielobjekt für eine Bande von Straßenräubern aus, die weiter vorn im Hinterhalt lag.
Es waren hochprofessionelle Kriminelle. Sie hatten einen Straßenabschnitt vermint, der um ein sumpfiges Naturschutzgebiet herumführte, und verfügten über automatische Waffen und sogar Panzerabwehrraketen, und mit einem Brinks’s-Konvoi hätten sie kurzen Prozess gemacht: Fünf Minuten nach der ersten Erschütterung wären die Angreifer bereits weit im Moorgebiet verschwunden und würden die Beute unter sich aufteilen. Aber ihre Kundschafter hatten einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Einen Banktransport aufs Korn zu nehmen, ist eine Sache, doch sich mit fünf schwergepanzerten Fahrzeugen voller Sicherheitspersonal und einem Mannschaftswagen von Elitesoldaten anzulegen, ist etwas ganz anderes.
Ich blickte durch die getönte Seitenscheibe und sah flaches grünes Wasser und kahle Zypressen vorübergleiten, als die Straßenlichter ausgingen.
Einer der Räuber hatte die unterirdischen Stromkabel gekappt. Plötzlich war die Dunkelheit richtig dunkel, eine schwarze Wand hinter dem Fenster, und ich sah nichts mehr außer meinem erschrockenen Spiegelbild. Ich sagte: »Wun…«
Aber er schlief weiter, sein faltiges Gesicht so ausdruckslos wie ein Daumenabdruck.
Dann fuhr das Führungsauto auf die Mine.
Die Erschütterung schlug wie eine Stahlfaust gegen unser Fahrzeug. Die Kolonne fuhr in gehörigem Abstand, doch wir waren trotzdem dicht genug dran, um zu sehen, wie der vordere Wagen in einer gelben Stichflamme emporschoss und brennend, mit umherfliegenden Reifen, auf den Asphalt zurückfiel.
Unser Fahrer schwenkte zur Seite und hielt an. Die Straße war blockiert. Dann gab es eine zweite Explosion am hinteren Ende des Konvois, eine weitere Mine, die den Straßenbelag brockenweise ins Sumpfgebiet schleuderte und uns jeglichen Fluchtweg abschnitt.
Wun war jetzt wach, verblüfft und ängstlich. Seine Augen waren so groß wie Monde und auch fast so hell.
In unmittelbarer Nähe knatterten Handfeuerwaffen. Ich duckte mich und zog auch Wun mit nach unten, wir saßen gekrümmt in unseren Sitzgurten und fummelten fieberhaft an den Verschlüssen. Der Fahrer zog eine Waffe irgendwo unter dem Armaturenbrett hervor und rollte sich aus der Tür hinaus. Gleichzeitig sprangen ein Dutzend Männer aus dem Mannschaftswagen hinter uns und begannen in die Dunkelheit zu feuern. Zivile Sicherheitsleute aus den anderen Fahrzeugen versuchten sich unserem Wagen zu nähern, um Wun zu schützen, wurden jedoch von heftigem Gewehrfeuer daran gehindert.
Der unerwartete Widerstand muss die Straßenräuber aus dem Konzept gebracht haben. Sie setzten jetzt schwere Waffen ein. Unter anderem eine raketengetriebene Granate, wie man mir später erzählte. Ich bekam nur mit, dass ich plötzlich taub war, unser Wagen um eine komplizierte Achse herum rotierte und die Luft geschwängert war von Rauch und Glassplittern.
Dann, ich weiß nicht wie, war ich aus der hinteren Tür heraus, das Gesicht auf den körnigen Asphalt gepresst, Blutgeschmack im Mund, und Wun war auch da, lag auf der Seite, ein oder zwei Meter von mir entfernt. Einer seiner Schuhe — die Wanderstiefel in Kindergröße, die er sich für den Canyon gekauft hatte — stand in Flammen.
Ich rief seinen Namen. Er bewegte sich schwach. Kugeln prasselten auf die Überreste des Autos hinter uns, schlugen kleine Krater in den Stahl. Mein linkes Bein war taub. Ich robbte näher heran und benutzte ein abgerissenes Stück Polsterung, um die Flammen am Schuh zu ersticken. Wun hob ächzend den Kopf.
Unsere Männer erwiderten das Feuer, Leuchtspurgeschosse fegten ins Moorgebiet zu beiden Seiten der Straße.
Wun krümmte den Rücken und kam auf die Knie. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Er blutete aus der Nase. Die Haut auf der Stirn war aufgerissen.
»Nicht aufstehen«, krächzte ich.
Aber er versuchte weiter auf die Füße zu kommen, schleifte den verbrannten, stinkenden Stiefel über den Boden.
»Um Gottes willen«, sagte ich. Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch irgendwie entwand er sich meinem Griff. »Um Gottes willen, nicht aufstehen!«
Aber schließlich schaffte er es, rappelte sich hoch und stand zitternd da, klar umrissen vor dem brennenden Autowrack. Er blickte nach unten, schien mich jetzt zu erkennen. »Tyler«, sagte er. »Was ist passiert?«
Dann fanden ihn die Kugeln.
Es gab eine Menge Leute, die Wun Ngo Wen hassten. Sie misstrauten seinen Absichten, so wie E. D. Lawton, oder verabscheuten ihn, weil sie glaubten, er sei ein Feind Gottes; weil seine Haut zufällig schwarz war; weil er für die Evolutionstheorie eintrat; weil er einen handfesten Beweis für den Spin und eine verstörende Wahrheit über das Alter des äußeren Universums verkörperte. Viele dieser Leute hatten sich verschworen, ihn zu töten; Dutzende von Morddrohungen waren in den Akten des Heimatschutzministeriums dokumentiert.
Doch es war keine Verschwörung, der er zum Opfer fiel. Es war eine Kombination aus Habgier, Verwechslung und vom Spin hervorgerufener Rücksichtslosigkeit.
Es war ein beschämend irdischer Tod.
Wuns Leichnam wurde — nach gründlicher Autopsie und Probenentnahme — eingeäschert, und er bekam ein Staatsbegräbnis mit allem, was dazugehört. Dem Trauergottesdienst in der National Cathedral in Washington wohnten Würdenträger aus allen Teilen der Welt bei. Präsident Lomax hielt eine ausführliche Rede.
Es hieß, man wolle seine Asche ins All schießen, aber dazu kam es dann doch nicht. Jason zufolge wurde die Urne vorläufig, bis zu einer Entscheidung über ihren endgültigen Verbleib, im Keller des Smithsonian Institute untergebracht.
Vermutlich steht sie dort heute noch.