Von Träumen umzingelt

Die nächtlichen Schlachten zwischen Straßenpiraten und kalifornischer Polizei machten das Reisen zu einer ohnehin beschwerlichen Angelegenheit. Durch das Flackern jedoch wurde alles noch schlimmer. Offizielle Stellen warnten dringend vor jedem nicht unbedingt nötigen Reiseverkehr während der Flackerphasen, aber das hielt die Leute nicht von dem Versuch ab, Familie oder Freunde zu erreichen, und in manchen Fällen auch nicht davon, einfach ins Auto zu steigen und zu fahren, bis ihnen das Benzin oder die Lebenszeit ausging. Ich packte in aller Eile einige Koffer, in die ich alles hineinstopfte, was ich nicht zurücklassen wollte, einschließlich des Archivmaterials, das mir Jason gegeben hatte.

An diesem Abend staute sich der Verkehr auf dem Alvarado Freeway, und auch auf der I-8 ging es kaum schneller voran. Ich hatte jede Menge Zeit, über die Absurdität meines Vorhabens nachzudenken. Hals über Kopf loszufahren, um die Frau eines anderen Mannes zu retten, eine Frau, die mir einmal mehr bedeutet hatte, als gut für mich war. Wenn ich die Augen schloss und mir Diane Lawton vorzustellen versuchte, dann bekam ich kein zusammenhängendes Bild mehr zusammen, nur eine verwischte Montage einzelner Momente und Gesten. Diane, wie sie sich mit einer Hand die Haare zurückstreicht und sich ins Fell von St. Augustine, ihrem Hund, vergräbt. Diane, wie sie für ihren Bruder ein Internetlink in den Geräteschuppen schmuggelt, wo die auseinander gebauten Teile eines Rasenmähers auf dem Boden liegen. Diane im Schatten einer Weide, wie sie viktorianische Lyrik liest und über eine Textstelle lächelt, die ich nicht verstanden habe: Wo der Sommer reift zu jeder Stunde oder Das Kind hat nicht mal wahrgenommen…

Ich war an El Centro vorbei, als das Radio »erhebliche« Polizeiaktivitäten westlich von Yuma meldete und der Verkehr sich an der Staatsgrenze auf mindestens fünf Kilometern staute. Ich beschloss, keine lange Verzögerung zu riskieren, und bog auf eine kleinere Verbindungsstraße mit der Absicht, die I-10 anzusteuern, die die Staatsgrenze in der Nähe von Blythe querte.

Die Straße war weniger voll, aber immer noch recht belebt. Das Flackern ließ die Welt irgendwie auf den Kopf gestellt erscheinen, oben dunkler als unten. Gelegentlich zuckte eine besonders dicke Lichtader vom nördlichen zum südlichen Horizont, als würde sich in der Spinmembran ein Riss auftun, als würden sich Bruchstücke des dahinter liegenden Universums hindurchbrennen.

Ich dachte an das Telefon in meiner Tasche, Dianes Telefon, die Nummer, die Simon angerufen hatte. Es hatte keine Rückrufnummer angezeigt, und die Ranch — falls sie sich überhaupt noch auf der Ranch aufhielten — war nicht im Telefonverzeichnis registriert. Ich wollte, dass es noch einmal klingelte. Wollte es — und hatte doch auch Angst davor.

Der Verkehr nahm wieder zu, als die Straße sich dem Highway bei Palo Verde näherte. Es war inzwischen nach Mitternacht, und ich schaffte bestenfalls fünfzig Kilometer pro Stunde. Ich dachte an Schlaf. Ich brauchte Schlaf. Kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich besser wäre, heute nicht mehr weiterzufahren, erst mal zu schlafen, dem Verkehr Zeit zu geben, sich aufzulösen. Aber ich wollte nicht im Auto übernachten. Die wenigen geparkten Autos, die ich gesehen hatte, waren von ihren Besitzern verlassen und dann geplündert worden, die aufgebrochenen Kofferraumklappen wie vor Schreck aufgerissene Münder.

Südlich einer kleinen Stadt namens Ripley sah ich, kurz im Scheinwerferlicht aufblitzend, ein verblichenes Schild mit der Aufschrift MOTEL und dahinter eine zweispurige, kaum befestigte Straße, die sich vom Highway entfernte. Ich bog ab. Fünf Minuten später stand ich vor einem umzäunten Gelände, auf dem sich ein Motel befand, oder auch ein ehemaliges Motel, ein zweistöckiges Gebäude, hufeisenförmig um einen Swimmingpool herumgezogen, der im Licht des flackernden Himmels leer aussah. Ich drückte auf den Klingelknopf.

Das Tor war ferngesteuert und mit einer handtellergroßen, auf einem hohen Mast befestigten Videokamera ausgestattet, die jetzt herumschwenkte, um mich in Augenschein zu nehmen, während ein auf Autofensterhöhe angebrachter Lautsprecher rauschend zum Leben erwachte. Von irgendwoher, aus dem Empfang des Motels oder sonstwo, konnte ich ein paar Takte Musik hören. Keine programmierte Musik, einfach Musik, die im Hintergrund lief. Dann eine Stimme. Schroff, metallisch, unfreundlich. »Wir nehmen heute Abend keine Gäste.«

Ich ließ ein paar Augenblicke vergehen, dann klingelte ich noch einmal.

Die Stimme kehrte zurück. »Welchen Teil haben Sie eben nicht verstanden?«

»Ich kann bar bezahlen«, sagte ich, »falls das ein Kriterium ist. Und ich werde mich auch nicht über den Preis beschweren.«

»Wir haben geschlossen, tut mir Leid, Kollege.«

»Okay… hören Sie, ich kann im Auto schlafen, aber wär’s möglich, dass ich auf das Gelände fahre, um ein bisschen Schutz zu haben? Vielleicht, dass ich hinter dem Gebäude parke, wo ich von der Straße aus nicht gesehen werden kann?«

Längere Pause. Ich hörte eine Trompete, die eine Snaredrum vor sich herjagte. Der Song klang vertraut.

»Tut mir Leid. Heute nicht. Fahren Sie bitte weiter.«

Stille. Minuten vergingen. Eine Grille sägte in der kleinen Oase aus Palmen und Feinkies vor dem Motel. Noch einmal drückte ich auf die Klingel.

Der Besitzer war schnell wieder da. »Ich kann Ihnen eins sagen, Mister, wir sind bewaffnet und werden langsam sauer. Es wäre besser, wenn Sie sich einfach wieder auf den Weg machten.«

»Harlem Air Shaft«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Der Song, der bei Ihnen läuft. Ellington, oder? Harlem Air Shaft. Klingt nach seiner 50er-Jahre-Band.«

Noch einmal eine ziemlich lange Pause, während der der Lautsprecher eingeschaltet blieb. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich richtig lag, obwohl ich diese Ellington-Nummer seit Jahren nicht mehr gehört hatte.

Dann hörte die Musik auf, ihr dünner Faden mitten im Takt gekappt. »Außer Ihnen noch jemand im Auto?«

Ich ließ das Fenster hinunter und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Die Kamera machte einen Schwenk, richtete sich dann wieder auf mich.

»Na schön. Sagen Sie mir, wer in diesem Stück die Trompete spielt, und ich mach das Tor auf.«

Trompete? Wenn ich an Ellingtons 50er-Jahre-Truppe dachte, fiel mir Paul Gonsalvez ein, aber Gonsalvez spielte Saxophon. Es hatte eine ganze Hand voll von Trompetern gegeben. Cat Anderson? Willie Cook? Es war zu lange her.

»Ray Nance«, sagte ich.

»Falsch. Clark Terry. Aber Sie können trotzdem reinkommen.«


Der Besitzer kam mir entgegen, als ich vor der Eingangstür hielt. Ein hochgewachsener Mann, etwa vierzig, in Jeans und einem über der Hose getragenen karierten Hemd. Er nahm mich sorgfältig in Augenschein. »Nichts für ungut«, sagte er, »aber beim ersten Mal, als das passiert ist…« Er deutete zum Himmel, auf das Flackern, das seine Haut gelblich färbte und den Stuckwänden einen blässlich ockerfarbenen Anstrich verlieh. »Nun, als sie die Grenze bei Blythe zumachten, haben die Leute hier bei mir um Zimmer gekämpft. Ich meine, buchstäblich gekämpft. Ein paar Typen haben mich mit Waffen bedroht, genau da, wo Sie jetzt stehen. Was ich in der Nacht an Geld eingenommen hatte, musste ich doppelt wieder ausgeben für Reparaturen. Die Leute haben in ihren Zimmern gesoffen, rumgekotzt, alles kaputt gemacht. Auf der I-10 drüben war’s noch schlimmer — den Nachtportier vom Days Inn haben sie erstochen. Danach habe ich dann sofort den Sicherheitszaun installiert. Wenn jetzt das Flackern wieder anfängt, schalte ich einfach das ZIMMER FREI-Schild ab und mach den Laden dicht, bis es vorbei ist.«

»Und legen Duke auf.«

Er lächelte. Wir gingen nach drinnen, damit ich mich eintragen konnte. »Duke«, sagte er, »oder Pops oder Diz. Miles, wenn ich in der richtigen Stimmung bin. Nichts, was später als 1965 ist.« Der Empfang war ein schummrig beleuchteter, unspezifisch tapezierter Raum, ausgestattet mit allerlei alten Westernmotiven, und durch die Tür zum Allerheiligsten des Besitzers — es sah so aus, als würde er dort wohnen — wehte nach wie vor Musik heraus. Er inspizierte die Kreditkarte, die ich ihm gegeben hatte.

»Dr. Dupree.« Er gab mir die Hand. »Ich bin Allen Fulton. Sind Sie Richtung Arizona unterwegs?«

Ich sagte, dass es mich vor der Grenze von der Interstate vertrieben hatte.

»Ich weiß nicht, ob es Ihnen auf der I-10 besser ergehen wird. In einer Nacht wie dieser scheinen alle Leute aus Los Angeles nach Osten zu wollen. Als wäre das Flackern so etwas wie ein Erdbeben oder eine Flutwelle.«

»Werde sicher bald weiterfahren.«

Er reichte mir einen Schlüssel. »Schlafen Sie erst mal ein bisschen. Ein Rat, der nie verkehrt ist.«

»Ist das mit der Karte in Ordnung? Falls Sie lieber Bargeld möchten…«

»Die Karte ist so gut wie Bargeld, solange die Welt nicht untergeht. Und wenn sie das tut, werde ich keine Zeit mehr haben, mich zu ärgern.«

Er lachte. Ich versuchte zu lächeln.

Zehn Minuten später lag ich vollständig bekleidet auf einem harten Bett in einem Zimmer, das nach Antiseptika in verschiedenen Duftnoten sowie einer zu feucht eingestellten Klimaanlage roch, und fragte mich, ob ich nicht doch hätte weiterfahren sollen. Ich legte das Handy auf den Nachttisch, schloss die Augen und schlief sofort ein.


Und erwachte wieder. Nach weniger als einer Stunde. Aufgeschreckt, ohne zu wissen, wovon.

Ich setzte mich auf und sah mich im Zimmer um, glich die verschiedenen Grauschattierungen mit meiner Erinnerung ab. Schließlich richtete sich meine Aufmerksamkeit auf das fahle Rechteck des Fensters, in dem, bevor ich eingeschlafen war, noch das Licht pulsiert hatte.

Das Flackern hatte aufgehört.

Was dem Schlaf eigentlich hätte förderlich sein müssen, aber ich wusste — wie man eben derlei Dinge weiß —, dass ich nicht mehr würde schlafen können. Ich trank eine Tasse Kaffee, den ich in der kleinen, zum Zimmer gehörenden Maschine kochte. Eine halbe Stunde später sah ich wieder auf die Uhr. Viertel vor zwei. Tiefste Nacht. Die Zone verlorengegangener Objektivität. Ich konnte genauso gut unter die Dusche springen und mich wieder auf den Weg machen.

Ich zog mich an und ging so leise wie möglich zum Empfang, mit der Absicht, den Schlüssel einfach in den Briefkasten zu werfen, doch Fulton war ebenfalls noch wach, das Licht des Fernsehers schimmerte aus seinem Zimmer. Er streckte den Kopf heraus, als er mich an der Tür rumoren hörte.

Er machte einen etwas merkwürdigen Eindruck. Betrunken vielleicht oder stoned. Er blinzelte ein paarmal, bevor er mich erkannte. »Dr. Dupree«, sagte er.

»Tut mir Leid, dass ich Sie schon wieder aufscheuche. Ich finde keine Ruhe und fahre lieber weiter. Trotzdem vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.«

»Erklärungen sind nicht nötig. Ich wünsche Ihnen was. Wollen hoffen, dass Sie vor Sonnenaufgang noch irgendwo hinkommen.«

»Das hoffe ich auch.«

»Also, ich seh’s mir einfach im Fernsehen an.«

»Im Fernsehen?« Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, wovon eigentlich die Rede war.

»Hab den Ton runtergedreht, will Jody nicht aufwecken. Hatte ich Jody erwähnt? Meine Tochter. Sie ist zehn. Ihre Mutter lebt in La Jolla mit einem Möbelhandwerker zusammen. Die Sommer verbringt Jody bei mir. Hier draußen in der Wüste. Was für ein Schicksal, wie?«

»Nun ja…«

»Aber ich will sie nicht wecken.« Fulton wirkte plötzlich ernüchtert. »Ist das falsch von mir? Sie einfach schlafen zu lassen währenddessen? Vielleicht sollte ich sie doch aufwecken. Wenn ich’s mir recht überlege: Sie hat sie ja nie gesehen. Sie ist erst zehn. Kennt sie überhaupt nicht. Schätze, das ist ihre letzte Chance.«

»Äh, tut mir Leid, aber ich weiß nicht, wovon…«

»Sie sind jetzt allerdings anders. Nicht so, wie ich sie in Erinnerung habe. Nicht, dass ich mich je besonders gut ausgekannt hätte — aber früher, wenn man abends oft draußen war, hat man sie doch zwangsläufig ein bisschen kennen gelernt.«

»Was kennen gelernt?«

Er blinzelte. »Die Sterne.«


Wir gingen hinaus, stellten uns neben den Swimmingpool und blickten auf den Himmel.

Der Pool hatte schon lange kein Wasser mehr gesehen. Staub und Sand bildeten Dünen auf dem Grund, an den Wänden hatte sich jemand mit lila Graffiti verewigt. Wind ließ ein Metallschild — KEINE BADEAUFSICHT — gegen die Zaunverstrebungen klappern. Der Wind war warm und kam aus Osten.

Die Sterne.

»Sehen Sie?«, sagte Fulton. »Ganz anders. Ich kann keines von den alten Sternbildern erkennen. Alles sieht irgendwie so… verstreut aus.«

Mehrere Milliarden Jahre können so etwas bewirken. Alles altert, sogar der Himmel, alles strebt einem Höchstmaß an Entropie, Unordnung, Zufälligkeit entgegen. Unsere Galaxis war in den vergangenen drei Milliarden Jahren von unsichtbaren Kräften mächtig durcheinander gewirbelt worden, ja hatte sich mit einer kleineren Satellitengalaxis — M41 in den alten Katalogen — vermischt, sodass die Sterne nun in ganz und gar nichtssagender Anordnung am Himmel verteilt waren.

»Alles klar mit Ihnen, Dr. Dupree? Vielleicht wollen Sie sich lieber hinsetzen.«

Zu betäubt, um zu stehen, ja. Ich setzte mich auf den gummierten Beton, ließ die Füße in den leeren Pool baumeln, und blickte immerfort nach oben. Nie zuvor hatte ich etwas so Schönes oder so Furchterregendes gesehen.

»Nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang«, murmelte Fulton.

Ja, hier. Weiter östlich, irgendwo über dem Atlantik, musste die Sonne bereits über den Rand des Horizonts gestiegen sein. Ich wollte ihn danach fragen, aber da ertönte eine piepsige Stimme aus dem Schatten nahe beim Eingang.

»Dad? Ich hab dich reden hören.« Jody, die Tochter. Sie kam zögernd näher. Sie trug einen weißen Pyjama und war in ein Paar Schuhe geschlüpft, ohne sie zuzubinden. Sie hatte ein breites Gesicht — schlicht, aber hübsch — und schläfrige Augen.

»Komm her, mein Schatz«, sagte Fulton. »Setz dich auf meine Schultern und sieh dir den Himmel an.«

Sie kletterte, immer noch verwirrt, an ihm hoch, und Fulton hob sie, die Hände um ihre Fußknöchel gelegt, der glitzernden Dunkelheit entgegen.

»Sieh nur, Jodie«, sagte er und lächelte ungeachtet der Tränen, die ihm über das Gesicht liefen. »Wie weit man heute Nacht sehen kann. Heute kann man praktisch bis ans Ende der Welt sehen.«


Ich ging wieder rein, um zu sehen, was es im Fernsehen an Nachrichten gab. Das Flackern hatte vor etwa einer Stunde aufgehört. Es war einfach verschwunden, zusammen mit der Spinmembran. Der Spin war so still zu Ende gegangen, wie er begonnen hatte, ohne Fanfare, überhaupt ohne Geräusch, abgesehen von einem atmosphärischen Rauschen von der Sonnenseite des Planeten her.

Die Sonne.

Drei Milliarden und ein paar zerquetschte Jahre älter geworden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was Jason mir über ihren Zustand erzählt hatte. Tödlich, keine Frage. Das Bild von überkochenden Meeren war in den Medien lang und breit ausgemalt worden — aber hatten wir diesen Punkt schon erreicht? War bis Mittag alles vorbei, oder blieb noch Zeit bis zum Ende der Woche?

Spielte das überhaupt eine Rolle?

Ich schaltete den kleinen Videoschirm in meinem Zimmer an und stieß auf eine Liveübertragung aus New York. Es hatte keine größere Panik gegeben — zu viele Leute schliefen noch oder hatten auf die morgendliche Fahrt zur Arbeit verzichtet, nachdem sie aufgewacht waren, die Sterne erblickt und die naheliegenden Schlüsse daraus gezogen hatten. Das Nachrichtenteam hatte, wie in einem Fiebertraum heroischen Journalismus, auf dem Dach eines Gebäudes auf Staten Island eine Kamera aufgebaut. Das Licht war trübe, der östliche Himmel hellte sich auf, doch es war noch nichts zu sehen.

Seit dem Ende des Flackerns, wurde mitgeteilt, sei keine Verbindung nach Europa zustandegekommen, was auf elektrostatische Interferenzen zurückzuführen sein könnte — vielleicht hatte das ungefilterte Sonnenlicht alle von den Aerostaten übermittelten Signale geschluckt. Es war noch zu früh, um allzu unheilvolle Schlüsse zu ziehen. »Da wir noch keine offiziellen Reaktionen haben«, sagte der Moderator, »ist der beste Rat, den wir Ihnen geben können, wie immer der, zu Hause vor den Geräten zu bleiben und abzuwarten, bis sich die Lage geklärt hat.«

»Gerade heute«, ergänzte seine Komoderatorin, »werden alle Leute möglichst bei ihren Familien bleiben wollen.«

Ich saß auf der Bettkante meines Motelzimmers und sah weiter zu.

Bis die Sonne aufging.

Die Kamera fing sie zunächst als eine karmesinrote Wolkenschicht ein, die über den öligen Horizont des Atlantiks strich. Dann kam ein glühender Rand, und Filter schoben sich vors Objektiv, um das grelle Licht abzudämpfen.

Ihr Umfang war schwer abzuschätzen, aber sie stieg auf — nicht ganz rot, eher ein rötliches Orange, sofern dies nicht Resultat von Kameramanipulationen war —, bis sie über dem Meer, über Queens und Manhattan schwebte, zu groß eigentlich, um als Himmelskörper durchzugehen, eher wie ein gewaltiger, mit bernsteinfarbenem Licht gefüllter Ballon.

Ich wartete auf weitere Kommentare, doch das Bild blieb stumm, bis zu einem Studio im mittleren Westen, dem Ausweichhauptquartier des Senders, umgeschaltet wurde und jemand ins Bild kam, der zu schlecht zurechtgemacht war, als dass es sich um einen regulären Moderator handeln konnte, und der völlig sinnlose Warnungen von sich gab. Ich schaltete den Apparat aus.

Und trug mein Gepäck zum Auto.

Fulton und Jody kamen aus dem Büro, um mich zu verabschieden. Plötzlich waren sie alte Freunde, denen es Leid tat, dass ich gehen musste. Jody sah ziemlich ängstlich aus. »Sie hat mit ihrer Mama gesprochen«, sagte Fulton. »Die hatte noch nichts von den Sternen gehört.«

Ich versuchte mir das frühmorgendliche Gespräch auszumalen: Wie Jody aus der Wüste anruft und ihrer Mutter etwas mitteilt, das diese als unmittelbares Bevorstehen des Weltuntergangs begreifen muss. Wie Jodys Mutter Abschiedsworte an ihre Tochter richtet und zugleich versucht, sie nicht zu Tode zu erschrecken, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu schützen.

Nun lehnte Jody sich gegen ihren Vater, und dieser legte zärtlich den Arm um sie. »Müssen Sie wirklich wegfahren?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Wenn Sie wollen, können Sie nämlich hier bleiben. Hat mein Papa gesagt.«

»Mr. Dupree ist Arzt«, sagte Fulton sanft. »Vermutlich muss er einen Hausbesuch machen.«

»Das stimmt«, erwiderte ich. »Das muss ich.«


Viele Menschen benahmen sich sehr schlecht an diesem Morgen, in ihren vermeintlich letzten Stunden. Es war, als sei das Flackern nur eine Probe für das bevorstehende Ende gewesen. Wir hatten die Vorhersagen gehört: brennende Wälder, sengende Hitze, verdampfende Meere. Die Frage war nur, ob es einen Tag, eine Woche oder einen Monat dauern würde.

Und so schlugen wir Fenster ein, nahmen das, was uns gefiel, nahmen jeden Plunder, den uns das Leben vorenthalten hatte. Männer versuchten Frauen zu vergewaltigen, wobei etliche von ihnen feststellen mussten, dass der Verlust aller Hemmungen in beide Richtungen funktionierte und das vermeintliche Opfer die Fähigkeit entwickelte, seinem Widersacher ins Auge zu stechen oder in die Hoden zu treten. Alte Rechnungen wurden mit der Waffe beglichen. Die Selbstmorde waren Legion. (Ich dachte an Molly. Wenn sie nicht schon seit dem ersten Flackern tot war, dann starb sie mit Sicherheit jetzt, starb vielleicht sogar voller Befriedigung über das Aufgehen ihres Plans. Zum ersten Mal überkam mich das Bedürfnis, um sie zu weinen.)

Doch es gab auch Inseln des Anstands und Handlungen von heroischer Selbstlosigkeit. Die Interstate 10 an der Grenze nach Arizona war eine solche Insel.

Während des Flackerns war eine Abteilung der Nationalgarde an der Brücke über den Colorado River stationiert gewesen. Die Soldaten waren jedoch kurz nach dem Ende des Flackerns verschwunden, zurückbeordert vielleicht oder einfach auf ungenehmigtem Urlaub, unterwegs nach Hause, und ohne sie hätte die Brücke zu einem unpassierbaren Nadelöhr werden können.

Wurde sie aber nicht. Ein Dutzend Zivilisten, Freiwillige mit Taschenlampen oder Signalleuchten aus ihrer Notfallausrüstung, hatte die Aufgabe übernommen, den Verkehr zu regeln. Und sogar die ewig Eiligen — die Leute, die bis Sonnenaufgang noch eine weite Strecke zurücklegen wollten oder mussten, nach New Mexico, Texas oder sogar Louisiana, falls ihnen der Motor nicht vorher wegschmolz —, sogar sie schienen zu begreifen, dass das notwendig war, dass jeder Versuch, sich vorzudrängeln, aussichtslos war und es keine Alternative dazu gab, sich in Geduld zu üben. Ich weiß nicht, wie lange diese Stimmung anhielt oder was sie hatte entstehen lassen. Vielleicht war es menschliche Solidarität, vielleicht war es aber einfach auch das Wetter: ungeachtet des aus Osten auf uns zurollenden Verhängnisses war es eine pervers schöne Nacht. Verstreute Sterne in einem klaren, kühlen Himmel; eine anregende Brise, die den Auspuffgestank fortwehte und so sanft durchs Autofenster strich wie die Hand einer sorgenden Mutter.


Ich erwog, mich in einem der örtlichen Krankenhäuser zu melden, meine Dienste als Arzt zur Verfügung zu stellen — im Palo Verde in Blythe, das ich einmal im Rahmen einer Konsultation besucht hatte, oder vielleicht im La Paz Regional in Parker. Aber welchem Zweck sollte das dienen? Es gab keine Heilung für das, was uns erwartete. Es gab allenfalls Linderung, Morphium, Heroin — also Mollys Strategie, aber nur, wenn die Arzneischränke nicht schon geplündert waren.

Und was Fulton zu Jody gesagt hatte, traf im Wesentlichen zu: Ich hatte einen Hausbesuch zu machen.

Eine Suche. Mit mittlerweile quichottischen Zügen. Was immer es war, das Diane zu schaffen machte, ich würde auch das nicht in Ordnung bringen können. Warum also die Reise überhaupt zu Ende bringen? Natürlich, es war eine Möglichkeit, sich vor dem Ende der Welt zu beschäftigen — tätige Hände zittern nicht, ein tätiger Verstand gerät nicht in Panik. Aber das war keine Erklärung für die Dringlichkeit, das existenzielle Bedürfnis, sie zu sehen, das mich während des Flackerns auf die Straße getrieben hatte und das jetzt eher noch stärker geworden war.

Vorbei an Blythe, vorbei an dem beunruhigenden Streifen abgedunkelter Geschäfte, vorbei an den belagerten Tankstellen — und endlich lag die Straße offen vor mir. Der dunkle Himmel, das Funkeln der Sterne.

Und das Läuten des Handys. Ich wühlte in meiner Tasche, bremste ab, während ein Laster von hinten an mir vorbeirauschte.

»Tyler.« Simons Stimme.

Bevor er weiterreden konnte, sagte ich: »Gib mir deine Nummer, bevor wir wieder unterbrochen werden. Damit ich euch erreichen kann.«

»Das darf ich nicht. Ich…«

»Von wo rufst du an?«

»Ein Handy. Wir benutzen es nur für lokale Gespräche. Im Moment hab ich es, aber Aaron trägt es auch manchmal bei sich, also…«

»Ich würde nur anrufen, wenn es absolut notwendig ist.«

»Okay, ist vermutlich auch egal.« Er gab mir die Nummer. »Hast du den Himmel gesehen, Tyler? Klar, du bist ja wach. Es ist die letzte Nacht auf Erden, nicht wahr?«

Ich dachte: Warum fragst du mich das? Simon lebte seit drei Jahrzehnten in der letzten Nacht auf Erden. Man hätte annehmen sollen, dass er es besser wüsste als ich. »Was ist mit Diane, Simon?«

»Ich möchte mich für den letzten Anruf entschuldigen. Angesichts… angesichts dessen, was jetzt kommt.«

»Wie geht es ihr?«

»Das meine ich ja. Es kommt nicht mehr darauf an.«

»Ist sie tot?«

Lange Pause. Er klang gekränkt, als er sich wieder meldete. »Nein, sie ist nicht tot.«

»Schwebt sie in der Luft und wartet auf die Entrückung oder was?«

»Es ist nicht nötig, meinen Glauben zu beleidigen.« Meinen Glauben, nicht unseren Glauben.

»Dann braucht sie vielleicht ärztliche Behandlung. Ist sie noch krank, Simon?«

»Ja, aber…«

»Auf welche Art? Was sind die Symptome?«

»Nur noch eine Stunde, dann geht die Sonne auf, Tyler. Du weißt ja, was das bedeutet.«

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Und ich sitze gerade im Auto, ich kann vor Sonnenaufgang auf der Ranch sein.«

»Oh. Nein, das ist nicht gut. Nein, ich…«

»Warum nicht? Wenn es das Ende der Welt ist, warum soll ich dann nicht da sein?«

»Du verstehst nicht. Was jetzt geschieht, ist nicht nur das Ende der Welt. Es ist die Geburt einer neuen Welt.«

»Wie krank ist sie? Kann ich mit ihr sprechen?«

Simons Stimme begann zu zittern. Ein Mann am Rande des Zusammenbruchs. Wir befanden uns alle an diesem Rand. »Sie kann nur flüstern. Sie bekommt keine Luft. Sie ist schwach, hat stark abgenommen.«

»Wie lange geht das schon?«

»Ich weiß nicht. Ich meine, es fing allmählich an…«

»Wann wurde es offensichtlich, dass sie krank ist?«

»Vor ein paar Wochen. Oder vielleicht auch, äh, vor ein paar Monaten.«

»Ist sie irgendwie ärztlich behandelt worden?« Pause. »Simon?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es schien nicht notwendig.«

»Es schien nicht notwendig?«

»Pastor Dan wollte es nicht.«

Ich dachte: Und hast du Pastor Dan gesagt, dass er sich ganz gewaltig ins Knie ficken kann? »Ich hoffe, dass er sich inzwischen anders besonnen hat.«

»Nein.«

»Dann brauch ich deine Hilfe, um zu ihr zu kommen.«

»Tu das nicht, Tyler. Das nützt niemandem etwas.«

Ich war bereits dabei, nach der Abfahrt Ausschau zu halten, an die ich mich zwar nur undeutlich erinnerte, die ich aber auf der Karte markiert hatte. Eine namenlose Wüstenstraße, vom Highway runter in Richtung einer ausgetrockneten Cienaga. »Hat sie nach mir gefragt?« Stille. »Simon? Hat sie nach mir gefragt?«

»Ja.«

»Sag ihr, dass ich auf dem Weg zu ihr bin.«

»Nein, Tyler… Auf der Ranch gehen gerade ein paar problematische Dinge vor sich. Du kannst hier nicht einfach reinspazieren.«

Problematische Dinge? »Ich dachte, es würde eine neue Welt geboren.«

»Ja. In Blut geboren.«

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