In kochendem Wasser erwachsen werden

Von jüngeren Leuten werde ich oft gefragt: Warum seid ihr nicht in Panik verfallen? Warum ist niemand in Panik verfallen? Warum gab es keine Plünderungen, keine Aufstände? Warum hat eure Generation klein beigegeben, warum seid ihr in den Spin hineingeglitten, ohne auch nur den leistesten Protest zu erheben?

Manchmal sage ich: Aber es sind doch schreckliche Dinge passiert.

Manchmal sage ich: Wir haben ja nicht begriffen, was los war. Und was hätten wir daran auch ändern können?

Und manchmal gebe ich das Gleichnis vom Frosch zum Besten. Wenn du einen Frosch in kochendes Wasser wirfst, hüpft er wieder heraus. Wirfst du den Frosch aber in einen Topf mit angenehm warmem Wasser, das du langsam immer weiter erhitzt, dann ist der Frosch tot, bevor er begriffen hat, dass man ihm an den Kragen will.

Die Auslöschung der Sterne geschah zwar nicht allmählich und unauffällig, doch für die meisten von uns hatte sie zunächst keine katastrophalen Auswirkungen. Als Astronom oder Verteidigungspolitiker, oder als Beschäftigter in der Telekommunikations- beziehungsweise Raumfahrtbranche hat man die ersten Tage des Spins vermutlich in einem Zustand äußerster Erregung verbracht — für den Busfahrer oder den Angestellten in einem Burger-Restaurant aber war das alles mehr oder weniger warmes Wasser.

Die englischsprachigen Medien bezeichneten es als den »October Event« — das »Oktober-Ereignis« (»Spin« hieß es erst ein paar Jahre später), und seine erste und offensichtliche Wirkung war die vollständige Vernichtung der Milliarden Dollar schweren Weltraumsatelliten-Industrie. Der Verlust der Satelliten bedeutete das Ende des Satellitenfernsehens, das Ende der Direktübertragungen per Satellit; er machte das gesamte Fernsprechsystem unberechen- und GPS-Lokalisierer unbrauchbar; er kappte das World Wide Net, ließ den Großteil der avanciertesten Rüstungstechnologie auf einen Schlag veralten, beschnitt die Möglichkeiten globaler Überwachung und Aufklärung und zwang die Wetteransager, Isobare auf Landkarten zu zeichnen, anstatt geschmeidig durch die von Wettersatelliten gelieferten CGI-Bilder zu gleiten. Wiederholte Versuche, Kontakt mit der Internationalen Raumstation aufzunehmen, waren erfolglos. In Canaveral (wie in Baikonur und Kourou) angesetzte kommerzielle Raketenstarts wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

Es bedeutete, auf lange Sicht, eine ungute Entwicklung für GE Americom, AT&T, COMSAT und Hughes Communications, um nur einige zu nennen.

Und tatsächlich ereignete sich viel Schreckliches in der Folge jener Nacht, wenn auch das meiste im Blackout der Medien unterging. Nachrichten verbreiteten sich wie Geflüster, zwängten sich durch transatlantische Fiberoptikkabel, anstatt durch den Weltraum zu hüpfen: es dauerte fast eine Woche, bis wir erfuhren, dass ein pakistanischer Hatf-V-Flugkörper mit nuklearem Sprengkopf, versehentlich oder auf Grund von Fehlberechnungen abgeschossen in den verwirrenden ersten Augenblicken des Ereignisses, vom Kurs abgekommen war und ein landwirtschaftlich genutztes Tal im Hindukusch ausgelöscht hatte. Es war der erste in einem Krieg gezündete atomare Sprengkörper seit 1945, und so tragisch dieser Vorfall war, konnten wir angesichts der vom Verlust der Telekommunikation verursachten globalen Paranoia froh sein, dass so etwas nur einmal passierte. Einigen Berichten zufolge standen wir damals kurz davor, Teheran, Tel Aviv und Pjöngjang zu verlieren.


Vom Sonnenaufgang beschwichtigt, schlief ich bis mittags durch. Nachdem ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, fand ich meine Mutter, noch in ihrem gesteppten Morgenmantel, im Wohnzimmer, wie sie mit gerunzelter Stirn auf den Fernseher starrte. Ich fragte sie, ob sie schon gefrühstückt hätte, und sie verneinte. Also bereitete ich uns beiden etwas zum Mittagessen.

Sie wird in jenem Herbst fünfundvierzig Jahre alt gewesen sein. Hätte man von mir verlangt, sie mit einem Wort zu beschreiben, dann hätte ich vielleicht »ausgeglichen« gesagt. Sie war kaum einmal wütend, und das einzige Mal in meinem Leben, wo ich sie habe weinen sehen, war in der Nacht, als die Polizei bei uns klingelte (das war noch in Sacramento) und ihr mitteilte, dass mein Vater in der Nähe von Vacaville tödlich verunglückt war, auf der Heimfahrt von einer Geschäftsreise. Sie hat, glaube ich, großen Wert darauf gelegt, mir nur diesen Aspekt ihres Wesens zu zeigen. Es gab durchaus noch andere. Im Wohnzimmer stand ein gerahmtes Foto, Jahre vor meiner Geburt aufgenommen, das eine Frau zeigte, die so schön und furchtlos vor der Kamera stand, dass ich völlig von den Socken war, als sie mir sagte, es sei ein Porträt von ihr.

Offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie da im Fernsehen sah. Ein Lokalsender brachte Nachrichten nonstop, wiederholte von Kurzwellenradio und Amateurfunkern übermittelte Berichte und Geschichten sowie leicht verzerrte Ruhe-bewahren-Appelle seitens der Regierung. »Tyler.« Sie forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Letzte Nacht ist etwas passiert. Es ist schwer zu erklären…«

»Ich weiß. Ich hab davon gehört, bevor ich schlafen gegangen bin.«

»Du wusstest davon? Und hast mich nicht geweckt?«

»Ich war mir nicht sicher…«

Aber ihre Verärgerung wich so schnell, wie sie gekommen war. »Ist schon gut, Ty. Vermutlich hab ich nichts verpasst. Es ist komisch… mir ist, als würde ich immer noch schlafen.«

»Es sind nur die Sterne«, sagte ich, vollkommen idiotisch.

»Die Sterne und der Mond«, korrigierte sie mich. »Hast du das mit dem Mond nicht gehört? Niemand kann mehr die Sterne und den Mond sehen.«


Das mit dem Mond war natürlich ein wichtiger Hinweis.

Ich blieb eine Weile bei meiner Mutter sitzen, gebannt auf den Fernseher starrend, dann stand ich auf (»Komm diesmal nach Hause, bevor es dunkel wird«, sagte sie mit ernster Miene) und ging zum Großen Haus hinüber. Ich klopfte an der Hintertür, der, die sonst Koch und Maid benutzten, wenn auch die Lawtons peinlich darauf bedacht waren, niemals von einem »Dienstboteneingang« zu sprechen. Es war auch die Tür, durch die meine Mutter an den Wochentagen das Haus betrat, um den Haushalt der Lawtons zu führen.

Mrs. Lawton ließ mich herein, sah mich ausdruckslos an, winkte mich nach oben. Diane schlief noch, ihre Zimmertür war geschlossen. Jason hatte gar nicht geschlafen und anscheinend auch nicht die Absicht, es zu tun. Ich fand ihn in seinem Zimmer, vor dem Radio.

Jasons Zimmer war eine Aladinsche Höhle voll luxuriöser Gerätschaften, dergleichen ich selber heiß begehrte, ohne doch die Hoffnung zu haben, sie jemals zu besitzen: der Computer mit einer ultraschnellen ISP-Verbindung zum Beispiel, oder der Fernseher, zwar aus zweiter Hand, aber doppelt so groß wie der, der unser Wohnzimmer schmückte.

Nur für den Fall, dass er es noch nicht gehört hatte, informierte ich ihn: »Der Mond ist verschwunden.«

»Interessant, nicht wahr?« Jason stand auf, streckte sich, fuhr sich mit den Fingern durch das ungekämmte Haar. Er hatte sich seit gestern Abend nicht umgezogen, was von einer für ihn ganz untypischen Geistesabwesenheit zeugte. Obwohl erwiesenermaßen ein Genie, hatte Jason sich in meiner Gegenwart noch nie wie ein solches benommen — will sagen, er benahm sich nicht wie die Genies, die ich aus dem Kino kannte: Er blinzelte nicht ständig, stotterte nicht, schrieb keine algebraischen Gleichungen an die Wände. Jetzt jedoch wirkte er mächtig zerstreut. »Der Mond ist natürlich nicht verschwunden — wie könnte er auch? Dem Radio zufolge werden die üblichen Gezeiten an der Atlantikküste gemessen. Also ist der Mond noch da. Und wenn der Mond noch da ist, dann sind es auch die Sterne.«

»Aber warum können wir sie dann nicht sehen?«

Er warf mir einen verärgerten Blick zu. »Woher soll ich das wissen? Ich sage nichts weiter, als dass es wenigstens teilweise ein optisches Phänomen ist.«

»Sieh mal aus dem Fenster, Jase. Die Sonne scheint. Was soll das für ein optischer Trick sein, der die Sonnenstrahlen durchlasse aber die Sterne und den Mond verschluckt?«

»Noch einmal, wie soll ich das wissen? Aber was ist die Alternative, Tyler? Jemand hat Mond und Sterne in einen großen Sack gesteckt und ist damit weggelaufen?«

Nein, dachte ich. Es war die Erde, die im Sack steckte, aus irgendeinem Grund, den nicht einmal Jason erraten konnte.

»Trotzdem ein guter Hinweis«, sagte er, »das mit der Sonne. Keine optische Barriere, sondern ein optischer Filter. Interessant.«

»Und wer hat ihn dort hingetan?«

»Woher soll ich…« Er schüttelte gereizt den Kopf. »Deine Schlussfolgerungen gehen zu weit. Wer sagt, dass irgendjemand ihn dort hingetan hat? Es könnte ein Naturereignis sein, das einmal in einer Milliarde Jahren vorkommt, wie dass sich die Magnetpole umkehren. Es ist ein ziemlich großer Sprung zu der Annahme, dass irgendeine steuernde Intelligenz dahinter steckt.«

»Es könnte aber der Fall sein.«

»Vieles könnte der Fall sein.«

Angesichts des Spottes, den ich für meine Science-Fiction-Vorliebe hatte einstecken müssen, vermied ich es, das Wort »Außerirdische« auszusprechen. Aber natürlich war es genau das, woran ich als Erstes denken musste. Ich und auch viele andere Leute. Und selbst Jason musste zugeben, dass die Möglichkeit, außerirdische Wesen wären hier am Wirken, nicht völlig an den Haaren herbeigezogen war.

»Trotzdem«, sagte ich, »muss man sich fragen, warum sie so was tun würden.«

»Es gibt nur zwei stichhaltige Gründe. Um etwas vor uns zu verstecken. Oder um uns vor etwas anderem zu verstecken.«

»Was sagt denn dein Vater dazu?«

»Ich habe ihn nicht gefragt. Er hängt den ganzen Tag am Telefon. Versucht wahrscheinlich, so schnell wie möglich eine Verkaufsorder für seine GTE-Aktien zu platzieren.« Das war offenbar ein Witz. Ich wusste nicht genau, wovon er redete, aber es war für mich der erste Hinweis darauf, was der verlorene Zugang zum Weltraum für die Luft- und Raumfahrtindustrie im Allgemeinen und für die Familie Lawton im Besonderen bedeutete. »Ich hab letzte Nacht nicht geschlafen. Hab Angst gehabt, ich könnte was verpassen. Manchmal beneide ich meine Schwester. Weck mich, wenn jemand die Sache aufgeklärt hat.«

Ich begehrte sofort auf gegen diese, wie ich fand, abschätzige Bemerkung über Diane. »Sie hat auch nicht geschlafen.«

»Ach? Tatsächlich? Und woher willst du das wissen?«

Ertappt. »Wir haben ein bisschen am Telefon geredet…«

»Sie hat dich angerufen?«

»Ja, kurz vor Sonnenaufgang.«

»Herrgott, Tyler, du wirst ja ganz rot.«

»Gar nicht wahr.«

»O doch.«

Ein schroffes Klopfen an der Tür erlöste mich: E. D. Lawton, der aussah, als habe er auch nicht viel Schlaf gekriegt.

Jasons Vater war eine einschüchternde Erscheinung. Er war groß, breitschultrig, schwer zufrieden zu stellen, leicht zu verärgern. An den Wochenenden fegte er durch das Haus wie eine Sturmfront, Blitz und Donner verbreitend. (Meine Mutter hatte einmal gesagt: »E. D. gehört nicht zu den Personen, deren Aufmerksamkeit man zu erregen wünscht. Ich habe nie verstanden, warum Carol ihn geheiratet hat.«) Er war nicht gerade der klassische Selfmade-Geschäftsmann — sein Großvater, Gründer einer sagenhaft erfolgreichen Anwaltskanzlei in San Francisco, hatte die meisten von E. D.s frühen Projekten vorfinanziert —, aber es war ihm gelungen, sich ein lukratives Geschäft mit Höheninstrumenten und Leichter-als-Luft-Technologie aufzubauen, und das alles auf die harte Tour, ohne direkte Beziehungen zur Industrie, jedenfalls am Anfang.

Er betrat Jasons Zimmer mit mürrischem Gesicht, sah mich kurz an, seine Augen blitzten. »Tut mir Leid, Tyler, aber du wirst jetzt nach Hause gehen müssen. Ich habe einiges mit Jason zu besprechen.«

Jase protestierte nicht, und ich war meinerseits nicht übermäßig scharf darauf zu bleiben. Also schlüpfte ich in meine Stoffjacke und verschwand durch die Hintertür nach draußen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich am Bach, warf Steine und beobachtete die Eichhörnchen, wie sie für den nahenden Winter vorsorgten.


Die Sonne, der Mond und die Sterne.

In den folgenden Jahren wuchsen Kinder auf, die niemals den Mond mit eigenen Augen gesehen hatten; Menschen, die nur fünf oder sechs Jahre jünger waren als ich, kannten die Sterne praktisch nur aus alten Filmen und einer Hand voll immer falscher werdender Klischees. Einmal, ich war etwa Mitte dreißig, spielte ich einer jüngeren Frau den Song »Corcovado« von Antonio Carlos Jobim vor — die Version mit Gesang: »Quiet nights of quiet Stars« —, und sie fragte mich, ehrlich verblüfft: »Waren die Sterne denn laut?«

Aber wir hatten noch etwas verloren, etwas, das nicht so offensichtlich war wie die paar Lichter am Himmel — ein verlässliches Gefühl der Verortung. Die Erde ist rund, der Mond umkreist die Erde, die Erde umkreist die Sonne: das war alles an Kosmologie, was die meisten Leute kannten oder kennen wollten, und ich bezweifle, dass auch nur einer von hundert nach Abschluss der High School noch groß darüber nachdachte. Aber sie waren doch vor den Kopf gestoßen, als ihnen diese bescheidene Sicherheit weggenommen wurde.

Eine offizielle Erklärung zur Sonne erhielten wir erst in der zweiten Woche nach dem Oktober-Ereignis.

Die Sonne schien sich auf ihre angestammte Weise zu bewegen. Sie ging auf und unter, wie es den Ephemeriden entsprach, die Tage wurden in natürlicher Präzession kürzer; es gab nichts, was auf einen solaren Notstand schließen ließ. Vieles auf unserem Planeten, auch das Leben selbst, hängt von Beschaffenheit und Menge der die Erdoberfläche erreichenden Sonnenstrahlung ab, und daran hatte sich offenbar nichts geändert — was wir mit bloßem Auge von der Sonne sehen konnten, deutete auf denselben gelben Stern der G-Klasse hin, zu dem wir unser ganzes Leben lang hinaufgeblinzelt hatten.

Was ihm allerdings fehlte, das waren Sonnenflecken, Protuberanzen, Reflexlichter.

Die Sonne ist ein unruhiges Ding, stürmisch, gewalttätig. Sie kocht, sie brodelt, sie schäumt über mit gewaltigen Energien; sie badet das Sonnensystem in einem Strom aufgeladener Partikel, die uns töten würden, wären wir nicht durch das Magnetfeld der Erde geschützt. Aber seit dem Oktober-Ereignis, so verkündeten die Astronomen, war die Sonne eine geometrisch vollkommene Kugel von stetig gleicher und makelloser Helligkeit. Und aus dem Norden kam die Nachricht, dass die Aurora borealis, die Nordlichter — Produkt des Zusammentreffens unseres Magnetfelds mit jenen aufgeladenen Sonnenpartikeln — vom Spielplan verschwunden waren wie ein schlechtes Broadway-Stück.

Weitere Änderungen am Nachthimmel: keine Sternschnuppen mehr. In früheren Zeiten lagerte die Erde pro Jahr fast vierzig Millionen Kilo Weltraumstaub an, der Großteil davon entstand durch atmosphärische Reibung. Damit war es nun vorbei — keinerlei wahrnehmbare Meteoriten drangen während der ersten Wochen des Oktober-Ereignisses in die Atmosphäre ein, nicht einmal die mikroskopisch kleinen, die sogenannten Brownlee-Partikel. Astrophysikalisch gesprochen, herrschte eine ohrenbetäubende Stille.

Auch Jason hatte keine Erklärung dafür.


Die Sonne war also nicht die Sonne. Aber sie schien weiter, mochte sie auch eine Fälschung sein, und während sich ein Tag über den anderen schichtete, wurde die Verwirrung zwar nicht geringer, doch die öffentliche Erregung ebbte ab. (Das Wasser kochte nicht, es war nur warm.)

Aber welch reichhaltige Quelle für Gespräche bot das doch alles. Nicht allein das Himmelsrätsel, nein, auch seine unmittelbaren Folgen: der Zusammenbruch der Telekommunikation; die Tatsache, dass Kriege in anderen Weltgegenden nicht mehr per Satellit übertragen wurden, dass die GPS-gesteuerten »intelligenten« Bomben unversehens strohdumm geworden waren; der Fiberoptik-Goldrausch. Mit deprimierender Regelmäßigkeit erfolgten die Erklärungen aus Washington: »Derzeit gibt es keinerlei Hinweise, die auf feindselige Absichten irgendeiner Regierung oder anderer Kräfte schließen lassen.« Und: »Die besten Köpfe unserer Zeit bemühen sich darum, die möglichen negativen Auswirkungen dieser Hülle, die unsere Sicht auf das Universum versperrt, zu verstehen, zu erklären und schließlich gegebenenfalls rückgängig zu machen.« Beschwichtigender Wortsalat von einer Regierung, die noch immer hoffte, einen Feind, ob irdischer oder anderer Natur, ausfindig zu machen, der zu einer solchen Tat imstande war. Aber dieser Feind blieb hartnäckig im Dunkeln. Man begann, von einer »hypothetischen steuernden Intelligenz« zu sprechen. Unfähig, hinter die Mauern unseres Gefängnisses zu blicken, mussten wir uns darauf beschränken, seine Ränder und Ecken zu kartographieren.

Jason zog sich nach dem Ereignis fast einen Monat lang in sein Zimmer zurück. Während dieser Zeit konnte ich nie direkt mit ihm sprechen, bekam ihn allenfalls flüchtig zu Gesicht, wenn die Zwillinge vom Minibus der Rice Academy abgeholt wurden. Aber Diane rief mich fast jeden Abend auf meinem Handy an, gegen zehn oder elf, wenn wir einigermaßen sicher sein konnten, ungestört zu bleiben. Und ihre Anrufe bedeuteten mir viel, aus Gründen, die ich mir noch immer nicht recht eingestehen mochte.

»Jason hat eine ziemlich miese Laune«, sagte sie mir einmal. »Er meint, wenn wir nicht genau wüssten, ob die Sonne die Sonne ist, dann wüssten wir im Grunde gar nichts.«

»Vielleicht hat er Recht.«

»Aber es ist fast eine religiöse Angelegenheit für ihn. Er hat Karten immer so geliebt — wusstest du das, Tyler? Selbst als kleines Kind hatte er es schon raus, wie eine Landkarte funktioniert. Er wusste immer gern, wo er war. Es gibt den Dingen Sinn, pflegte er zu sagen. Gott, ich hab ihm immer so gern zugehört, wenn er über Karten redete. Ich glaube, das ist der Grund, warum er jetzt so durchdreht, mehr als die anderen. Nichts ist da, wo es sein soll. Er hat seine Landkarte verloren.«

Natürlich gab es bereits den einen oder anderen Hinweis. Noch vor Ablauf der ersten Woche hatte das Militär begonnen, Überreste herabgestürzter Satelliten zu bergen — Satelliten, die sich bis zu jener Oktobernacht in stabiler Umlaufbahn befunden hatten, dann aber vor Morgengrauen zurück auf die Erde gefallen waren. Und einige von ihnen hinterließen Trümmer, die erschreckende Erkenntnisse bargen. Doch diese Information wurde selbst dem Haushalt eines E. D. Lawton mit seinen außerordentlich guten Beziehungen erst nach einer gewissen Zeit zugänglich.


Unser erster Winter der dunklen Nächte war klaustrophobisch und fremd. Der Schnee kam früh: wir wohnten in Pendelentfernung von Washington, D.C., aber zu Weihnachten sah unsere Gegend eher aus wie Vermont. Und die Nachrichten blieben unheilvoll: Ein mit heißer Nadel gestricktes Friedensabkommen zwischen Indien und Pakistan verhinderte nicht, dass jederzeit neue Kampfhandlungen ausbrechen konnten; das von der UN gesponserte Dekontaminierungsprojekt im Hindukusch hatte bereits Dutzende von Leben gekostet, zusätzlich zu den ursprünglichen Opfern. In Nordafrika schwelten Buschfeuerkriege, während sich die Armeen der Industrienationen zurückzogen, um sich neu zu gruppieren. Der Ölpreis schoss in die Höhe — zu Hause ließen wir den Thermostaten ein paar Grad unterhalb angenehmer Temperaturen, bis die Tage wieder länger wurden (als die Sonne zurückkehrte und die erste Wachtel schrie).

Aber angesichts der unbekannten und kaum begriffenen Bedrohungen gelang es der Menschheit immerhin, keinen globalen heißen Krieg vom Zaun zu brechen — das sei zu unserer Ehre festgehalten. Wir stellten uns um und machten weiter, und im Frühling sprach man bereits von der »neuen Normalität«. Auf lange Sicht würden wir vielleicht einen noch höheren Preis für das zahlen müssen, was dem Planeten zugestoßen war… aber auf lange Sicht, wie es so schön heißt, müssen wir ohnehin alle sterben.

Ich sah die Veränderung an meiner Mutter; mit der Zeit wurde sie ruhiger, und das warme Wetter, als es dann endlich kam, zog ihr einiges an Spannung aus dem Gesicht. Und ich sah die Veränderung an Jason, der sich aus der meditativen Einkehr zurückmeldete. Allerdings machte ich mir Sorgen um Diane, die sich weigerte, überhaupt noch über die Sterne zu reden, und mich statt dessen in letzter Zeit wiederholt gefragt hatte, ob ich an Gott glaubte — ob ich glaubte, dass Gott verantwortlich sei für das, was im Oktober geschehen war.

Darüber könne ich nichts sagen, erklärte ich ihr. Meine Familie war nicht sehr religiös. Das Thema machte mich ehrlich gesagt ein bisschen nervös.


In jenem Sommer fuhren wir drei zum letzten Mal mit unseren Fahrrädern zur Fairway Mall.

Wir hatten diesen Ausflug schon hundert-, ja tausendmal gemacht. Die Zwillinge wurden allmählich ein bisschen zu alt dafür, aber in den sieben Jahren, die wir gemeinsam auf dem Grundstück des Großen Hauses wohnten, war es zu einem Ritual geworden, zur unverzichtbaren Sommersamstagsunternehmung. An regnerischen oder brüllend heißen Wochenenden ließen wir es schon mal ausfallen, doch wenn das Wetter okay war, zog es uns wie eine unsichtbare Hand zum Treffpunkt am Ende der langen Lawton-Auffahrt.

An diesem Tag wehte ein sanfter Wind, und das Sonnenlicht verlieh allem, was es berührte, eine tiefe organische Wärme. Es war, als wolle das Klima uns beruhigen: der Natur ging es, zehn Monate nach dem Ereignis, recht gut, danke der Nachfrage — auch wenn wir (wie Jason bisweilen sagte) jetzt ein gehegter Planet waren, ein von unbekannten Kräften bestellter Garten, kein Flecken kosmischen Wildwuchses mehr.

Jason fuhr ein teures Mountainbike, Diane das etwas weniger hermachende Gegenstück für Mädchen. Mein Fahrrad war ein Klappergestell, das meine Mutter in einem Secondhand-Laden gekauft hatte. Egal. Worauf es ankam, das war der Kiefernduft in der Luft und die vor uns aufgereihten leeren Stunden. Ich empfand es so, Diane empfand es so, und ich glaube, auch Jason empfand es so, obwohl er zerstreut und sogar ein bisschen verlegen wirkte, als wir aufsattelten. Ich schrieb es dem allgemeinen Stress oder — es war August — der Aussicht auf das neue Schuljahr zu. Jase befand sich in einem beschleunigten akademischen Zug an der Rice Academy, einer Eliteschule mit hohen Ansprüchen. Letztes Jahr hatte er seine Mathe- und Physikkurse spielend leicht absolviert — er hätte sie genauso gut unterrichten können —, aber im nächsten Semester war ein Schein in Latein zu erwerben. »Es ist nicht mal eine lebende Sprache«, sagte er. »Wer zum Teufel liest schon Latein, von klassischen Philologen mal abgesehen? Das ist, als würde man FORTRAN lernen. Alle wichtigen Texte wurden schon vor langer Zeit übersetzt. Macht es mich zu einem besseren Menschen, wenn ich Cicero im Original lese? Cicero, um Gottes willen! Der Alan Dershowitz der Römischen Republik.«

Ich nahm das alles nicht besonders ernst; eine unserer Lieblingsbeschäftigungen auf diesen Ausflügen bestand darin, uns in der Kunst des Klagens zu üben. (Ich hatte keine Ahnung, wer Alan Dershowitz war, irgendein Junge aus Jasons Schule, vermutete ich.) Aber heute war seine Laune doch recht unberechenbar. Auf den Pedalen stehend, radelte er ein Stück vor uns her.

Der Weg zur Mall zog sich an Grundstücken mit dichtem Baumbestand und Pastellhäusern mit gepflegten Gärten und eingelassenen Sprinklern entlang, die Regenbögen in die morgendliche Luft zeichneten. Das Sonnenlicht mochte gefälscht sein, gefiltert, aber es brach sich noch immer in Farben, wenn es durch herabfallendes Wasser drang, und es fühlte sich nach wie vor wie ein Segen an, wenn wir aus dem Schatten der Eichen auf den glitzernd weißen Bürgersteig fuhren.

Nach zehn oder fünfzehn Minuten bequemer Fahrt türmte sich der höchste Abschnitt der Bantam Hill Road vor uns auf — letztes Hindernis und wesentlicher Markstein auf dem Weg zur Mall. Die Bantam Hill Road war sehr steil, aber auf der anderen Seite wartete dann eine schön lange, sanfte Abfahrt bis zu den Parkplätzen der Mall. Jason hatte bereits ein Viertel des Anstiegs bewältigt.

Diane sah mich verschmitzt an. »Fahren wir um die Wette«, sagte sie.

Das war ziemlich schrecklich. Die Zwillinge hatten im Juni Geburtstag; ich erst im Oktober. Jeden Sommer waren sie also nicht nur ein, sondern zwei Jahre älter als ich: sie waren vierzehn geworden, während ich noch vier frustrierende Monate lang zwölf blieb. Der Unterschied machte sich auch als körperlicher Vorteil bemerkbar. Diane wusste, dass ich sie bergauf nicht schlagen konnte, aber sie trat dennoch energisch in die Pedalen und ich versuchte seufzend, meine quietschende alte Kiste auf ein konkurrenzfähiges Tempo zu steigern. Es war kein wirklicher Wettkampf. Diane hob sich aus dem Sattel ihrer strahlenden Maschine aus mattgeschliffenem Aluminium, und als sie die Steigung in Angriff nahm, hatte sie bereits einen mächtigen Schwung aufgebaut. Drei kleine Mädchen, die damit beschäftigt waren, Kreidemuster auf den Bürgersteig zu malen, sprangen eilig aus dem Weg. Sie warf einen Blick zu mir zurück, halb ermunternd, halb spöttisch.

Die steile Straße raubte ihr natürlich den Schwung, doch sie schaltete in einen tieferen Gang und ließ die Beine geschmeidig ihre Arbeit verrichten. Jason, inzwischen oben angelangt, hatte angehalten und hielt sich mit einem langen Bein im Gleichgewicht, während er belustigt zurückblickte. Ich mühte mich weiter, aber nach der Hälfte des Anstiegs schwankte mein Rad mehr, als dass es sich voranbewegte, und ich war gezwungen, abzusteigen und den Rest des Weges zu Fuß zu gehen.

Als ich endlich ankam, grinste mir Diane entgegen.

»Hast gewonnen«, sagte ich.

»Tut mir Leid, Tyler. Es war nicht gerade fair.«

Ich zuckte verlegen mit den Achseln.

Die Straße endete hier in einer Sackgasse, in der Baugrundstücke abgesteckt, aber noch keine Häuser errichtet worden waren. Die Mall lag westlich am Fuße eines langen sandigen Abhangs. Ein ausgestampfter Pfad schnitt durch struppige Bäume und Beerenbüsche. »Wir sehen uns unten«, rief Diane und rollte wieder davon.


Wir schlossen unsere Räder ab und betraten das gläserne Hauptschiff der Mall. Die Mall war ein beruhigender Ort, hauptsächlich weil sie sich seit letztem Oktober so wenig verändert hatte. Zeitungen und Fernsehen mochten nach wie vor in ständiger Alarmbereitschaft sein — die Mall lebte in seliger Abkehr von der Realität. Der einzige Hinweis darauf, dass in der Welt draußen etwas schief gelaufen sein könnte, war das Fehlen von Satellitenschüsseln im Angebot der Elektronikmärkte und ein ganzer Schwung von »Oktober«-Titeln in der Auslage des Buchladens. Jason schnaubte angesichts eines Paperbacks mit blau-goldenem Hochglanzcover, ein Buch, das den Anspruch erhob, das Oktober-Ereignis mit biblischen Prophezeiungen zu erklären. »Die einfachste Sorte Prophezeiung«, sagte er, »ist die, die etwas vorhersagt, was bereits geschehen ist.«

Diane sah ihn genervt an. »Auch wenn du nicht daran glaubst, brauchst du dich noch längst nicht darüber lustig zu machen.«

»Genau genommen mache ich mich nur über den Einband lustig. Das Buch selbst habe ich ja nicht gelesen.«

»Solltest du vielleicht.«

»Warum? Was verteidigst du denn hier?«

»Ich verteidige gar nichts. Aber vielleicht hat Gott etwas mit dem vergangenen Oktober zu tun. Das scheint mir keine so lächerliche Vorstellung zu sein.«

»Nun, tatsächlich ist das, ja, doch, eine ziemliche lächerliche Vorstellung.«

Sie verdrehte die Augen und stapfte, vor sich hinseufzend, voraus. Jase stellte das Buch zurück ins Regal.

Ich sagte ihm, dass die Leute meiner Meinung nach einfach nur verstehen wollten, was geschehen sei, und dass es deshalb solche Bücher gebe.

»Oder vielleicht wollen sie auch nur so tun, als würden sie verstehen wollen. Das nennt man Realitätsverweigerung. Willst du mal was wissen, Tyler?«

»Klar.«

»Behältst du’s für dich?« Er senkte die Stimme so, dass Diane, ein paar Schritte von uns entfernt, ihn nicht hören konnte. »Es ist noch nicht öffentlich bekannt gegeben.«

Eines der erstaunlichen Dinge an Jason war, dass er tatsächlich oft über wirklich bedeutende Informationen verfügte, die dann erst ein oder zwei Tage später in den Nachrichten auftauchten. In gewisser Weise war die Rice Academy nur seine Tagesschule, seine eigentliche Ausbildung fand unter Anleitung seines Vaters statt, und E. D. wollte ihm von Anfang an ein Verständnis dafür vermitteln, wie Geschäft, Wissenschaft und Technologie sich mit politischer Macht überschneiden. E. D. hatte sich die entsprechenden Erkenntnisse höchstselbst zunutze gemacht: Der Verlust der Telekommunikationssatelliten hatte einen riesigen neuen, sowohl zivilen als auch militärischen Markt für die Höhenballons (»Aerostaten«) eröffnet, die seine Firma herstellte. Eine Nischentechnologie wurde zum Renner, und E. D. war ganz vorn mit dabei. Und manchmal vertraute er seinem vierzehnjährigen Sohn Geheimnisse an, die er einem Konkurrenten nicht im Traum verraten würde.

E. D. wusste natürlich nicht, dass Jason diese Geheimnisse gelegentlich an mich weitergab. Ich behielt sie allerdings aufs Gewissenhafteste für mich. (Wem hätte ich sie auch schon verraten können? Ich hatte sonst keine richtigen Freunde; wir lebten in einer Gegend, in der soziale Unterschiede haarscharf wahrgenommen und bewertet wurden, und ernste, lerneifrige Söhne von alleinerziehenden, berufstätigen Müttern standen in der Popularitätstabelle nicht sehr weit oben.)

Jason flüsterte jetzt fast. »Du hast von den drei russischen Kosmonauten gehört? Die im letzten Oktober gerade im Weltraum waren?«

In der Nacht des Ereignisses verschwunden und für tot erklärt. Ich nickte.

»Einer von ihnen lebt. Lebt und ist wieder in Moskau. Die Russen sagen nicht viel. Aber es geht das Gerücht, dass er komplett verrückt geworden ist.«

Ich starrte ihn mit großen Augen an, doch mehr wollte er nicht herausrücken.


Es dauerte zwölf Monate, bis die Wahrheit ans Licht kam, und als sie endlich öffentlich gemacht wurde (als Fußnote in einer europäischen Geschichte der frühen Spin-Jahre), musste ich an den Tag in der Mall denken.

Folgendes war geschehen: Drei russische Kosmonauten hatten sich, von einem Aufräumeinsatz in der moribunden Internationalen Raumstation zurückkehrend, in der Nacht des Oktober-Ereignisses in der Erdumlaufbahn befunden. Kurz nach Mitternacht Ostküstenzeit stellte der Einsatzkommandant, ein gewisser Oberst Leonid Glawin, fest, dass der Funkkontakt zur Bodenstation abgerissen war. Er unternahm wiederholte, stets erfolglose Versuche, ihn wiederherzustellen. So beunruhigend das für die Kosmonauten schon gewesen sein muss, es wurde alles sehr schnell noch schlimmer: Als die Sojus von der Nachtseite des Planeten in den Sonnenaufgang flog, schien es, als sei der Planet, den sie umkreiste, durch eine lichtlose schwarze Kugel ersetzt worden. Oberst Glawin sollte es später auf genau diese Weise beschreiben: als eine Schwärze, eine Abwesenheit, sichtbar nur, wenn sie vor die Sonne trat, eine permanente Eklipse. Der schnelle Zyklus von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bot den einzig überzeugenden Anhaltspunkt dafür, dass die Erde überhaupt noch existierte. Abrupt erschien das Sonnenlicht hinter dem Umriss der Scheibe, keinerlei Reflexion in die Dunkelheit darunter werfend, und verschwand ebenso plötzlich, sobald die Raumkapsel wieder in die Nacht glitt.

Das Entsetzen der Kosmonauten muss unvorstellbar gewesen sein.

Nachdem sie eine Woche lang um die leere Dunkelheit gekreist waren, entschlossen sie sich, lieber einen Wiedereintritt ohne Beistand der Bodenstation zu versuchen, als weiter im Weltraum zu bleiben oder an die leere Raumstation anzudocken; lieber auf der Erde — oder dem, was aus der Erde geworden war — sterben, als in der völligen Einsamkeit des Alls zu verhungern. Ohne Anleitung vom Boden und ohne visuelle Orientierungspunkte waren sie jedoch gezwungen, sich auf Berechnungen zu stützen, die sie von ihrer letzten bekannten Position aus extrapolierten. So trat die Sojus-Kapsel in einem gefährlich steilen Winkel in die Atmosphäre ein, wurde von extremen Fliehkräften geschüttelt und verlor während des Abstiegs einen unverzichtbaren Fallschirm.

Die Kapsel schlug auf einem bewaldeten Hang im Ruhrtal auf. Wassily Golubjew wurde sofort getötet, Walentina Kirchoff erlitt eine schwere Kopfverletzung und starb nach wenigen Stunden. Der benommene Oberst Glawin, der lediglich ein gebrochenes Handgelenk und geringfügige Abschürfungen zu beklagen hatte, schaffte es, das Raumfahrzeug zu verlassen und wurde schließlich von einer deutschen Rettungsmannschaft aufgefunden und den Russen übergeben.

Nach wiederholten Befragungen kam man zu dem Schluss, dass Glawin in der Folge seines Martyriums den Verstand verloren hatte. Der Oberst erklärte beharrlich, dass er mit seiner Crew drei Wochen in der Umlaufbahn verbracht hätte, aber das war ganz offensichtlich Irrsinn. Denn die Sojus-Kapsel war, wie das ganze andere künstliche Weltrauminventar, noch in der Nacht des Oktober-Ereignisses auf die Erde zurückgestürzt.


Zu Mittag aßen wir im Food Court in der Mall, wo Diane drei Mädchen entdeckte, die sie aus der Academy kannte. Sie waren schon etwas älter, unfassbar kultiviert und mondän in meinen Augen, mit blau oder rosa getönten Haaren, die teuren Schlaghosen ganz tief auf der Hüfte sitzend, um die blassen Hälse Kettchen mit winzigem Goldkreuz. Diane zerknüllte ihre Taco-Verpackung und ging zu ihrem Tisch rüber. Kurz darauf steckten sie alle vier die Köpfe zusammen und lachten. Plötzlich sahen mein Burrito und die Pommes ziemlich unappetitlich aus.

Jason wertete aus, was er in meinem Gesicht sah. »Weißt du«, sagte er sanft, »das ist halt unvermeidlich.«

»Was ist unvermeidlich?«

»Sie lebt nicht mehr in unserer Welt. Du, ich, Diane, das Große Haus und das Kleine Haus. Samstags in die Mall, sonntags ins Kino. Das hat funktioniert, solange wir Kinder waren. Aber wir sind keine Kinder mehr.«

Waren wir das nicht mehr? Nein, natürlich nicht — aber hatte ich mir auch überlegt, was das bedeutete oder bedeuten konnte?

»Sie hat jetzt schon seit einem Jahr ihre Periode«, fügte Jason noch hinzu.

Ich erbleichte. Das war mehr, als ich wissen musste. Und dennoch: ich war eifersüchtig, dass er es wusste und ich nicht. Sie hatte mir nichts von ihrer Periode oder ihren Freundinnen von der Rice Academy erzählt. All die Vertraulichkeiten, die sie mir am Telefon mitgeteilt hatte, waren, das begriff ich plötzlich, Kinderkram: Geschichten über Jason und ihre Eltern und darüber, was sie beim Abendessen nicht gemocht hatte. Hier war der Beweis, dass sie ebenso viel verborgen wie mitgeteilt hatte; hier manifestierte sich eine Diane, die ich nie kennen gelernt hatte.

»Wir sollten wieder nach Hause fahren«, sagte ich zu Jason.

Er warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Wenn du möchtest.« Er stand auf.

»Sagst du Diane Bescheid, dass wir gehen?«

»Ich glaube, sie ist beschäftigt, Tyler. Könnte mir vorstellen, dass sie noch etwas vorhat.«

»Aber sie muss mit uns zurückfahren.«

»Nein, das muss sie nicht.«

Ich war empört. Sie konnte uns nicht einfach fallen lassen, das war ihrer nicht würdig. Ich erhob mich und ging hinüber. Diane und ihre drei Freundinnen schenkten mir ihre volle Aufmerksamkeit. Ich wandte mich direkt an Diane, ignorierte die anderen. »Wir fahren nach Hause.«

Die drei Rice-Mädchen lachten lauthals los. Diane lächelte nur peinlich berührt und sagte: »Okay, Ty. Klasse. Wir sehen uns dann später.«

»Aber…«

Aber was? Sie sah mich schon nicht mal mehr an.

Als ich wegging, hörte ich, wie eines der Mädchen Diane fragte, ob ich »noch ein anderer Bruder« sei. Nein, erwiderte sie. Nur ein Junge, den sie kenne.

Jason, der ein etwas unangenehmes Mitgefühl an den Tag legte, bot mir an, auf der Rückfahrt die Räder zu tauschen. Sein Fahrrad interessierte mich zwar momentan herzlich wenig, aber ich dachte, dass so ein Fahrradtausch vielleicht eine ganz gute Möglichkeit wäre, meine Gefühle zu verbergen.

Also kämpften wir uns wieder hinauf zum höchsten Punkt der Bantam Hill Road, von wo sich der Asphalt wie ein schwarzes Band nach unten bis zu den von Bäumen beschatteten Straßen erstreckte. Das Mittagessen fühlte sich an wie ein unter meinen Rippen eingegrabener Schlackenstein. Ich nahm die steile Neigung der Straße sorgsam in Augenschein.

»Lass einfach rollen«, sagte Jason. »Nur zu. Du musst dich reinfallen lassen.«

Würde die Geschwindigkeit mich ablenken? Konnte mich irgendetwas ablenken? Ich hasste mich dafür, dass ich mir erlaubt hatte zu glauben, ich stünde im Mittelpunkt von Dianes Welt.

Wo ich doch nur ein Junge war, den sie kannte… Aber es war wirklich ein wunderbares Fahrrad, das Jason mir da geliehen hatte. Ich stand auf den Pedalen, forderte die Schwerkraft heraus. Die Reifen knirschten auf dem staubigen Asphalt, doch die Kette und die Kugellager waren wie Samt, völlig leise, abgesehen von einem feinen Schnurren. Der Wind rauschte an mir vorbei, als ich Geschwindigkeit aufnahm. Ich flog an adrett bemalten Häusern vorbei, in deren Auffahrten teure Autos parkten; ich war einsam, aber frei. Als ich dem unteren Ende näher kam, drückte ich die Handbremse, nahm etwas Schwung heraus, ohne eigentlich langsamer zu werden. Ich wollte nicht anhalten, es war eine schöne Fahrt.

Aber die Straße wurde eben, und schließlich bremste ich und kam leicht schwankend zum Stehen, den linken Fuß auf den Asphalt setzend. Ich sah zurück.

Jason stand, mein altes Klapperrad unter dem Hintern, ganz oben auf der Bantam Hill Road, so weit entfernt, dass er aussah wie ein einsamer Reiter in einem alten Western. Ich winkte. Jetzt war er an der Reihe.

Jason war diesen Hügel sicher schon tausendmal hinauf- und hinuntergefahren. Aber noch nie auf einem schrottigen Secondhand-Fahrrad.

Er passte besser auf das Fahrrad als ich. Er hatte längere Beine, bei ihm sah es nicht so aus, als würde der Rahmen ihn überragen. Allerdings hatten wir bisher noch nie die Räder getauscht, und ich musste an all die Fehler und kleinen Eigenheiten denken, die dieses Rad auszeichneten und die ich genauestens kannte, an die ich meinen Fahrstil angepasst hatte — indem ich etwa vermied, scharf nach rechts zu lenken, weil der Rahmen etwas verzogen war, indem ich mich immer auf plötzliche Wackler gefasst machte, indem ich stets daran dachte, dass die Gangschaltung ein Witz war. Jason wusste das alles nicht; die Abfahrt konnte heikel werden. Ich wollte ihm sagen, dass er es langsam angehen sollte, aber selbst wenn ich geschrien hätte, hätte er mich nicht gehört, ich war einfach zu weit weg. Er hob die Füße an wie ein großes, linkisches Kind. Das Rad war schwer, es brauchte ein paar Sekunden, um richtig in Gang zu kommen, und ich wusste, wie schwer es erst sein würde, es zum Halten zu bringen. Es war reine Masse, ohne jede Grazie. Meine Hände spannten sich um imaginäre Bremsen.

Ich glaube, Jason ahnte erst, dass er ein Problem hatte, als er etwa drei Viertel der Strecke zurückgelegt hatte. Das war der Moment, als die roststarre Kette riss und gegen seinen Knöchel peitschte. Er war jetzt so nahe, dass ich sehen konnte, wie er zusammenzuckte und kurz aufschrie. Das Rad wackelte, aber wie durch ein Wunder gelang es ihm, es aufrecht zu halten.

Ein Ende der Kette verfing sich am Hinterrad und schlug gegen die Speichen, ein Geräusch, das an einen kaputten Presslufthammer erinnerte. Zwei Häuser weiter hielt sich eine Frau, die gerade ihren Garten jätete, die Ohren zu und drehte sich nach dem Lärm um.

Es war wirklich erstaunlich, wie lange Jason die Kontrolle über das Rad behielt. Ohne ein Athlet zu sein, war er doch eins mit seinem langen, schlaksigen Körper. Er streckte die Beine von sich, um das Gleichgewicht zu halten — die Pedale waren nutzlos geworden —, und steuerte mit dem Vorderrad eisern geradeaus, während das Hinterrad blockierte und über den Asphalt schleifte. Er hielt stand. Was mich besonders erstaunte, war die Art, wie sein Körper sich nicht etwa versteifte, sondern sich sogar zu entspannen schien, als sei er mit der Lösung eines zwar schwierigen, aber interessanten Problems beschäftigt, als hege er die unerschütterliche Überzeugung, dass das Zusammenwirken seines Verstands, seines Körpers und der Maschine, auf der er saß, ihn jegliche Herausforderung würde meistern lassen.

Es war die Maschine, die zuerst versagte. Das um sich schlagende lose Ende der schmierigen Kette zwängte sich zwischen Reifen und Rahmen. Das Hinterrad, ohnehin schon außer Gefecht gesetzt, verbog sich immer mehr und klappte schließlich zusammen, abgerissenes Gummi und freigesetzte Kugellager durch die Gegend schleudernd. Jason flog vom Rad und purzelte durch die Luft wie eine aus dem Fenster geworfene Schaufensterpuppe. Zuerst prallten seine Füße auf den Asphalt, dann die Knie, die Ellbogen, der Kopf, während das zerdetschte Fahrrad an ihm vorbeisegelte und am Straßenrand zum Liegen kam, das Vorderrad drehte sich immer noch klappernd weiter. Ich ließ sein Fahrrad fallen und lief zu ihm.

Er wälzte sich herum und blickte auf, kurzzeitig verwirrt. Hemd und Hose waren zerrissen. Seine Stirn und die Nase waren aufgeschürft und bluteten heftig. Auch ein Knöchel war aufgerissen. Seine Augen tränten vom Schmerz. »Tyler«, sagte er. »Oh, uh, uh… tut mir Leid, das mit deinem Rad, ey.«

Ich will diesen Vorfall nicht überbewerten, aber ich musste doch so manches Mal daran denken in den folgenden Jahren — Jasons Maschine und Jasons Körper, aneinander gekettet in riskanter Beschleunigung, und sein unbeirrbarer Glaube daran, dass er die Situation bewältigen könne, ganz allein, solange er sich nur entschlossen genug bemühte, solange er nur nicht die Kontrolle verlor.


Wir ließen das völlig zerstörte Fahrrad im Rinnstein liegen, und ich schob Jasons Luxusgerät für ihn nach Hause. Er trottete neben mir her. Er hatte offensichtlich Schmerzen, versuchte es sich aber nicht anmerken zu lassen. Die rechte Hand hielt er vor die blutende Stirn, so als brumme ihm der Kopf, was er vermutlich auch tat.

Als wir uns dem Großen Haus näherten, sprangen Jasons Eltern beide die Verandatreppe herunter und kamen uns in der Auffahrt entgegen. E. D. Lawton, der uns von seinem Arbeitszimmer aus beobachtet haben musste, sah wütend und besorgt aus; er schürzte den Mund und runzelte die Stirn, dass die Brauen sich über die blitzenden Augen wölbten. Jasons Mutter, ein Stück dahinter, war distanzierter, weniger interessiert, vielleicht sogar ein bisschen betrunken, dem Schwanken nach zu urteilen, mit dem sie aus der Tür gekommen war.

E. D. nahm Jason — der plötzlich viel jünger und weniger selbstsicher wirkte — in Augenschein und wies ihn dann an, ins Haus zu gehen und sich sauber zu machen.

Dann wandte er sich mir zu.

»Tyler«, sagte er.

»Sir?«

»Ich nehme an, du warst nicht verantwortlich für diesen Vorfall. Das hoffe ich jedenfalls.«

Hatte er bemerkt, dass mein Fahrrad fehlte und Jasons unbeschädigt war? Wollte er mir irgendwelche Vorwürfe machen? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich sah den Rasen an.

E. D. seufzte. »Lass mich dir etwas erklären. Du bist Jasons Freund. Das ist gut. Jason braucht das. Aber du musst begreifen, dass deine Anwesenheit hier — deine Mutter weiß das sehr gut — mit gewissen Verpflichtungen verbunden ist. Wenn du mit Jason Zusammensein willst, erwarte ich von dir, dass du auf ihn Acht gibst. Ich erwarte, dass du vernünftige Entscheidungen triffst. Vielleicht kommt Jason dir wie ein gewöhnlicher Junge vor. Aber das ist er nicht. Jason ist hoch begabt und er hat eine große Zukunft vor sich. Wir können nicht zulassen, dass das in irgendeiner Form gefährdet wird.«

»Genau«, schaltete sich Carol Lawton ein, und jetzt wusste ich mit Gewissheit, dass sie getrunken hatte. Sie legte den Kopf schief und taumelte fast in das Kiesbett, dass die Auffahrt von der Hecke trennte. »Genau, er ist ein verdammtes Genie. Er wird das jüngste Genie am M.I.T. sein. Mach ihn nicht kaputt, Tyler, er ist zerbrechlich.«

E. D. wandte den Blick nicht von mir ab. »Geh wieder rein, Carol«, sagte er tonlos. Dann: »Haben wir uns verstanden, Tyler?«

»Ja, Sir.«

Ich hatte E. D. überhaupt nicht verstanden. Aber ich wusste, dass jedenfalls ein Teil dessen, was er gesagt hatte, wahr war. Ja, Jason war etwas Besonderes. Und ja, es war meine Aufgabe, auf ihn aufzupassen.

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