Nichts hat bestand

Ich erwachte und mir war klar, dass ich nicht darauf vorbereitet war, sie wiederzusehen.

Erwachte in E. D.s plüschigem Sommerhaus in den Berkshires, die Sonne schien durch filigrane Spitzenjalousien, und ich dachte: Genug von dem Quatsch! Ich hatte die Nase voll davon. All der selbstsüchtige Blödsinn der letzten acht Jahre, bis hin zu der Affäre mit Candice Boone, die meine Lebenslügen schneller durchschaut hatte als ich. »Du bist ein bisschen fixiert auf diese Lawtons, wie?«, hatte sie einmal angemerkt. Ach, wie kommst du denn darauf?

Ich konnte nicht im Ernst behaupten, dass ich noch in Diane verliebt war. Die Beziehung zwischen uns war nie so eindeutig gewesen. Wir waren beide hinein- und wieder herausgewachsen, wie Weinreben, die durch einen Gitterzaun ranken. Aber in den besten Zeiten war es eine echte, eine enge Verbindung gewesen, getragen von einem in seiner Gewichtigkeit und Reife fast beängstigendem Gefühl. Weshalb ich so sehr darauf bedacht gewesen war, es zu tarnen — es hätte sonst auch ihr Angst gemacht.

Immer noch ertappte ich mich dabei, dass ich imaginäre Gespräche mit ihr führte, meistens spät in der Nacht, als eine Art Bühnengeflüster zum Sternenlosen Himmel. Ich war egoistisch genug, sie zu vermissen, doch auch vernünftig genug, zu wissen, dass wir in Wirklichkeit nie zusammen gewesen waren. Ich war voll und ganz bereit, sie zu vergessen.

Ich war nur nicht darauf vorbereitet, sie wiederzusehen.


Als ich nach unten kam, um mir Frühstück zu machen, saß Jason bereits in der Küche. Er hatte die Tür geöffnet. Frische Luft zog durchs Haus. Ich dachte ernsthaft daran, meine Tasche in den Kofferraum des Hyundais zu werfen und einfach wegzufahren. »Erzähl mir von dieser NK-Sache«, sagte ich.

»Liest du eigentlich überhaupt irgendwelche Zeitungen? Oder werden die Medizinstudenten in Stony Brook in Isolation gehalten?«

Natürlich wusste ich ein bisschen was über NK, eben das, was ich in den Nachrichten gehört oder aus Unterhaltungen in der Mensa aufgeschnappt hatte. Ich wusste, dass NK für »New Kingdom«, »Neues Königreich« stand. Ich wusste, dass es sich um eine vom Spin inspirierte christliche Bewegung handelte — nominell christlich jedenfalls, von Seiten der Kirche, egal welcher Strömung, wurde sie scharf abgelehnt. Ich wusste, dass sie vor allem die Jungen und Unzufriedenen anlockte. Im ersten Jahr in Stony Brook hatten zwei Typen aus meinem Semester das Studium abgebrochen und sich für NK entschieden, hatten eine ungewisse akademische Karriere gegen eine etwas weniger fordernde Erleuchtung eingetauscht.

»Es ist im Grunde eine millenaristische Bewegung«, sagte Jason. »Kommt ein bisschen spät, was das Millenium angeht, aber genau rechtzeitig zum Ende der Welt.«

»Ein Kult, mit anderen Worten.«

»Nein, eigentlich nicht. NK ist ein Schlagwort für das gesamte christlich-hedonistische Spektrum, es ist also kein Kult, obwohl einige kultartige Gruppen dazugehören. Es gibt keinen Führer. Keine heilige Schrift. Nur ein paar abseitige Theologen, mit denen die Bewegung lose assoziiert wird — C. R. Ratel, Laura Greengage, solche Leute.« Ich hatte deren Bücher in den Drugstores gesehen. Spin-Theologie mit Fragezeichentiteln: Erleben wir die Wiederkunft Christi? Überleben wir das Ende der Zeit? »Und auch kein großes Programm, abgesehen von einer Art Wochenendkommunalismus. Aber was die Massen anzieht, das ist nicht die Theologie. Hast du schon mal Berichte oder Bilder von diesen NK-Versammlungen gesehen, vor allem die, die sie Ekstasis nennen?«

Das hatte ich, und anders als Jason, dem die Angelegenheiten des Fleisches doch immer eher fremd geblieben waren, konnte ich die Faszination nachvollziehen. Was ich gesehen hatte, war eine Videoaufzeichnung einer Zusammenkunft in den Cascades, aus dem Sommer letzten Jahres. Es hatte ausgesehen wie eine Mischung aus einem Baptistenpicknick und einem Grateful-Dead-Konzert. Eine sonnige Wiese, Blumen, zeremonielle weiße Gewänder, ein Typ mit null Prozent Körperfett, der auf einem Schofar blies. Bei Einbruch der Dunkelheit brannte ein großes Feuer und für die Musiker war eine Bühne errichtet worden. Dann fielen die Gewänder und das Tanzen begann. Und auch einige intimere Handlungen.

Bei aller von weiten Teilen der Medien bekundeten Abscheu — das Ganze hatte auf mich rührend unschuldig gewirkt. Keine Predigten, nur ein paar hundert Pilger, die der Auslöschung ins aufgerissene Maul lächelten und ihren Nächsten so liebten, wie sie selbst geliebt werden wollten. Der Film war auf DVD gebrannt worden und kursierte landesweit in den Studentenwohnheimen, unter anderem auch in Stony Brook. Kein Sexualakt ist so Garten-Eden-mäßig, dass ein einsamer Medizinstudent sich dazu nicht einen runterholen könnte.

»Schwer, sich vorzustellen, dass Diane von so etwas wie NK angezogen wird.«

»Im Gegenteil, Diane repräsentiert das Zielpublikum. Sie hat eine Todesangst vor dem Spin und allem, was er für die Welt impliziert. NK ist ein Schmerzmittel für Leute wie sie. Es verwandelt das, wovor sie am meisten Angst haben, in einen Gegenstand der Anbetung, die Eingangstür ins Königreich des Himmels.«

»Wie lange ist sie schon dabei?«

»Inzwischen fast ein Jahr. Seit sie Simon Townsend kennen gelernt hat.«

»Simon ist ein NKler?«

»Simon, fürchte ich, ist ein hundertfünfzigprozentiger NKler.«

»Hast du ihn schon einmal gesehen?«

»Sie hat ihn letzte Weihnachten mit ins Große Haus gebracht. Ich glaube, sie wollte sich das Feuerwerk ansehen. E. D. hält natürlich gar nichts von Simon. Seine Einstellung war ziemlich offensichtlich.« Jason zuckte kurz zusammen, offenbar bei der Erinnerung an einen Wutanfall, der selbst für E. D.s Verhältnisse spektakulär gewesen sein musste. »Aber Diane und Simon haben das NK-Ding durchgezogen — nämlich die andere Wange hingehalten. Sie haben ihn praktisch zu Tode gelächelt. Ich meine, buchstäblich. Er war nur noch einen sanften, vergebenden Blick von der Herzstation entfernt.«

Eins zu null für Simon, dachte ich. »Ist er gut für sie?«

»Er ist genau das, was sie will. Und er ist das Letzte, was sie braucht.«


Sie trafen nachmittags ein, knatterten die Auffahrt hoch in einem fünfzehn Jahre alten Tourenwagen, der mehr Öl zu verbrennen schien als der Rasenmäher von Mike, dem Gartenmann. Diane saß am Steuer. Sie hielt an und stieg auf der abgewandten Seite des Autos aus, verdeckt vom Dachgepäckträger, während Simon, schüchtern lächelnd, uns direkt vor die Augen trat.

Er war ein gut aussehender Mann. Eins fünfundachtzig oder etwas drüber; dünn, aber kein Schwächling; ein etwas pferdeähnliches Gesicht, was jedoch durch die ungebärdigen goldblonden Haare gut ausbalanciert wurde. Sein Lächeln offenbarte einen Spalt zwischen den oberen Schneidezähnen. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd und um den linken Oberarm ein blaues, wie ein Tourniquet gebundenes Tuch; das war ein NK-Emblem, wie ich später erfuhr.

Diane kam um den Wagen herum und stellte sich neben ihn, beide sahen zur Veranda herauf, wo Jason und ich sie erwarteten. Auch sie trug die aktuelle NK-Mode: kornblumenblaues, bodenlanges Kleid, blaue Bluse und ein alberner schwarzer, breitkrempiger Hut, von der Art, wie ihn die Amish-Männer tragen. Aber die Sachen standen ihr, oder besser gesagt, sie verliehen ihr einen angenehmen Rahmen, deuteten auf robuste Gesundheit und bäuerliche Sinnlichkeit. Ihr Gesicht war so lebendig wie eine ungepflückte Beere. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und grinste — besonders in meine Richtung, wie ich glauben wollte. Mein Gott, dieses Lächeln. Irgendwie echt und schelmisch zugleich.

Ich begann mich sehr verloren zu fühlen.

Jasons Handy trillerte. Er zog es aus der Tasche und sah auf das Display.

»Muss ich entgegennehmen«, flüsterte er.

»Lass mich hier jetzt nicht allein, Jase.«

»Geh nur kurz in die Küche. Bin gleich wieder da.«

Er tauchte ab, gerade als Simon seinen großen Matchbeutel mit Schwung auf die Holzbretter der Veranda hievte und sagte: »Du musst Tyler Dupree sein.«

Er streckte die Hand aus. Ich schüttelte sie. Er hatte einen festen Händedruck und einen honigsüßen Südstaatenakzent, die Vokale wie poliertes Treibholz, die Konsonanten höflich wie eine Visitenkarte. Aus seinem Mund klang mein Name hundertprozentig nach Cajun, obwohl meine Familie nie weiter südlich als bis nach Millinocket gekommen war. Diane schnellte hinter ihm hoch, schrie »Tyler!« und packte mich in einer wilden Umarmung. Plötzlich hatte ich ihr Haar im Gesicht, und alles, was ich noch registrieren konnte, war ihr sonniger, salziger Geruch.

Wir zogen uns auf angemessenen Armlängenabstand zurück. »Tyler, Tyler«, rief sie, als hätte ich mich in etwas überaus Bemerkenswertes verwandelt. »Du siehst gut aus nach all den Jahren.«

»Acht«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen. »Acht Jahre.«

»Wow, ist das wahr?«

Ich half ihnen, das Gepäck reinzutragen, führte sie in den Salon mit direkter Verbindung zur Veranda und eilte dann davon, um Jason zu holen, der in der Küche mit seinem Handy interagierte. Er kehrte mir den Rücken zu, als ich reinkam.

»Nein«, sagte er gerade. Seine Stimme klang angespannt. »Nein… nicht einmal das State Department?«

Ich erstarrte. Das State Department. Auweia.

»Ich könnte in ein paar Stunden da sein, falls — oh, verstehe. Okay. Nein, das ist in Ordnung. Aber haltet mich auf dem Laufenden. Genau. Danke.«

Er steckte das Telefon weg und bemerkte, dass ich da war.

»War das E. D.?«, fragte ich.

»Sein Assistent.«

»Alles in Ordnung?«

»Na komm, Tyler, soll ich dir etwa alle Geheimnisse verraten?« Er versuchte sich an einem Lächeln, nicht sehr erfolgreich. »Ich wünschte, du hättest das nicht mitgehört.«

»Ich hab nur gehört, wie du angeboten hast, nach D.C. zu kommen und mich hier mit Simon und Diane allein zu lassen.«

»Tja… werde ich vielleicht müssen. Die Chinesen stellen sich störrisch.«

»Störrisch? Was heißt das?«

»Sie weigern sich, den geplanten Raketenstart ganz abzublasen. Sie wollen sich diese Option offenhalten.«

Den nuklearen Angriff auf die Spin-Artefakte, meinte er. »Ich nehme an, irgendjemand versucht gerade, ihnen das auszureden?«

»Die Diplomatie läuft auf vollen Touren. Sie ist nur nicht gerade sehr erfolgreich. Die Verhandlungen sind offenbar festgefahren.«

»Also — na ja, Scheiße, Jase! Was bedeutet es, wenn sie tatsächlich losschlagen?«

»Es würde bedeuten, dass zwei thermonukleare Fusionswaffen in unmittelbarer Nähe zu unbekannten, mit dem Spin in Verbindung stehenden Vorrichtungen zur Detonation gebracht werden. Was die Folgen betrifft — nun, das ist eine interessante Frage. Aber noch ist es nicht passiert. Wird es wahrscheinlich auch nicht.«

»Du sprichst hier vom Weltuntergang. Oder vom Ende des Spins…«

»Nicht so laut, bitte. Wir haben Gäste, erinnerst du dich? Außerdem solltest du nicht überreagieren. Was die Chinesen beabsichtigen, ist übereilt und wahrscheinlich sinnlos, aber selbst wenn sie es in die Tat umsetzen, wird es nicht zur Selbstauslöschung kommen. Was immer die Hypothetischen sind, sie werden sich zu verteidigen wissen, ohne uns dabei zu vernichten. Außerdem sind die Polarartefakte nicht zwangsläufig die Vorrichtung, die den Spin ermöglicht. Sie könnten auch Beobachtungsplattformen sein, Kommunikationsapparate oder vielleicht sogar Lockvögel.«

»Wenn die Chinesen nun doch losschlagen, wie viel Vorwarnungszeit kriegen wir dann?«

»Kommt drauf an, wen du mit ›wir‹ meinst. Die Öffentlichkeit wird vermutlich nichts erfahren, nicht, bevor es vorbei ist.«

Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Jason nicht einfach nur der Lehrling seines Vaters war, sondern bereits begonnen hatte, sich seine eigenen Verbindungen nach ganz oben zu schaffen. Später sollte ich viel mehr über die Perihelion-Stiftung und die Arbeit, die Jason dort machte, erfahren, vorerst aber gehörte dies alles für mich zu Jasons Schattenleben. Schon als Kind hatte er bereits ein solches Leben geführt: außerhalb des Großen Hauses war er das Mathe-Wunderkind gewesen, das die private Eliteschule so spielend leicht absolvierte wie ein Masters-Titelträger die Hindernisse eines Minigolfplatzes; zu Hause aber war er einfach Jase, und wir hatten sehr darauf geachtet, dass es so blieb.

Und es war immer noch so. Aber er warf nun einen größeren Schatten. Er verbrachte seine Tage nicht mehr damit, die Lehrer an der Rice Academy zu beeindrucken. Jetzt war er damit beschäftigt, sich in eine Position zu bringen, von der aus er Einfluss auf den Verlauf der menschlichen Geschichte nehmen konnte.

Er fügte hinzu: »Falls es passiert, dann werde ich vorgewarnt, ja. Wir werden vorgewarnt. Aber ich möchte nicht, dass Diane sich darüber Sorgen macht. Oder Simon.«

»Na toll. Dann denk ich einfach eine Weile nicht mehr daran. Ist ja nur das Ende der Welt.«

»Es ist nichts dergleichen. Bisher ist nichts passiert. Beruhige dich, Tyler. Gieß etwas zu trinken ein, wenn du dich unbedingt beschäftigen musst.«

So gelassen er sich auch gab, seine Hand zitterte doch ein bisschen, als er vier Whiskygläser aus dem Küchenschrank holte.

Ich hätte einfach abhauen können. Ich hätte aus der Tür gehen, in meinen Hyundai steigen und eine hübsche Strecke hinter mich gelegt haben können, bevor ich auch nur vermisst worden wäre. Ich stellte mir Diane und Simon vor, wie sie im Wohnzimmer ihr Hippie-Christentum praktizierten, und Jason, wie er in der Küche Weltuntergangsbulletins auf seinem Handy entgegennahm… Wollte ich wirklich meine letzte Nacht auf Erden mit diesen Leuten verbringen?

Aber mit wem denn sonst? Ganz im Ernst: Wer sonst?


»Wir haben uns in Atlanta kennen gelernt«, sagte Diane. »An der Georgia State University gab es ein Seminar über Alternative Spiritualität. Simon war da, um sich C. R. Ratels Vortrag anzuhören. Ich hab ihn dann in der Mensa gefunden. Er saß ganz für sich an einem Tisch und las in ›Wiederkunft Christi‹, und ich war auch allein, also hab ich mein Tablett ihm gegenüber gestellt und wir sind ins Gespräch gekommen.«

Diane und Simon saßen nebeneinander am Fenster, auf einem plüschig gelben, nach Staub riechenden Sofa. Diane lehnte bequem an der Seite, Simon saß aufrecht, wie sprungbereit. Sein Lächeln machte mir langsam Angst. Es ging einfach nie weg.

Wir hielten uns an unseren Getränken fest, während sich die Vorhänge im Luftzug bauschten und eine Bremse am Fliegengitter summte. Es war schwer, eine Unterhaltung zu führen, wenn es so viele Themen gab, die man nicht berühren durfte. Ich machte einen Versuch, Simons Lächeln zu kopieren. »Du bist also Student?«

»War ich«, korrigierte er.

»Und was hast du zuletzt so gemacht?«

»Bin gereist. Hauptsächlich.«

»Simon kann es sich leisten zu reisen«, sagte Jason. »Er hat geerbt.«

»Halt dich zurück.« Die Schärfe in Dianes Stimme zeigte an, dass es eine ernsthafte Warnung war. »Dieses eine Mal, Jason, ja?«

Aber Simon zuckte nur mit den Achseln. »Lass nur, es stimmt ja. Ich habe ein bisschen Geld auf die Seite gelegt. Diane und ich nutzen diese Möglichkeit, um uns das Land anzusehen.«

»Simons Großvater«, erklärte Jason, »war Augustus Townsend, der Pfeifenreinigerkönig von Georgia.«

Diane verdrehte die Augen. Simon, weiterhin die Ruhe selbst — er wirkte immer mehr wie eine Art Heiliger —, sagte: »Das ist lange her. Inzwischen sollen wir sie eigentlich gar nicht mehr Pfeifenreiniger nennen. Es sind ›Chenillestiele‹.« Er lachte. »Und hier sitze ich, Erbe eines Chenillestielvermögens.« Eigentlich sei es ein Geschenkartikelvermögen, erläuterte Diane später. Augustus Townsend hatte zwar mit Pfeifenreinigern angefangen, das große Geld aber damit verdient, dass er Pressblechspielzeug, Armbänder und Plastikkämme an Billigläden im ganzen Süden geliefert hatte. In den 1940er Jahren hatte die Familie in den gesellschaftlichen Kreisen von Atlanta eine prominente Rolle gespielt.

Jason ließ nicht locker: »Simon selbst hat dagegen keine berufliche Laufbahn eingeschlagen. Er ist ein freier Geist.«

»Ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns ein wirklich freier Geist ist«, erwiderte Simon, »aber es ist richtig, ich strebe keine Karriere an. Vermutlich klingt das ein bisschen faul, wenn ich das sage. Nun, ich bin faul. Das ist mein hartnäckigstes Laster. Doch ich frage mich, welchen Nutzen egal welcher Beruf auf lange Sicht haben soll. Angesichts der Umstände. Nichts für ungut.« Er wandte sich mir zu. »Du machst Medizin, Tyler?«

Ich nickte. »Grad mit dem Studium fertig. Was die berufliche Laufbahn angeht…«

»Nein, ich finde das großartig. Wahrscheinlich die wertvollste Beschäftigung auf dem Planeten.«

Jason hatte Simon vorgeworfen, zu nichts nütze zu sein. Simon hatte geantwortet, dass berufliche Tätigkeit im Allgemeinen zu nichts nütze sei — ausgenommen eine Tätigkeit wie die meine. Stoß und Gegenstoß. Es war, als würde man eine in Ballettschuhen ausgetragene Kneipenschlägerei beobachten.

Dennoch verspürte ich überraschend den Wunsch, für Jase um Verständnis zu bitten. Es war weniger Simons Weltanschauung, die ihm ein Ärgernis war, als vielmehr dessen bloße Anwesenheit. Diese Woche in den Berkshires war als Wiedersehen gedacht gewesen, für Jason und Diane und mich, eine Rückkehr in die Behaglichkeit unserer Kindheit. Stattdessen mussten wir es uns gefallen lassen, auf engem Raum mit Simon eingesperrt zu sein, den Jason offensichtlich als Eindringling sah, als eine Art Yoko Ono mit Südstaatenakzent.

Ich fragte Diane, wie lange sie schon unterwegs seien.

»Ungefähr eine Woche«, erwiderte sie, »aber wir werden den Großteil des Sommers auf Reisen sein. Jason hat dir sicherlich von New Kingdom erzählt. Nun, in Wirklichkeit ist es ziemlich wunderbar, Ty. Wir haben Internetfreunde im ganzen Land. Leute, bei denen wir ein, zwei Tage pennen können. Wir werden also zu Konklaven und Konzerten fahren, von Maine bis Oregon, von Juli bis Oktober.«

Jason sagte: »Da dürftet ihr ja eine Menge Kosten für Unterkunft und Kleidung sparen.«

»Nicht jede Konklave ist eine Ekstasis«, gab Diane zurück.

»Wir werden allerdings überhaupt nicht viel zum Reisen kommen«, sagte Simon, »wenn uns dieses alte Auto, das wir da haben, zusammenbricht. Der Motor hat Fehlzündungen und der Benzinverbrauch ist katastrophal. Leider verstehe ich nicht viel von Autos. Kennst du dich mit Motoren aus, Tyler?«

»Ein bisschen.« Ich begriff, dass das eine Einladung war, mit Simon nach draußen zu gehen, damit Diane einen Waffenstillstand mit ihrem Bruder aushandeln konnte. »Wir können uns das ja mal ansehen.«

Der Tag war immer noch klar, warme Luft kam vom smaragdgrünen Rasen jenseits der Auffahrt heraufgeweht. Ich hörte, wie ich zugeben muss, mit geteilter Aufmerksamkeit zu, als Simon die Motorhaube seines alten Fords öffnete und die Probleme aufzählte, die er mit dem Auto hatte. Wenn er so wohlhabend war, wie Jason angedeutet hatte, warum kaufte er sich dann keinen besseren Wagen? Aber womöglich war das Erbe ja schon halb aufgebraucht, oder es war fest angelegt in Treuhandfonds.

»Ich schätze, ich mache hier einen ziemlich dämlichen Eindruck«, sagte Simon. »Vor allem in der Gesellschaft, in der ich mich befinde. Was Wissenschaft oder Technik angeht, war ich schon immer ein bisschen unterbelichtet.«

»Ich bin auch kein Experte. Selbst wenn wir diesen Motor dazu bringen, reibungsloser zu laufen, solltest du ihn mal in einer richtigen Werkstatt untersuchen lassen, bevor du größere Strecken in Angriff nimmst.«

»Danke, Tyler.« Er sah mit kulleräugiger Faszination zu, wie ich den Motor inspizierte. »Den Rat werde ich beherzigen.«

Als Verursacher des Übels schienen mir am ehesten die Zündkerzen in Frage zu kommen. Der Wagen hatte etwa hunderttausend Kilometer auf dem Buckel. Ich benutzte das Werkzeugset aus meinem eigenen Auto, um eine der Kerzen herauszuziehen, und zeigte sie ihm. »Das hier ist der größte Teil deines Problems.«

»Das Ding da?«

»Und seine Freunde. Die gute Nachricht ist, die Ersatzteile sind nicht teuer. Die schlechte Nachricht ist, es wäre besser, wenn du das Auto nicht mehr fährst, bis wir die neuen Teile eingesetzt haben.«

»Hmm.«

»Wir können mit meinem Wagen in die Stadt fahren und Ersatzteile holen, falls du bereit bist, bis morgen Früh zu warten.«

»Ja, sicher. Das ist sehr freundlich. Wir hatten auch nicht die Absicht, sofort wieder wegzufahren. Es sei denn, Jason besteht darauf.«

»Jason wird sich beruhigen. Er ist nur…«

»Du brauchst nichts zu erklären. Er hätte es lieber, wenn ich nicht hier wäre. Das verstehe ich, es schockiert oder überrascht mich nicht. Diane fand nur, dass sie keine Einladung annehmen könne, die mich ausdrücklich nicht einschließt.«

»Tja… gut für sie.« Vermutlich.

»Aber ich könnte mir genauso gut irgendwo in der Stadt ein Zimmer nehmen.«

»Dazu besteht keine Veranlassung«, sagte ich und fragte mich im gleichen Atemzug, wie es um Gottes willen dazu hatte kommen können, dass dieser Simon Townsend ausgerechnet von mir zum Bleiben gedrängt wurde. Ich weiß nicht, was genau ich mir von einem Wiedersehen mit Diane versprochen hatte, jedenfalls hatte Simons Anwesenheit mögliche verschwiegene Hoffnungen gleich wieder zunichte gemacht. Gut so, vermutlich.

»Ich nehme an«, sagte Simon, »Jason hat mir dir über New Kingdom gesprochen. Das ist ein Streitpunkt zwischen uns.«

»Er hat mir erzählt, dass ihr damit zu tun habt.«

»Ich will hier keine Werbung machen, aber falls dir irgendetwas an der Bewegung Sorgen bereitet, kann ich sie dir vielleicht nehmen.«

»Alles, was ich über NK weiß, ist das, was ich im Fernsehen sehe, Simon.«

»Einige Leute bezeichnen es als christlichen Hedonismus. Ich ziehe den Namen New Kingdom vor. Das bringt es im Grunde auf den Punkt. Den Chiliasmus wachsen lassen, indem man ihn lebt, hier und jetzt. Das Dasein der letzten Generation so idyllisch sein lassen wie das der allerersten.«

»Aha. Tja, Jason hat wenig Nachsicht mit Religion.«

»Ja, das ist richtig, aber weißt du was, Tyler? Ich glaube, es ist gar nicht die Religion, die ihn so aufregt.«

»Nicht?«

»Nein. Ich bewundere Jason Lawton, und das nicht nur, weil er so klug ist. Er ist einer der Eingeweihten, wenn du mir die Vokabel gestattest. Er nimmt den Spin ernst. Es gibt, na, acht Milliarden Menschen auf der Erde? Und so ziemlich jeder davon weiß, dass die Sterne und der Mond vom Himmel verschwunden sind. Und doch verschließen sie sich dieser Realität. Nur wenige von uns glauben wirklich an den Spin. NK nimmt ihn ernst. Und Jason tut es auch.«

Das entsprach auf fast schockierende Weise dem, was Jason gesagt hatte. »Nun, allerdings nicht im gleichen… Stil.«

»Das ist der springende Punkt. Zwei Visionen, die um öffentliche Zustimmung wetteifern. Über kurz oder lang werden die Menschen sich der Realität stellen müssen, ob sie wollen oder nicht. Und sie werden sich entscheiden müssen zwischen einem wissenschaftlichen Verständnis und einem spirituellen. Das macht Jason Sorge. Denn wenn es um die Frage von Leben und Tod geht, dann obsiegt immer der Glaube. Wo würdest du die Ewigkeit lieber verbringen? In einem irdischen Paradies oder einem sterilen Labor?«

Die Antwort schien mir nicht so klar auf der Hand zu liegen, wie Simon offenbar meinte. Ich musste an Mark Twains Antwort auf eine ähnliche Frage denken: Im Himmel, des Klimas wegen, in der Hölle, der Gesellschaft wegen.


Im Innern des Hauses fand eine unüberhörbare Diskussion statt — abwechselnd Dianes schimpfende Stimme und die mürrischen, monoton vorgetragenen Antworten ihres Bruders. Simon und ich holten uns zwei Klappstühle aus der Garage, setzten uns in den Schatten des Carports und warteten darauf, dass die Zwillinge fertig würden. Wir unterhielten uns über das Wetter. Das Wetter war sehr schön. In diesem Punkt bestand Konsens zwischen uns.

Der Lärm im Haus ebbte schließlich ab, und nach einer Weile trat ein etwas ernüchtert wirkender Jason nach draußen und lud uns ein, ihm mit dem Grill zu helfen. Wir folgten ihm nach hinten und setzten unsere Unterhaltung fort, während der Grill heiß wurde. Auch Diane kam jetzt nach draußen, mit gerötetem Gesicht, aber sichtlich triumphierend. So hatte sie schon früher immer ausgesehen, wenn sie aus einem Streit mit Jason siegreich hervorgegangen war: ein bisschen überheblich, ein bisschen überrascht.

Dann setzten wir uns an den Tisch auf der Terrasse. Es gab Huhn, Eistee und die Überreste des Dreibohnensalats. »Habt ihr etwas dagegen, wenn ich ein Gebet spreche?«, fragte Simon.

Jason verdrehte die Augen, nickte aber tolerant.

Simon senkte feierlich den Kopf. Ich machte mich auf eine Predigt gefasst, aber alles, was er sagte, war: »Gib uns den Mut, die Fülle anzunehmen, die du uns an diesem und jedem anderen Tag vorsetzt. Amen.«

Ein Gebet, das nicht Dankbarkeit ausdrückte, sondern den Wunsch nach Mut. Sehr zeitgenössisch. Diane lächelte mir über den Tisch hinweg zu. Dann drückte sie Simons Arm und wir machten uns über das Essen her.


Es war noch recht früh, als wir fertig waren, die Sonne verweilte im Westen, die Mücken bereiteten sich erst noch auf ihre abendliche Aktivität vor. Der Wind hatte sich gelegt, in der abkühlenden Luft lag etwas zart Gedämpftes.

Anderswo allerdings überschlugen sich die Ereignisse.

Was wir nicht wussten — was selbst Jason, trotz all seiner tollen Beziehungen, noch nicht wusste —, war, dass zwischen dem ersten Bissen Hühnerfleisch und dem letzten Löffel Dreibohnensalat die Chinesen die Verhandlungen abgebrochen und den sofortigen Start eines mit thermonuklearen Sprengköpfen ausgestatteten Gespanns von Dong-Feng-Raketen angeordnet hatten. Die Flugkörper waren ungefähr im selben Moment aufgestiegen, als wir die zweite Runde Heineken aus der Kühltasche gezogen hatten, eisig grüne, raketenförmige Flaschen, von denen das Schwitzwasser tropfte.

Wir räumten den Tisch frei. Ich erwähnte die verschlissenen Zündkerzen und meinen Plan, am nächsten Morgen mit Simon in die Stadt zu fahren. Diane flüsterte ihrem Bruder etwas zu, dann, nach einer gewissen Pause, stieß sie ihn mit dem Ellbogen an. Jason nickte, wandte sich an Simon und sagte: »Gleich hinter Stockbridge gibt es einen von diesen Automobilgroßmärkten, der bis neun geöffnet hat. Wie wär’s, wenn wir da jetzt gleich hinfahren?«

Es war ein Friedensangebot, wie widerwillig auch immer. Simon erholte sich ziemlich schnell von seiner Überraschung und erwiderte: »Ich werde ganz bestimmt keine Fahrt in diesem Ferrari da ausschlagen, falls es das ist, was du mir anbietest.«

»Ich kann dir gern zeigen, was er so alles hergibt.« Beschwichtigt von der Aussicht, mit seinem Auto angeben zu können, ging Jason ins Haus, um seine Schlüssel zu holen. Simon warf uns einen Na-Donnerwetter-Blick zu, dann folgte er ihm. Ich sah Diane an. Sie grinste, stolz auf diesen Triumph der Diplomatie.

Anderswo näherten sich die Dong-Feng-Raketen der Spin-Barriere, passierten sie und flogen auf ihre programmierten Ziele zu. Seltsam die Vorstellung, wie sie über eine plötzlich dunkle, kalte, bewegungslose Erde hinwegschossen, allein ihrer Programmierung folgten, sich auf die gesichtslosen Artefakte ausrichteten, die hunderte von Kilometern über den Polen hingen.

Wie die Aufführung eines Dramas ohne Publikum, zu schnell für das menschliche Auge.


Der Konsens — hinterher — ging dahin, dass die Explosion der chinesischen Sprengköpfe keine Auswirkung auf den ungleichen Zeitfluss gezeitigt hätte. Was dagegen betroffen war (und zwar erheblich), das war der visuelle Filter, der die Erde umgab. Nicht zu reden von der menschlichen Wahrnehmung des Spins.

Wie Jason schon vor Jahren erläutert hatte, bedeutete das temporale Gefälle, dass gewaltige Mengen blauverschobener Strahlung die Oberfläche unseres Planeten überschwemmt hätten, wenn sie nicht von den Hypothetischen gefiltert und kontrolliert worden wäre. Mehr als drei Jahre Sonnenschein auf jede vergehende Sekunde: genug, um alles Leben auf der Erde auszurotten, genug, um den Boden unfruchtbar zu machen und die Meere zum Kochen zu bringen. Die Hypothetischen, die den zeitlichen Einschluss der Erde ins Werk gesetzt hatten, hatten uns auch vor dessen tödlichen Nebenwirkungen geschützt. Mehr noch, sie kontrollierten nicht nur, wie viel Energie zur Erde gelangte, sondern auch, wie viel von der Hitze und dem Licht des Planeten in den Weltraum zurückgestrahlt wurde. Vielleicht war das der Grund dafür, dass das Wetter in den letzten Jahren so angenehm… durchschnittlich gewesen war.

Der Himmel über den Berkshires jedenfalls war so ungetrübt wie Waterford-Kristall, als die chinesischen Sprengköpfe ihr Ziel erreichten, um 19:55 Uhr Ostküstenzeit.


Ich saß mit Diane im Wohnzimmer, als das Telefon klingelte.

Hatten wir vor Jasons Anruf irgendetwas bemerkt? Eine Veränderung des Lichts, so unauffällig wie das Gefühl, eine Wolke hätte sich vor die Sonne geschoben? Nein. Nichts. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf Diane gerichtet. Wir schlürften Mixgetränke und redeten über Lappalien: Bücher, die wir gelesen, Filme, die wir gesehen hatten. Die Unterhaltung war elektrisierend, nicht wegen der Themen, um die es ging, sondern wegen des Tonfalls, wegen dieses bestimmten Rhythmus, in den wir verfielen, sobald wir allein waren, jetzt wie früher. Jedes Gespräch zwischen Freunden oder Liebenden schafft sich seinen eigenen fließenden oder stockenden Rhythmus, verborgenes Sprechen, das wie ein unterirdisches Gewässer selbst unter dem banalsten Wortwechsel mitfließt. Was wir sagten, was wir aussprachen, war platt und konventionell, aber der Subtext war tief und reichlich tückisch.

Schon bald flirteten wir miteinander, als hätten Simon Townsend und die vergangenen acht Jahre keinerlei Bedeutung. Zuerst im Scherz, dann vielleicht nicht mehr im Scherz. Ich sagte ihr, dass sie mir gefehlt habe. Sie sagte: »Es gab Zeiten, wo ich mit dir reden wollte. Unbedingt. Aber ich hatte deine Nummer nicht, oder ich dachte mir, du bist bestimmt zu beschäftigt.«

»Du hättest meine Nummer herausfinden können. Und ich war nicht zu beschäftigt.«

»Du hast Recht. In Wahrheit war es mehr… moralische Feigheit.«

»Bin ich denn so furchteinflößend?«

»Nicht du. Unsere Situation. Ich hatte wohl irgendwie das Gefühl, ich müsste mich bei dir entschuldigen. Und ich wusste nicht, wie ich das anfangen sollte.« Sie lächelte matt. »Ich glaube, ich weiß es immer noch nicht.«

»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Diane.«

»Danke, dass du das sagst, aber ich denke anders darüber. Wir sind keine Kinder mehr. Es ist uns möglich, mit einer gewissen Einsicht zurückzublicken. Wir waren uns so nahe, wie man es, ohne Berührung, nur sein kann. Aber diese Berührung, das war genau das, was uns nicht möglich war. Wir konnten nicht einmal darüber reden. Als hätten wir ein Schweigegelöbnis abgelegt.«

»Seit der Nacht, als die Sterne verschwanden«, sagte ich mit trockenem Mund, entsetzt über mich selbst, erschrocken, erregt.

Diane wedelte mit der Hand. »Diese Nacht — weißt du, was für Erinnerungen ich an diese Nacht habe? Jasons Fernglas. Ich hatte es auf das Große Haus gerichtet, während ihr beiden in den Himmel gestarrt habt. An die Sterne kann ich mich wirklich überhaupt nicht erinnern. Woran ich mich erinnere, ist, dass ich plötzlich Carol in einem der hinteren Zimmer mit jemandem vom Partyservice gesehen habe. Es sah aus, als würde sie sich an ihn ranmachen.« Sie lachte verschämt. »Das war meine eigene kleine Apokalypse. Alles, was ich schon damals an dem Großen Haus hasste, an meiner Familie, das verdichtete sich in dieser einen Nacht. Ich wollte einfach so tun, als würde das alles nicht existieren. Keine Carol, kein E. D., kein Jason…«

»Kein ich?«

Sie rückte auf dem Sofa heran und legte, da es jetzt diese Art von Gespräch geworden war, eine Hand auf meine Wange. Ihre Hand war kühl — die Temperatur des Drinks, den sie gehalten hatte. »Du warst die Ausnahme. Ich hatte Angst. Du warst unglaublich geduldig. Ich habe das sehr geschätzt.«

»Aber wir konnten…«

»Uns nicht berühren.«

»Ja. E. D. hätte es niemals zugelassen.«

Sie zog ihre Hand zurück. »Wir hätten es vor ihm verheimlichen können, wenn wir gewollt hätten. Aber du hast Recht, E. D. war das Problem. Er hat alles kontaminiert. Es war obszön, wie er deine Mutter gezwungen hat, ein Leben zweiter Klasse zu führen. Das war so entwürdigend. Darf ich das beichten? Ich habe es absolut gehasst, seine Tochter zu sein. Am abscheulichsten fand ich die Vorstellung, dass, falls zwischen uns, na ja, irgendwas entstehen würde, es für dich vielleicht nur eine Möglichkeit wäre, dich an E. D. Lawton zu rächen.« Sie ließ sich zurücksinken, offenbar selbst ein bisschen überrascht.

»Natürlich wäre es nicht so gewesen.«

»Ich war verwirrt.«

»Ist es das, was NK für dich ist? Rache an E. D.?«

»Nein.« Sie lächelte. »Ich liebe Simon nicht, weil er meinen Vater wütend macht. So simpel ist das Leben nicht, Ty.«

»Ich wollte damit nicht andeuten…«

»Aber du siehst, wie schwierig das ist? Ein gewisser Verdacht scheint dir naheliegend und setzt sich in deinem Kopf fest. Nein, NK hat nichts mit meinem Vater zu tun. Sondern damit, die Göttlichkeit in dem zu entdecken, was mit der Erde geschehen ist. Und diese Göttlichkeit im täglichen Leben auszudrücken.«

»Vielleicht ist der Spin auch nicht so simpel.«

»Wir werden entweder ermordet oder verwandelt, sagt Simon.«

»Er hat mir erzählt, ihr errichtet den Himmel auf Erden.«

»Ist es nicht das, was den Christen aufgegeben ist? Das Königreich Gottes schaffen, indem sie ihm in ihrem Leben Ausdruck verleihen?«

»Oder jedenfalls dazu tanzen.«

»Jetzt klingst du wie Jason. Klar, ich kann nicht alles an der Bewegung gutheißen. Letzte Woche waren wir auf einem Konklave in Philadelphia und haben dort ein anderes Paar kennen gelernt, in unserem Alter, freundlich, intelligent — lebendig im Geist, nannte Simon sie. Wir sind zusammen essen gegangen und haben über die Parusie gesprochen. Dann haben sie uns in ihr Hotelzimmer eingeladen und plötzlich fingen sie an, Kokslinien auf den Tisch zu streuen und Pornovideos abzuspielen. Es werden auch alle möglichen Randgruppen von NK angezogen, keine Frage. Und für die meisten von ihnen existiert die Theologie kaum, außer als verschwommenes Bild vom Garten Eden. Aber in ihren besten Ausprägungen ist die Bewegung all das, was sie zu sein beansprucht — ein echter, lebendiger Glaube.«

»Glaube woran? Ekstasis? Promiskuität?«

Ich bedauerte meine Worte in dem Moment, als ich sie ausgesprochen hatte. Diane schien verletzt. »Ekstasis bedeutet nicht Promiskuität. Jedenfalls nicht, wenn sie gelingt. Aber im Leib Gottes ist keine Handlung verboten, solange sie nicht der Rachsucht oder der Wut entspringt, solange sie sowohl göttliche als auch menschliche Liebe ausdrückt.«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich muss etwas schuldbewusst dreingeblickt haben. Diane sah mein Gesicht und lachte.

Jasons erste Worte, als ich abnahm: »Ich habe gesagt, es würde eine Vorwarnung geben. Tut mir Leid. Ich hatte Unrecht.«

»Was?«

»Hast du den Himmel nicht gesehen, Tyler?«


Also gingen wir nach oben, um uns ein Fenster zu suchen, von dem aus man den Sonnenuntergang sehen konnte.

Das Schlafzimmer nach Westen war großzügig geschnitten, mit einer Mahagoni-Chiffoniere, einem Bett mit Messinggeländer und großen Fenstern. Ich zog die Vorhänge auf. Diane stockte der Atem.

Da war keine untergehende Sonne. Oder, besser gesagt, da waren gleich mehrere.

Der gesamte westliche Himmel war erleuchtet. Statt einer einzelnen Sonnenkugel war ein rötlich schimmernder Bogen zu sehen, der sich über mindestens fünfzehn Grad des Horizonts erstreckte, und was in ihm enthalten war, das sah aus wie eine flackernde Vielfachbelichtung von einem Dutzend oder mehr Sonnenuntergängen. Das Licht war erratisch, es loderte auf und verblasste wie ein fernes Feuer.

Endlos lange starrten wir hin. Schließlich sagte Diane: »Was ist das, Tyler? Was geschieht da?«

Ich erzählte ihr von den chinesischen Atomsprengköpfen.

»Jason wusste, dass das passieren könnte?«, fragte sie, gab sich dann aber gleich selbst die Antwort. »Natürlich.« Das seltsame Licht verlieh dem Zimmer einen rosenfarbenen Anstrich und legte sich über ihre Wangen wie ein Fieber. »Wird es uns umbringen?«

»Jason glaubt es nicht. Es wird den Leuten allerdings eine Heidenangst einjagen.«

»Aber ist es gefährlich? Strahlung oder irgendwas?«

Ich bezweifelte es. Aber ausschließen konnte man es natürlich nicht. »Probier doch mal das Fernsehen«, sagte ich. In jedem Schlafzimmer gab es einen in die Walnusstäfelung eingelassenen Plasmabildschirm. Ich nahm an, dass jede auch nur annähernd tödliche Strahlung die Übertragung von Funkwellen verhindern würde.

Aber das Fernsehen funktionierte gut genug, um uns Nachrichtenbilder von Menschenmassen zu zeigen, die in den Städten Europas zusammenströmten (wo es bereits dunkel war, jedenfalls so dunkel, wie es in dieser Nacht werden würde). Keine tödliche Strahlung, aber jede Menge Panik. Diane saß regungslos auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet, sichtlich verängstigt. Ich setzte mich neben sie und sagte: »Wenn das wirklich irgendwie tödlich wäre, würden wir jetzt schon nicht mehr leben.«

Draußen stolperte der Sonnenuntergang der Dunkelheit entgegen. Das diffuse Leuchten löste sich in mehrere klar geschiedene Sonnen auf, alle geisterblass, und dann plötzlich in eine Spirale von Sonnenlicht, wie eine strahlende Feder, die sich über den ganzen Himmel bog und ebenso jäh wieder verschwand.

Wir saßen Hüfte an Hüfte, während der Himmel sich verdunkelte.

Dann traten die Sterne hervor.


Es gelang mir, Jason noch einmal zu erreichen, bevor Netze zusammenbrachen. Simon hatte gerade die Zündkerzen für sein Auto bezahlt, erzählte er, als der Himmel explodierte. Die Straßen aus Stockbridge heraus waren bereits verstopft, das Radio berichtete von vereinzelten Plündereien in Boston und zum Erliegen kommendem Verkehr auf allen Hauptstraßen, daher war Jason auf den Parkplatz eines Motels gefahren und hatte für die Nacht ein Zimmer für sich und Simon gemietet. Am nächsten Morgen, sagte er, werde er wahrscheinlich nach Washington müssen, aber vorher werde er Simon noch beim Haus absetzen.

Dann gab er sein Telefon an Simon weiter und ich meins an Diane. Ich verließ das Zimmer, während sie mit ihrem Verlobten sprach. Das Haus schien bedrohlich groß und leer. Ich wanderte herum und machte überall Licht an, bis sie mich rief.

»Noch einen Drink?«, fragte ich.

»O ja.«


Kurz nach Mitternacht gingen wir nach draußen.

Diane ließ sich nichts anmerken. Simon hatte sie mit New-Kingdom-Weisheiten aufgebaut. In der NK-Theologie gab es keine konventionelle Wiederkunft Christi, keine Entrückung, kein Armageddon — der Spin war all dies zusammengenommen, die indirekte Erfüllung der alten Prophezeiungen. Und wenn Gott die Leinwand des Himmels benutzt, um uns die nackte Geometrie der Zeit aufzumalen, so Simon, dann tut er das eben und all unsere Furcht — unsere Ehrfurcht — ist dem Vorgang vollkommen angemessen. Doch sollten wir uns von diesen Gefühlen nicht überwältigen lassen, denn der Spin ist letzten Endes ein Akt der Erlösung, das letzte und beste Kapitel der menschlichen Geschichte.

Oder so etwas in der Art.

Wir gingen also nach draußen, um den Himmel zu beobachten, weil Diane das für eine mutige und spirituelle Handlung hielt. Der Himmel war wolkenlos, und die Luft roch nach Kiefern. Der Highway war weit weg, doch hin und wieder hörten wir leise Autohupen und Sirenen.

Unsere Schatten tanzten um uns herum, je nachdem, welcher Teil des Himmels aufleuchtete, mal im Norden, mal im Süden. Wir saßen auf dem Rasen, einige Meter vom Schein der Verandalampen entfernt, Diane lehnte sich gegen meine Schulter, und ich legte den Arm um sie. Wir waren beide ein bisschen betrunken.

Trotz all der Jahre emotionaler Kälte, trotz unserer Vergangenheit im Großen Haus, trotz ihrer Verlobung mit Simon Townsend, trotz NK und Ekstasis und sogar trotz der atomaren Verunstaltung des Himmels war ich hochempfänglich für das Gefühl, das der Druck ihres Körpers neben mir auslöste. Und das Seltsame war, dass sich alles vollkommen vertraut anfühlte, die Rundung ihres Arms unter meiner Hand, das Gewicht ihres Kopfes an meiner Schulter, ja selbst der Geruch ihrer Furcht: nicht neu entdeckt, sondern erinnert. Sie fühlte sich genauso an, wie sie sich schon immer in meiner Vorstellung angefühlt hatte.

Der Himmel versprühte merkwürdiges Licht. Nicht das reine Licht des Spin-Universums, das uns auf der Stelle getötet hätte. Nein, es war eine Serie von Schnappschüssen des Himmels, aufeinander folgende, zu Mikrosekunden komprimierte Mitternächte, Nachbilder, die wie ein Blitzlicht verblassten; dann derselbe Himmel ein Jahrhundert oder ein Jahrtausend später, wie die Schnittfolge eines surrealen Films. Einige der Einstellungen waren verschwommene Langbelichtungen, Sternen- und Mondlicht als geisterhafte Kugelformen oder Kreise oder Krummschwerter. Andere waren gestochen scharfe, schnell verblassende Standbilder. Nach Norden hin wurden die Linien und Kreise schmaler, die Radien kleiner, während sich die Äquatorsterne ruhelos zeigten und in ihrem Tanz riesige Ellipsen beschrieben. Vollmonde, Halbmonde und abnehmende Monde blinkten in blassoranger Durchsichtigkeit von einem Horizont zum anderen. Die Milchstraße war ein weiß fluoreszierendes Band, mal heller, mal dunkler, entzündet von flackernden, sterbenden Sternen. Mit jedem Hauch der sommerlichen Luft wurden Sterne geschaffen und Sterne zerstört.

Und alles war in Bewegung.

Bewegte sich in gewaltigem Flirren und verschlungenen Tänzen, die immer größere, noch unsichtbare Kreise andeuteten. Der Himmel über uns schlug wie ein Herz.

»So lebendig«, flüsterte Diane.

Es gibt ein Vorurteil, das uns die Beschränktheit unserer Wahrnehmung aufdrängt: Dinge, die sich bewegen, sind lebendig; die es nicht tun, sind tot. Der lebendige Wurm windet sich unter dem toten, statischen Stein. Sterne und Planeten bewegen sich, jedoch nur nach den ewigen Gesetzen der Gravitation: ein Stein mag fallen, aber er ist nicht lebendig, und orbitale Bewegung ist nichts anderes als dieses Fallen, ins Unendliche verlängert.

Wird aber unsere Eintagsfliegenexistenz gedehnt — wie es die Hypothetischen bewirkt hatten —, dann verwischt sich der Unterschied. Sterne werden geboren, leben, sterben und hinterlassen ihre Asche zugunsten neuer Sterne. Die Summe ihrer Bewegungen ist keineswegs simpel, sondern unvorstellbar komplex, ein Tanz der Anziehung und Umlaufgeschwindigkeit, schön, aber furchterregend.

Furchterregend, weil die Sterne, wie ein Erdbeben, in ihrem Todeskampf das verflüssigen, was fest sein soll. Furchterregend, weil unsere tiefsten organischen Geheimnisse, unsere Paarungen, unsere chaotischen Akte der Fortpflanzung, gar keine Geheimnisse sind, wie sich herausstellt: auch die Sterne bluten und liegen in Geburtswehen. Alles fließt, nichts hat Bestand. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich das gelesen hatte.

»Heraklit«, sagte Diane.

Es war mir nicht bewusst, dass ich es laut ausgesprochen hatte.

»All die Jahre«, sagte sie, »damals im Großen Haus, all die vergeudeten Scheißjahre über wusste ich…«

Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. Ich wusste, was sie gewusst hatte.

»Ich will wieder rein«, sagte sie. »Ich will zurück ins Schlafzimmer.«


Wir zogen nicht die Jalousien vor. Die wirbelnden Sterne warfen ihr Licht ins dunkle Zimmer, dessen Muster in unscharfen Bildern über meine und Dianes Haut strichen, so wie Großstadtlichter durch ein regennasses Fenster leuchten: still, geschlängelt. Wir sprachen nicht, denn Worte wären hinderlich gewesen. Worte wären Lügen gewesen. Wir liebten uns wortlos, und erst als es vorbei war, war in mir der Gedanke: Lass dies Bestand haben. Nur dies.

Wir schliefen, als der Himmel sich schließlich verdunkelte, als das Feuerwerk abflaute und verschwand. Der chinesische Angriff erwies sich mehr oder weniger als Geste. Tausende waren infolge der globalen Panik ums Leben gekommen, aber es hatte keine unmittelbaren Todesopfer auf der Erde gegeben — und vermutlich auch nicht unter den Hypothetischen.

Die Sonne ging am nächsten Morgen pünktlich auf.

Das Klingeln des Telefons weckte mich. Ich war allein im Bett. Diane nahm den Anruf in einem anderen Zimmer entgegen und kam dann herein, um mir zu sagen, dass Jase dran gewesen sei; die Straßen wären frei und er sei hierher unterwegs.

Sie war geduscht und angezogen und roch nach Seife und gestärkter Baumwolle. »Und das war’s?«, sagte ich. »Simon kreuzt wieder auf und du fährst weg? Was letzte Nacht war, bedeutet gar nichts?«

Sie setzte sich neben mich aufs Bett. »Was letzte Nacht war, hat nie bedeutet, dass ich nicht mit Simon wegfahren würde.«

»Ich dachte, es hätte mehr bedeutet.«

»Es hat mehr bedeutet, als ich ausdrücken kann. Aber es löscht die Vergangenheit nicht aus. Ich habe Versprechen abgegeben und ich habe einen Glauben, und diese Dinge ziehen gewisse Grenzen in mein Leben.«

Sie klang nicht sehr überzeugt. Ich sagte: »Einen Glauben. Sag mir, dass du nicht an diesen Scheiß glaubst.«

Sie erhob sich stirnrunzelnd. »Vielleicht nicht. Aber vielleicht muss ich mit jemandem Zusammensein, der daran glaubt.«

Ich packte meine Sachen und verstaute den Koffer im Hyundai, noch bevor Jase und Simon angekommen waren. Diane sah mir von der Veranda aus zu.

»Ich ruf dich an«, sagte sie.

»Tu das«, erwiderte ich.

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