Nördlich von Überall und Nirgends

Eine halbe Stunde vor der Querung des Bogens, eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit, trafen wir im Speiseraum der Mannschaft auf En. Einer der Matrosen hatte ihm, um ihn zu beschäftigen, einen Bogen Papier und ein paar Stifte gegeben.

Er schien erleichtert, uns zu sehen. Er sei ein bisschen besorgt wegen der Überfahrt, sagte er. Er rückte seine Brille zurecht — leicht zusammenzuckend, als sein Daumen die wunde Stelle berührte, die Jalas Schlag auf seiner Wange hinterlassen hatte — und fragte mich, wie das vor sich gehen würde.

»Ich weiß es nicht. Ich habe die Fahrt noch nie gemacht.«

»Werden wir es merken, wenn es soweit ist?«

»Von der Crew habe ich gehört, dass der Himmel dann ein bisschen seltsam wird. Und in dem Moment, wo die Querung stattfindet, wenn wir uns genau zwischen der alten und der neuen Welt befinden, springt die Kompassnadel um, von Nord auf Süd. Und auf der Brücke lassen sie die Schiffshupe ertönen. Du wirst es nicht verpassen.«

»Eine weite Reise. In kurzer Zeit.«

Wie wahr. Der Bogen — jedenfalls unsere »Seite« — war, bevor er sich aus dem Orbit herabgesenkt hatte, quer durch den interstellaren Raum herbeigeschafft worden, vermutlich in einer Geschwindigkeit, die unter der des Lichts lag. Doch die Hypothetischen hatten Äonen von Spinzeit zur Verfügung gehabt, um den Transport über die Bühne zu bringen. Womöglich hätten sie jede Entfernung bis zu drei Milliarden Lichtjahren überbrücken können, und schon ein winziger Bruchteil dessen befand sich jenseits von allem, was unsere Sinne erfassen konnten.

»Da fragt man sich doch«, sagte Diane, »warum sie sich die ganze Mühe gemacht haben.«

»Nun, Jason zufolge…«

»Ich weiß. Die Hypothetischen wollen uns vor dem Aussterben bewahren, damit wir uns zu etwas Komplexerem entwickeln können. Aber warum wollen sie das? Was erwarten sie von uns?«

En ignorierte unseren theoretischen Exkurs. »Und wenn wir dann übergesetzt haben…«

»Dann«, sagte ich, »ist es noch eine Tagesreise bis Port Magellan.«

Diese Auskunft zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Ich wechselte einen Blick mit Diane. Sie hatte sich En vor zwei Tagen vorgestellt, und inzwischen waren die beiden bereits befreundet. Sie hatte ihm aus einem in der Schiffsbibliothek gefundenen Buch mit englischen Kindergeschichten vorgelesen. Und sie hatte Housman für ihn zitiert: Das Kind hat gar nicht wahrgenommen… »Das gefällt mir nicht«, hatte En gesagt.

Er zeigte uns seine Zeichnung: Bilder von Tieren, die er in Videofilmen aus der Ebene von Äquatoria gesehen haben musste, langhalsige Geschöpfe mit nachdenklichen Augen und tigergestreiftem Fell.

»Sie sind wunderschön«, sagte Diane.

En nickte feierlich. Wir überließen ihn seiner Arbeit und gingen wieder aufs Deck.


Der Nachthimmel war klar, und der Scheitel des Bogens jetzt genau über uns. Ein letztes Schimmern des Lichts reflektierend, wies er aus diesem Blickwinkel nicht die geringste Krümmung auf, sondern stellte eine reine euklidische Gerade dar, eine elementare Zahl [1] oder einen Buchstaben [I].

Wir standen an der Reling, so nahe zum Bug des Schiffes hin, wie es uns möglich war. Der Wind zerrte an unserer Kleidung, unseren Haaren. Die Schiffsflaggen knatterten, das Meer warf zerklüftete Spiegelbilder der Positionslampen zurück.

»Hast du sie?«, fragte Diane.

Sie meinte die winzige Phiole, die einen Teil von Jasons Asche enthielt. Wir hatten diese Zeremonie — wenn man es denn so nennen konnte — geplant, lange bevor wir Montreal verlassen hatten. Jason hatte sich nie viel aus Gedenkaktionen gemacht, aber ich glaube, diese hätte er gutgeheißen. »Hier.« Ich zog das Keramikröhrchen aus meiner Tasche.

»Er fehlt mir. Er fehlt mir immerzu.« Sie schmiegte sich an meine Schulter, und ich legte meinen Arm um sie. »Ich wünschte, ich hätte ihn als Vierten erlebt. Doch ich glaube nicht, dass es ihn sehr verändert hat.«

»Nein, gar nicht.«

»In gewisser Weise war Jason immer ein Vierter.«

Als wir uns dem Augenblick der Überfahrt näherten, schienen die Sterne zu verblassen, als würde etwas Gazeartiges das Schiff umhüllen. Ich öffnete das Röhrchen mit Jasons Asche. Diane legte ihre Hand auf meine.

Plötzlich drehte der Wind, und die Temperatur fiel um ein oder zwei Grad.

»Manchmal«, sagte sie, »wenn ich an die Hypothetischen denke, dann bekomme ich plötzlich Angst.«

»Wovor?«

»Dass wir ihr rotes Kalb sind. Oder das, was sich Jason von den Marsianern erhoffte. Dass sie von uns erwarten, wir würden sie vor irgendetwas retten. Etwas, vor dem sie Angst haben.«

Vielleicht war es so. Andererseits, dachte ich, werden wir das tun, was das Leben immer tut — alle Erwartungen enttäuschen.

Ich fühlte ein Zittern durch ihren Körper laufen. Über uns wurde die Bogengerade langsam blasser. Dunst legte sich über das Meer. Nur dass es kein Dunst im gewöhnlichen Sinne war — es hatte nichts mit Wetter zu tun.

Das letzte Schimmern des Bogens verschwand, ebenso der Horizont. Auf der Brücke der Capetown Maru musste der Kompass mit seiner Rotation begonnen haben. Der Kapitän ließ das Schiffshorn ertönen, ein brutaler Lärm, das Kreischen des empörten Raumes. Ich sah nach oben. Die Sterne wirbelten schwindelerregend umher.

»Jetzt«, rief Diane in den Lärm hinein.

Ich beugte mich über die Reling, und gemeinsam, die Hände aufeinander gelegt, drehten wir das Röhrchen um. Die Asche tanzte im Wind, glänzte wie Schnee, als sie von den Schiffslichtern erfasst wurde. Sie entschwand unseren Blicken, noch bevor sie auf das schwarze Wasser traf — aufgenommen, wie ich glauben möchte, von dem leeren Raum, den wir querten, dem zusammengefügten Ort zwischen den Sternen.

Diane lehnte sich gegen meine Brust. Der Klang des Horns pulsierte durch unser beider Körper, bis er schließlich verstummte.

Dann hob sie den Kopf. »Der Himmel«, sagte sie.

Die Sterne waren neu und fremdartig.


Am Morgen kamen wir hinauf aufs Deck, um die Luft der neuen Welt zu riechen und ihre Hitze zu spüren, wir alle miteinander: En, seine Eltern, Ibu Ina, die anderen Passagiere, sogar Jala und eine Reihe von Crewmitgliedern, die gerade keinen Dienst zu versehen hatten.

Es hätte auch die Erde sein können, der Farbe des Himmels und der Wärme der Sonnenstrahlen nach zu urteilen. Die Landspitze von Port Magellan zeichnete sich als gezackte Linie am Horizont ab, ein felsiges Vorgebirge und ein paar blasse Rauchsäulen, die zunächst senkrecht aufstiegen und dann, von höheren Winden erfasst, nach Westen abdrifteten.

Ina stellte sich zu uns an die Reling, En im Schlepptau. »Es sieht so vertraut aus«, sagte sie. »Und fühlt sich doch so anders an.«

Verschlungene Klumpen Grünzeug, dem Festland von Äquatoria durch Stürme oder Flut entrissen, schaukelten in unserem Kielwasser, riesige achtfingrige Blätter, die schlaff auf der Wasseroberfläche trieben. Der Bogen lag jetzt hinter uns, kein Tor nach außen mehr, sondern ein Tor zurück nach innen, eine ganz neue Art von Tor.

Ina sagte: »Es ist, als würde eine Geschichte zu Ende gehen und eine neue beginnen.«

En schüttelte den Kopf. »Nein.« Er lehnte sich in den Wind, als könnte er so die Zukunft ein Stück vorantreiben. »Die Geschichte beginnt erst, wenn wir landen.«

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