Der Morgen und der Abend

Ich kam zu der kleinen Anhöhe, von der aus man die Condon-Ranch überblickte, und parkte so, dass der Wagen vom Haus aus nicht zu sehen war. Als ich die Scheinwerfer ausschaltete, konnte ich am östlichen Himmelsrand das erste Leuchten der aufgehenden Sonne sehen, das die neuen Sterne bereits auszulöschen begann.

Das war der Moment, in dem ich zu zittern begann.

Ich kam nicht dagegen an. Ich machte die Tür auf und fiel aus dem Auto, rappelte mich wieder hoch. Die Landschaft schälte sich aus der Dunkelheit wie ein verlorener Kontinent: braune Hügel, vernachlässigtes Weideland, das sich in Wüste zurückverwandelt hatte, der lange flache Abhang, der zum Farmhaus führte. Mesquit- und Kerzensträucher zitterten im Wind. Ich zitterte ebenfalls. Es war Furcht — nicht das etwas verkniffene Unbehagen, mit dem wir alle seit Beginn des Spins lebten, sondern eine Panik, die von den Eingeweiden ausging, sich wie eine Erkrankung der Muskeln und des Darmtrakts anfühlte. Tag der Vollstreckung für den zum Tode Verurteilten. Schinderkarren und Galgen nahten von Osten her.

Ich fragte mich, ob Diane eine ähnliche Angst ergriffen hatte. Und ob ich sie würde trösten können. Ob ich selbst noch etwas aufzubieten hatte, das zum Trost taugte.

Wieder erhob sich Wind, fegte Sand und Staub vom trockenen Grat. Vielleicht war dieser Wind ja der Vorbote der aufgedunsenen Sonne, ein Wind, der von der heißen Seite der Welt kam.

Ich hockte mich irgendwo hin, wo ich nicht gesehen zu werden hoffte, und schaffte es, immer noch zitternd, die Nummer, die Simon mir genannt hatte, in mein Handy zu tippen.

Er nahm nach zwei, drei Klingelzeichen ab. Ich presste das Handy an mein Ohr, um die Windgeräusche zu reduzieren.

»Du solltest das wirklich nicht tun«, sagte er.

»Störe ich die Entrückung?«

»Ich kann nicht reden.«

»Wo ist sie, Simon? Welcher Teil des Hauses?«

»Wo bist du?«

»Gleich hinter dem Hügel.« Der Himmel war jetzt heller, wurde mit jeder Sekunde heller, am westlichen Horizont zeigte er sich schon als angestoßenes Purpurrot. Ich konnte das Farmhaus deutlich sehen. Es hatte sich nicht sehr verändert in den Jahren seit meinem Besuch, nur die Scheune wirkte aufpoliert, war möglicherweise repariert und getüncht worden.

Weitaus beunruhigender fand ich allerdings die Grube, die parallel zur Scheune verlief und von locker aufgehäufter Erde bedeckt war. Eine kürzlich angelegte Abwasserleitung vielleicht. Oder ein Klärbehälter. Oder ein Massengrab.

»Ich gehe jetzt zu ihr«, sagte ich.

»Das ist unmöglich.«

»Ich nehme an, dass sie im Haus ist. Eines der Zimmer im ersten Stock. Richtig?«

»Selbst wenn du sie zu sehen kriegst…«

»Sag ihr, dass ich komme, Simon.«

Unten sah ich jetzt eine Gestalt, die sich zwischen dem Haus und der Scheune bewegte. Simon war es nicht. Auch nicht Aaron Sorley, es sei denn, Bruder Aaron hatte in der Zwischenzeit fünfzig Kilo abgenommen. Vermutlich Pastor Dan Condon. Er trug in jeder Hand einen Eimer Wasser. Er schien in Eile zu sein. Irgendetwas ging in der Scheune vor.

»Du riskierst dein Leben«, sagte Simon.

Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Dann sagte ich: »Bist du in der Scheune oder im Haus? Condon ist in der Scheune, stimmt’s? Was ist mit Sorley und McIsaac? Wie komme ich an denen vorbei?«

Ich spürte einen Druck im Nacken, wie von einer warmen Hand. Ich wandte mich um. Es war Sonnenlicht, das den Druck ausübte. Der Rand der Sonne war über den Horizont getreten. Mein Auto, der Zaun, der Fels, die dürren Umrisse der Kerzensträucher, alles warf lange violette Schatten.

»Tyler? Tyler, es gibt keinen Weg vorbei. Du musst…« Doch Simons Stimme ging in einem plötzlichen Rauschen unter. Das Licht der Sonne musste den Aerostaten, der den Anruf übertrug, erreicht und das Signal ausgelöscht haben. Instinktiv drückte ich auf die Wahlwiederholung, aber das Telefon war nicht mehr zu gebrauchen.

Ich kauerte an Ort und Stelle, bis die Sonne zu drei Vierteln aufgegangen war. Die Scheibe war riesig und rötlich orange. Sonnenflecken schwärten auf ihr wie eiternde Wunden. Hin und wieder erhoben sich Staubwolken aus der Wüste ringsum und verdeckten sie vorübergehend.

Dann erhob ich mich. Vielleicht schon tot. Vielleicht tödlich verstrahlt. Die Hitze war zu ertragen, bislang jedenfalls, doch auf zellulärer Ebene mochten üble Dinge vorgehen, vielleicht schossen Röntgenstrahlen durch die Luft wie unsichtbare Gewehrkugeln. Also stand ich auf und spazierte in aller Offenheit, unbewaffnet, über den ausgetretenen Weg auf das Farmhaus zu. Unbewaffnet und unbehelligt, jedenfalls bis ich die Holzveranda erreicht hatte und Bruder Sorley mitsamt seinen hundertdreißig Kilo durch die Fliegentür gestürmt kam und mir mit dem Kolben eines Gewehres seitlich gegen den Kopf schlug.


Bruder Sorley tötete mich nicht, womöglich, weil er nicht mit blutbefleckten Händen zur Entrückung antreten wollte. Stattdessen warf er mich in eines der Zimmer im Obergeschoss und schloss die Tür ab.

Einige Stunden vergingen, bis ich mich aufsetzen konnte, ohne dass mir übel wurde. Als das Schwindelgefühl endlich nachließ, schlurfte ich zum Fenster und ließ die gelbe Papierjalousie hoch. Von hier aus gesehen, stand die Sonne hinter dem Haus, der Hof und die Scheune waren in ein gleißendes Orange getaucht. Die Luft war brutal heiß, aber es brannte nirgendwo. Eine Katze, sichtlich desinteressiert an der Feuersbrunst am Himmel, schlappte stehendes Wasser aus einem schattigen Graben. Vermutlich würde die Katze den Sonnenuntergang noch erleben. Genau wie ich.

Ich versuchte das Fenster hochzuschieben — nicht, dass ich unbedingt von hier hätte nach unten springen können —, doch die Schieber waren abmontiert, die Gegengewichte unbeweglich gemacht worden, der ganze Rahmen schon vor Jahren gewissermaßen festlackiert.

Außer dem Bett befanden sich keine Möbel im Zimmer. Und keine Werkzeuge, nur das nutzlose Handy in meiner Tasche. Die Zimmertür war aus schwerem, solidem Holz, und ich bezweifelte, dass ich die Kraft hatte, sie aufzusprengen. Diane war vielleicht nur wenige Meter entfernt, womöglich trennte uns nur eine einzige Wand. Aber ob es wirklich so war, wusste ich nicht, und es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden.

Schon der bloße Versuch, zusammenhängende Gedanken zu fassen, rief einen tiefen, Übelkeit erregenden Schmerz an der Stelle hervor, wo der Gewehrkolben mir den Kopf aufgeschlagen hatte. Ich musste mich wieder hinlegen.


Am Nachmittag legte sich der Wind. Als ich wieder zum Fenster schwankte, konnte ich den Rand der Sonnenscheibe über dem Haus und der Scheune sehen, so groß, dass man den Eindruck hatte, sie würde beständig fallen, und so nah, dass man gerade nach ihr greifen konnte.

Die Temperatur in dem Zimmer war seit dem Morgen stetig gestiegen. Ich hatte keine Mittel, sie zu messen, aber sie musste bei 40°C liegen, mit weiterer Tendenz nach oben. Heiß, doch keine tödliche Hitze, wenigstens nicht unmittelbar tödlich. Gern hätte ich jetzt Jason bei mir gehabt, um mir das erklären zu lassen: die Thermodynamik der globalen Auslöschung. Er hätte mir ein Diagramm aufmalen und zeigen können, wo die Temperaturkurve mit der Letalitätslinie konvergierte.

Hitzeflimmern stieg von der gebackenen Erde auf. Dan Condon lief noch mehrere Male zwischen Haus und Scheune hin und her. In der scharfen Intensität des orangefarbenen Tageslichts war er leicht zu erkennen, er hatte etwas von neunzehntem Jahrhundert an sich mit seinem quadratischen Bart und dem hässlichen, pockennarbigen Gesicht: Lincoln in Jeans, langbeinig, zielstrebig. Er blickte nicht auf, nicht einmal, als ich gegen das Fenster klopfte.

Dann trommelte ich gegen die Zimmerwände, dachte, dass Diane das vielleicht hören würde. Doch ich erhielt keine Reaktion.

Dann wurde mir wieder schwindlig und ich fiel aufs Bett zurück. Die Luft im Zimmer war schwül, mein Schweiß tränkte die Bettwäsche.

Ich schlief oder verlor das Bewusstsein.


Als ich wieder aufwachte, dachte ich für einen Moment, im Zimmer sei Feuer ausgebrochen — doch es war nur die stehende Hitze in Verbindung mit einem maßlos kitschigen Sonnenuntergang.

Ich ging zum Fenster. Die Sonne war über den westlichen Horizont gezogen und sank so rasch, dass man es mitverfolgen konnte. Spärliche Wolken standen hoch am sich verdunkelnden Himmel, Fetzen von Feuchtigkeit, einem bereits ausgedörrten Land entzogen. Ich sah, dass jemand mein Auto den Hügel hinabgerollt und auf der linken Seite der Scheune abgestellt hatte. Und zweifellos die Schlüssel an sich genommen hatte. Nicht, dass noch ausreichende Mengen Benzin im Tank gewesen wären oder man sonst mit dem Auto noch groß etwas hätte anfangen können.

Aber ich hatte den Tag überlebt. Wir hatten den Tag überlebt. Wir beide. Diane und ich. Und Millionen andere. Wir hatten es hier also mit der langsamen Version der Apokalypse zu tun: Sie würde uns töten, indem sie uns schonend kochte, Grad für Grad. Oder, sollte das nicht klappen, indem sie das Ökosystem der Erde ausbrannte.

Endlich verschwand die Sonne. Die Luft schien augenblicklich um zehn Grad abzukühlen. Vereinzelte Sterne lugten durch die Gazewolken.

Ich hatte lange nichts gegessen, geschweige denn getrunken. Vielleicht war es ja Condons Absicht, mich an Dehydration verrecken zu lassen. Vielleicht hatte er mich aber auch einfach vergessen. Ich hatte nicht den Hauch einer Vorstellung davon, wie Pastor Dan sich diese Ereignisse geistig zurechtlegte, ob er sich bestätigt fühlte oder schreckliche Angst hatte — oder eine Mischung aus beidem.

Das Zimmer wurde dunkel. Kein Deckenlicht, keine Lampe. Aber ich konnte ein leises Tuckern hören, wahrscheinlich ein mit Benzin betriebener Generator, und es drang Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss und aus der Scheune.

Während ich an technischen Hilfsmitteln nichts besaß als mein Handy. Ich zog es aus der Tasche und schaltete es ein, ohne bestimmte Absicht, einfach nur, um das Phosphoreszieren des Displays zu sehen.

Dann kam mir ein anderer Gedanke.


»Simon?«

Stille.

»Simon, bist du das? Kannst du mich hören?«

Stille. Dann eine blecherne, digitalisierte Stimme: »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt. Ich dachte, dieses Ding würde nicht mehr funktionieren.«

»Nur bei Tageslicht nicht.«

Sonnenrauschen hatte jegliches Signal der in großer Höhe schwebenden Aerostaten geschluckt. Nun aber schirmte die Erde uns vor der Sonne ab. Vielleicht hatten die Aerostaten Schäden davongetragen — die Verbindung klang nach Niedrigfrequenz und war von Rauschen durchsetzt —, doch es reichte, um sich zu verständigen.

»Tut mir Leid, was da passiert ist«, sagte Simon. »Aber ich hatte dich ja gewarnt.«

»Wo bist du? In der Scheune oder im Haus?«

Pause. »Im Haus.«

»Ich hab den ganzen Tag hinuntergesehen, aber ich habe weder Condons Frau noch Sorleys Frau oder die Kinder entdeckt. Oder die McIsaacs. Was ist mit ihnen passiert?«

»Sie sind weggefahren.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ob ich mir sicher bin? Ja, natürlich. Diane war nicht die Einzige, die krank geworden ist. Tatsächlich war sie die Letzte. Teddy McIsaacs kleine Tochter ist als Erste krank geworden. Dann sein Sohn. Dann Teddy selbst. Als es schließlich so aussah, als wären die Kinder, na ja, also richtig ernsthaft krank, ohne dass es besser wurde, da hat er sie in seinen Pick-up gesetzt und ist weggefahren. Pastor Dans Frau ist mitgekommen.«

»Wann war das?«

»Vor ein paar Monaten. Aarons Frau und die Kinder sind kurz darauf auf eigene Faust weggegangen. Ihr Glaube hatte sie verlassen. Außerdem hatten sie Angst, sich anzustecken.«

»Du hast sie weggehen sehen? Ganz sicher?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Die Erde neben der Scheune sieht ganz so aus, als ob man dort etwas verscharrt hätte.«

»Ach das. Tja, da hast du Recht, dort ist etwas verscharrt — die Rinder.«

»Wie bitte?«

»Ein Mann namens Boswell Geller hatte eine große Ranch oben in der Sierra Bonita. Ein Freund von Jordan Tabernacle vor der Spaltung, ein Freund von Pastor Dan. Er hat rote Färsen gezüchtet, aber letztes Jahr hat das Landwirtschaftsministerium eine Untersuchung angestrengt. Gerade, als er anfing, Fortschritte zu machen. Boswell und Pastor Dan wollten alle roten Rinderarten der Welt miteinander kreuzen. Pastor Dan sagt, dass es das sei, worum es im vierten Buch Mose, Kapitel neunzehn, geht: eine reine rote Färse, die am Ende der Zeit geboren wird, hervorgegangen aus allen Arten auf der ganzen Welt, überall, wo das Evangelium gepredigt wurde. Das Opfer ist ein buchstäbliches wie ein symbolisches. Im biblischen Opfer hat die Asche die Kraft, eine besudelte Person zu reinigen, beim Untergang der Welt aber verzehrt die Sonne die Färse und ihre Asche wird verstreut in alle Himmelsrichtungen, auf dass sie die ganze Welt reinigt, sie vom Tode reinwäscht. Das geschieht jetzt gerade. Brief an die Hebräer, Kapitel neun: ›Denn wenn der Böcke und der Ochsen Blut und die Asche von der Kuh, gesprengt auf die Unreinen, sie heiligt zu der leiblichen Reinigkeit, wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst als ein Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gottes dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott?‹ Und natürlich…«

»Ihr habt diese Rinder hier gehabt?«

»Ja, nur ein paar. Fünfzehn Zuchttiere, die herausgeschmuggelt wurden, bevor das Ministerium sie beschlagnahmen konnte.«

»Und danach sind die Leute dann krank geworden?«

»Nicht nur die Leute, die Rinder auch. Wir haben die Grube neben der Scheune ausgehoben, um sie darin zu vergraben, alle aus dem ursprünglichen Bestand, außer dreien.«

»Schwäche, unsicherer Gang, Gewichtsverlust gingen dem Tod voraus?«

»Ja, so ungefähr — woher weißt du das?«

»Die Symptome von KVES. Die Kühe waren die Überträger. Das ist es, was Diane krank macht.«

Ein langes Schweigen. Dann: »Ich darf dieses Gespräch überhaupt nicht fuhren.«

»Ich bin oben in dem hinteren Zimmer.«

»Ich weiß, wo du bist.«

»Dann komm und schließ die Tür auf.«

»Das kann ich nicht.«

»Warum? Wirst du beobachtet?«

»Ich kann dich nicht einfach befreien. Ich dürfte mich nicht mal mit dir unterhalten. Ich bin beschäftigt, Tyler. Ich mache Diane etwas zu essen.«

»Ist sie noch kräftig genug, um zu essen?«

»Ja… wenn ich ihr helfe.«

»Lass mich raus. Es muss ja niemand wissen.«

»Ich kann nicht.«

»Sie braucht einen Arzt.«

»Ich kann dich nicht rauslassen, selbst wenn ich wollte. Bruder Aaron hat den Schlüssel.«

Ich dachte kurz nach. »Dann lass das Telefon bei ihr, wenn du ihr das Essen bringst — dein Telefon. Du sagtest doch, dass sie mit mir sprechen will, stimmt’s?«

»Sie sagt jetzt oft Sachen, die sie gar nicht meint.«

»Und du glaubst, das war hier auch der Fall?«

»Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Lass ihr das Telefon da, Simon. Simon?«

Totenstille.


Ich ging zum Fenster, wartete. Ich sah Pastor Dan zwei leere Eimer von der Scheune zum Haus tragen und kurz darauf mit gefüllten, dampfenden zurückkehren. Wenige Minuten später ging auch Aaron Sorley zur Scheune.

Womit nur noch Simon und Diane im Haus waren. Vielleicht gab er ihr gerade etwas zu essen. Fütterte sie.

Ich verspürte ein unbändiges Verlangen, das Telefon zu benutzen, aber ich hatte beschlossen zu warten, die Dinge sich ein wenig beruhigen, die Hitze abklingen zu lassen.

Ich beobachtete die Scheune. Helles Licht drang durch die Bretterwände, als sei drinnen eine Batterie von Industrielampen installiert. Condon war den ganzen Tag lang hin- und hergelaufen. Irgendwas geschah da drinnen.

Meine Armbanduhr vermeldete gerade das Ablaufen einer weiteren Stunde, als ich, ziemlich leise, ein Geräusch hörte, das vom Schließen einer Tür herrühren mochte. Dann Schritte auf der Treppe, und gleich darauf sah ich Simon zur Scheune gehen.

Er blickte nicht nach oben. Und er kam auch nicht wieder aus der Scheune heraus. Er war dort mit Sorley und Condon, und wenn er das Telefon nach wie vor bei sich hatte, konnte ihn ein Anruf in Gefahr bringen. Nicht, dass mir Simons Wohlergehen übermäßig am Herzen gelegen hätte.

Wenn er aber das Telefon bei Diane gelassen hatte, dann war jetzt die Gelegenheit da.

Ich tippte die Nummer ein.

»Ja.« Es war Diane, die antwortete. »Ja?« Ihre Stimme war atemlos, schwach.

»Diane. Ich bin’s. Tyler.« Ich hatte Mühe, meinen Puls zu kontrollieren; es war, als hätte sich eine Tür in meiner Brust geöffnet.

»Tyler… Simon sagte, du würdest vielleicht anrufen.«

Ich musste mich anstrengen, sie zu verstehen. Sie sprach vollkommen kraftlos, nur mit Hals und Zunge. Was der Ätiologie von KVES entsprach: Die Krankheit befällt zuerst die Lunge, dann das Herz, eine koordinierte Attacke von beinahe militärischer Effizienz. Vernarbtes, schaumartiges Lungengewebe gibt weniger Sauerstoff an das Blut ab; das Herz, sauerstoffunterversorgt, pumpt das Blut mit weniger Leistung; die KVES-Bakterien machen sich beide Schwächen zunutze, graben sich mit jedem mühsamen Atemzug tiefer in den Körper hinein. »Ich bin nicht weit weg, Diane. Ich bin ganz in der Nähe«

»In der Nähe? Kann ich dich sehen?«

Ich wollte ein Loch in die Wand reißen. »Bald. Das verspreche ich. Wir müssen dich hier wegbringen. Dir Hilfe besorgen. Damit wir dich wieder gesund kriegen.«

Ich lauschte dem Geräusch weiterer quälender Atemzüge und fragte mich schon, ob sie mir noch zuhörte. Dann sagte sie: »Ich dachte, ich hätte die Sonne gesehen…«

»Es ist nicht das Ende der Welt — jedenfalls noch nicht.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Simon…«

»Was ist mit ihm?«

»Er wird so enttäuscht sein.«

»Du hast KVES, Diane. So wie die McIsaacs, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie waren gut beraten, sich Hilfe zu suchen. Es ist eine heilbare Krankheit.« Ich fügte nicht hinzu: bis zu einem bestimmten Punkt, so lange sie noch nicht bis zum Endstadium fortgeschritten ist. »Aber wir müssen dich hier unbedingt wegbringen.«

»Du hast mir gefehlt.«

»Du hast mir auch gefehlt… Verstehst du, was ich sage, Diane?«

»Ja.«

»Bist du bereit, fortzugehen?«

»Wenn der Zeitpunkt kommt…«

»Der Zeitpunkt ist ziemlich nahe. Ruh dich bis dahin aus. Aber wir werden uns dann vielleicht beeilen müssen. Verstehst du?«

»Simon… enttäuscht.«

»Du ruhst dich aus, und ich…«Ich hatte keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Ein Schlüssel klirrte im Türschloss. Ich klappte das Handy zu, steckte es in die Tasche.

Die Tür ging auf, und Aaron Sorley stand im Rahmen, das Gewehr in der Hand, schwer atmend, als sei er die Treppe hochgelaufen. Seine mächtige Gestalt zeichnete sich im trüben Licht des Flurs ab.

Ich wich zurück, bis meine Schultern gegen die Wand stießen.

»Bei Ihrem Führerschein ist ne Marke, wo steht, dass Sie Arzt sind«, sagte er. »Stimmt das?«

Ich nickte.

»Dann kommen Sie mit.«


Sorley führte mich die Treppe hinunter und aus der Hintertür hinaus in Richtung Scheune. Der Mond, bernsteinfarben gefleckt vom Licht der aufgetriebenen Sonne, narbenübersät und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, war über dem östlichen Horizont aufgegangen. Die Nachtluft war berauschend kühl. Ich saugte sie tief ein. Die Erleichterung hielt an, bis Sorley das Scheunentor aufriss und uns roher Tiergestank entgegenschlug, ein Schlachthausgeruch nach Exkrementen und Blut.

»Na los, gehen Sie rein«, sagte er und gab mir mit der freien Hand einen Stoß.

Das Licht kam von einer großen Halogenidbirne, die über einer offenen Viehbox hing. In einem Verschlag irgendwo weiter hinten knatterte ein Benzingenerator, es klang wie das Heulen eines Motorrads in der Ferne.

Dan Condon stand am offenen Ende des Pferchs, die Hände in einen Eimer dampfendes Wasser getaucht. Er blickte auf, als wir eintraten. Er runzelte die Stirn, sein Gesicht eine karge Landschaft unter dem grellen Licht, aber er sah weniger einschüchternd aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Eher kleinlaut, abgezehrt, vielleicht sogar krank, vielleicht im Frühstadium von KVES. »Macht die Tür wieder zu«, sagte er.

Aaron folgte der Aufforderung. Simon stand ein paar Schritte von Condon entfernt, warf mir kurze, nervöse Blicke zu.

»Kommen Sie her«, sagte Condon. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«

In dem Pferch, auf einem verdreckten Strohbett, versuchte eine magere Färse ein Kalb zu gebären. Sie lag auf der Seite, ihr knochiger Rumpf ragte aus der Box heraus. Der Schwanz war mit einer Schnur an ihrem Hals festgebunden, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Die Fruchtblase drängte aus der Vulva heraus, und das Stroh ringsum war mit blutigem Schleim besprenkelt.

Ich sagte: »Ich bin kein Tierarzt.«

»Das weiß ich.« In Condons Augen war ein Ausdruck mühsam unterdrückter Hysterie, der Blick eines Mannes, der eine Party veranstaltet und feststellen muss, dass alles aus dem Ruder läuft — die Gäste drehen durch, die Nachbarn beschweren sich, und die Flaschen fliegen aus den Fenstern wie Mörsergranaten. »Aber wir brauchen noch jemanden zum Anpacken.«

Alles, was ich über Zuchtvieh und Tiergeburten wusste, hatte ich aus Molly Seagrams Erzählungen über das Leben auf der Farm ihrer Eltern, und keine dieser Geschichten hatte besonders erbaulich geklungen. Immerhin war Condon mit allem ausgerüstet, was meiner Erinnerung nach zur unverzichtbaren Grundausstattung gehörte: heißes Wasser, Desinfektionsmittel, Geburtshilfeketten, eine große Flasche Mineralöl, die bereits von blutigen Fingerabdrücken übersät war.

»Sie ist teils Angler«, sagte Condon, »teils eine Rote Dänische, teils eine Rote Weißrussische, und das ist nur die jüngste Linie. Aber Kreuzungen bergen das Risiko von Dystokie, das hat auch Bruder Geller immer gesagt. ›Dystokie‹ bedeutet schwere Geburt. Kreuzzuchten haben Schwierigkeiten zu kalben. Sie liegt schon fast vier Stunden in den Wehen. Wir müssen den Fötus herausziehen.« Er redete wie abwesend, mit monotoner Stimme, als würde er einen Vortrag vor einer Versammlung von Schwachsinnigen halten. Es schien völlig gleichgültig, wer ich war oder wie ich hierher gekommen war — entscheidend war, dass ich zur Verfügung stand.

»Ich brauche Wasser.«

»Da ist ein Eimer zum Waschen«, sagte ich.

»Nicht zum Waschen. Ich hatte seit gestern Abend nichts mehr zu trinken.«

Condon hielt inne, als müsse er diese Information erst einmal verarbeiten. Dann nickte er. »Simon, kümmere dich darum.«

Simon schien in diesem Trio der Laufbursche zu sein. Er zog den Kopf ein und murmelte: »Ich hol dir was zu trinken, Tyler, klar doch.« Sorley öffnete das Scheunentor, um ihn hinauszulassen.

Condon wandte sich wieder der Viehbox zu, wo die erschöpfte Färse schwer atmend dalag. Er schüttete sich Mineralöl über die Hände und hockte sich hin, um den Geburtskanal zu weiten, wobei sich sein Gesicht in einer Mischung aus Eifer und Widerwillen verzerrte. Kaum hatte er damit begonnen, da erschien das Kalb in einem weiteren Sturzbach aus Blut und Flüssigkeit, doch trotz der heftigen Wehen der Färse brachte es kaum den Kopf heraus. Das Kalb war zu groß. Molly hatte mir von überdimensionierten Kälbern erzählt — nicht so schlimm wie eine Steißgeburt oder eine Hüftverklemmung, aber unangenehm genug.

Es machte die Sache nicht besser, dass die Färse offenkundig krank war. Grünlicher Schleim lief ihr aus dem Mund, und auch wenn die Wehen nachließen, rang sie schwer nach Luft. Ich fragte mich, ob ich Condon darauf ansprechen sollte: Sein göttliches Kalb war offenbar auch schon infiziert.

Entweder bemerkte er es nicht, oder es war ihm egal. Condon war alles, was vom dispensationalistischen Flügel von Jordan Tabernacle übrig geblieben war, eine Kirche für sich, auf ganze zwei Gemeindemitglieder geschrumpft, Sorley und Simon, und ich konnte nur erahnen, wie robust sein Glaube gewesen sein musste, um ihn hierher, ans Ende der Welt zu tragen. »Das Kalb, das Kalb ist rot«, sagte er. »Aaron, sieh dir das Kalb an.«

Sorley, der mit seiner Flinte an der Tür postiert war, kam heran, um in den Pferch zu spähen. Das Kalb war in der Tat rot. Von Blut übergossen. Und ausgesprochen schlaff.

»Atmet es?«, fragte Sorley.

»Das kommt noch.« Condon war gedankenverloren, schien diesen Moment auszukosten, von dem seiner Überzeugung nach eine ganze — gewonnene oder verlorene — Ewigkeit abhing. »Schnell jetzt, schlingt die Ketten um die Hornschuhe.«

Sorley warf mir einen Blick zu, in dem eine eindeutige Warnung lag — wehe, du sagst auch nur ein Wort —, und wir taten wie befohlen, mühten uns, bis wir bis zu den Ellbogen blutig waren. Ein übergroßes Kalb zur Welt zu bringen, ist ein ziemlich brutaler Vorgang, eine groteske Hochzeit von Biologie und roher Gewalt. Man benötigt dazu mindestens zwei einigermaßen kräftige Männer. Die Geburtshilfeketten waren zum Ziehen da, und das Ziehen musste mit den Wehen der Kuh abgestimmt sein, anderenfalls bestand die Gefahr, dass wir das Tier ausweideten.

Diese Färse jedoch war äußerst geschwächt, und ihr Kalb — dessen Kopf leblos zur Seite hing — war offensichtlich eine Totgeburt. Ich sah Sorley an. Sorley sah mich an. Keiner von uns sagte ein Wort.

»Als Erstes müssen wir sie rausholen. Dann werden wir sie wiederbeleben«, erklärte Condon.

Ein kühler Luftzug kam von der Scheunentür her. Dort stand Simon mit einer Flasche Mineralwasser in der Hand. Er starrte erst uns an, dann, erschreckend blass im Gesicht, das Totgeborene. »Hab dir was zu trinken gebracht«, presste er heraus.

Die Färse brachte eine weitere schwache, wirkungslose Wehe hinter sich. Ich ließ die Kette fallen. »Trink erst mal, mein Sohn«, sagte Condon. »Danach machen wir weiter.«

»Ich muss mich sauber machen. Wenigstens die Hände.«

»Da ist sauberes heißes Wasser in den Eimern neben den Heuballen. Aber mach schnell.« Seine Augen waren zusammengepresst, verschlossen vor allen Kämpfen, die sein gesunder Menschenverstand mit seinem Glauben ausfechten mochte.

Ich spülte und desinfizierte meine Hände. Sorley behielt mich scharf im Auge. Seine eigenen Hände waren noch um die Geburtshilfeketten gespannt, sein Gewehr lehnte in Reichweite an einer Stange der Box.

Als Simon mir die Flasche reichte, neigte ich mich zu ihm und sagte: »Ich kann Diane nur helfen, wenn ich hier rauskomme. Verstehst du? Und das schaffe ich nicht ohne deine Hilfe. Wir brauchen einen Wagen mit vollem Tank, und Diane muss drinsitzen, am besten noch bevor Condon merkt, dass das Kalb tot ist.«

Simon stockte der Atem. »Ist es wirklich tot?«

»Es atmet nicht, und die Färse hält sich kaum noch am Leben.«

»Aber ist das Kalb rot? Ganz und gar rot? Ohne weiße oder schwarze Flecken?«

»Selbst wenn es ein beschissenes Feuerwehrauto wäre, Simon, würde es Diane nicht das Geringste nützen.«

Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade mitgeteilt, sein kleiner Hund sei überfahren worden. Ich fragte mich, wann er seine überschäumende Selbstsicherheit gegen diese hilflose Verwirrung eingetauscht hatte, ob es plötzlich geschehen oder ob sie Stück für Stück aus ihm herausgerieselt war, wie Sand durch ein Stundenglas.

»Sprich mit ihr. Frag sie, ob sie bereit ist, hier wegzugehen.« Falls sie noch in der Lage war, zu sprechen. Falls sie sich daran erinnerte, dass ich mit ihr gesprochen hatte.

»Ich liebe sie mehr als das Leben selbst«, murmelte Simon.

In diesem Moment rief Condon: »Wir brauchen dich wieder hier!«

Ich trank die halbe Flasche leer. Das Wasser war sauber und rein und köstlich. Simon starrte mich an, während ihm Tränen in die Augen stiegen.

Dann ging ich zurück zu Sorley und den Geburtshilfeketten, und wir zogen und zerrten im Einklang mit den Zuckungen der schwangeren Färse.


Endlich, gegen Mitternacht, hatten wir das Kalb herausgezogen, es lag auf dem Stroh, ein Knäuel von schlaffen Gliedmaßen, die blutunterlaufenen Augen leblos.

Condon stand eine Weile über dem kleinen Körper. Dann wandte er sich mir zu: »Gibt es irgendetwas, das Sie tun können?«

»Ich kann es nicht von den Toten erwecken, falls Sie das meinen.«

Sorley sah mich warnend an, als wollte er sagen: Quäl ihn nicht, es ist schon schlimm genug.

Langsam bewegte ich mich in Richtung Scheunentür. Simon war vor etwa einer Stunde verschwunden, als wir noch mit starken Blutungen kämpften, die sich über das Stroh und unsere Kleidung, unsere Arme und Hände ergossen. Durch den offenen Spalt der Tür konnte ich beim Auto — meinem Auto — Bewegungen ausmachen und ein Aufblitzen von kariertem Stoff, möglicherweise Simons Hemd. Er war da draußen mit irgendwas beschäftigt.

Sorley sah von dem toten Kalb zu Pastor Dan Condon und wieder zurück, strich sich den Bart, ohne zu merken, dass er Blut hineinrieb. »Vielleicht, wenn wir es verbrennen«, sagte er.

Condon richtete einen welken, hoffnungslos starrenden Blick auf ihn.

Plötzlich riss Simon die Scheunentüren auf und ließ einen Schwall kühler Luft herein. Wir drehten uns um. Der Mond über seinen Schultern war aufgedunsen, fremd. »Sie ist im Auto«, sagte er. »Wir können fahren.« Er sprach zu mir, sah aber unverwandt in Richtung Sorley und Condon.

Pastor Dan zuckte nur mit den Achseln — als seien derlei weltliche Dinge nicht länger relevant.

Ich sah Bruder Aaron an. Bruder Aarons Hand streckte sich nach dem Gewehr.

»Ich kann Sie nicht hindern«, sagte ich. »Aber ich gehe jetzt.«

Er hielt inne, ließ die Hand in der Luft hängen, runzelte die Stirn. Es war, als versuchte er die Abfolge von Vorgängen zu rekonstruieren, die zu dem gegenwärtigen Augenblick geführt hatten, einer aus dem anderen notwendig hervorgehend, mit unerbittlicher Logik, und doch, und doch… Seine Hand fiel schlaff hinunter. Er wandte sich Pastor Dan zu. »Ich glaube, wenn wir es trotzdem verbrennen, dann wäre das in Ordnung.«

Ich ging zur Scheunentür, blickte mich nicht um. Sorley hätte es sich anders überlegen, zum Gewehr greifen können, aber ich war nicht mehr imstande, mich dafür zu interessieren.

»Vielleicht noch verbrennen, bevor es Morgen wird«, hörte ich ihn sagen. »Bevor die Sonne wieder aufgeht.«


»Fahr du«, sagte Simon, als wir das Auto erreichten. »Es ist Benzin im Tank und ein paar Extrakanister im Kofferraum. Außerdem etwas zu essen und noch mehr Wasserflaschen. Du fährst, und ich sitz hinten, um sie zu stützen.«

Ich ließ den Wagen an und fuhr langsam den Hügel hoch, an dem Weidezaun und der mondbeschienenen Ocotilla vorbei in Richtung Highway.

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