Zeit aus den Fugen

Die Wahrheit über den Spin hörte ich fünf Jahre nach dem Oktober-Ereignis, in einer bitterkalten Winternacht, während einer Rodelparty. Natürlich war es Jason, von dem ich sie erfuhr.

Der Abend begann mit einem Essen bei den Lawtons. Jason war von der Universität gekommen, um die Weihnachtsferien zu Hause zu verbringen, daher hatte die Mahlzeit etwas Feierliches, obwohl sie »im Kreis der Familie« stattfand — ich war auf Jasons Drängen eingeladen worden, vermutlich gegen den Willen von E. D.

»Deine Mutter sollte auch hier sein«, flüsterte Diane, als sie mir die Tür aufmachte. »Ich habe versucht, E. D. dazu zu bewegen, sie einzuladen, aber…« Sie zuckte mit den Achseln.

Das sei schon in Ordnung, erwiderte ich. Jason wäre bereits vorbeigekommen, um Hallo zu sagen. »Sie fühlt sich sowieso nicht wohl.« Sie hatte sich mit Kopfschmerzen ins Bett gelegt. Außerdem hatte ich keinen Anlass, mich über E. D. zu beklagen: erst letzten Monat hatte er angeboten, für mich die Studiengebühr an der medizinischen Fakultät zu übernehmen, falls ich die Aufnahmeprüfung bestand, »weil«, wie er sagte, »das deinem Vater gefallen hätte«. Es war eine sowohl großzügige als auch emotional zweifelhafte Geste — freilich eine, die abzulehnen ich mir keinesfalls leisten konnte.

Marcus Dupree, mein Vater, war E. D. Lawtons engster — manche sagen: einziger — Freund gewesen, damals in Sacramento, als sie Aerostat-Überwachungsgeräte an das Wetteramt und die Grenzpolizei verkauften. Meine eigenen Erinnerungen an ihn waren bruchstückhaft und vermutlich geformt von den Geschichten, die mir meine Mutter erzählt hatte — wenn ich mich auch genau an das Klopfen an der Tür erinnere, in jener Nacht, in der er starb. Er war der einzige Sohn einer französisch-kanadischen, später nach Maine gezogenen, mittellosen Familie gewesen, stolz auf sein Ingenieurspatent, begabt, aber in Geldfragen heillos naiv: Er hatte seine ganzen Ersparnisse bei Aktienspekulationen verloren und meiner Mutter eine Hypothek hinterlassen, die sie nicht tragen konnte.

Als sie in den Osten zogen, engagierten Carol und E. D. meine Mutter als Haushälterin, was womöglich E. D.s Versuch war, sich ein lebendes Andenken an seinen Freund zu schaffen. War es von Bedeutung, dass E. D. sie nie vergessen ließ, wer ihr diesen Gefallen getan hatte? Dass er sie fortan wie ein Haushaltszubehör behandelte? Dass er eine Art Kastenwesen pflegte, in dem die Familie Dupree ganz klar der zweiten Kategorie angehörte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Großzügigkeit jeglicher Art ist ein seltenes Tier, pflegte meine Mutter zu sagen. Womöglich bildete ich mir also das Vergnügen nur ein, das er an der intellektuellen Kluft zwischen Jason und mir zu haben schien, und auch seine scheinbare Überzeugung, dass ich qua Geburt dazu bestimmt sei, Jason als Folie zu dienen, gleichsam als Maßstab der Normalität, an dem man Jasons Besonderheit ablesen konnte.

Zum Glück wussten Jason und ich beide, dass das Blödsinn war.

Diane und Carol saßen schon am Tisch, als ich Platz nahm. Carol war erstaunlicherweise nüchtern, oder jedenfalls nicht so betrunken, dass man es merkte. Sie hatte ihre Arztpraxis vor einigen Jahren aufgegeben und blieb in letzter Zeit meistens zu Hause, um nicht das Risiko einzugehen, mit Alkohol am Steuer aufgegriffen zu werden. Sie lächelte mir flüchtig zu. »Tyler«, sagte sie. »Willkommen.«

Ein paar Minuten später kamen Jason und sein Vater, stirnrunzelnd und bedeutungsvolle Blicke wechselnd, die Treppe herunter — offensichtlich lag irgendetwas an. Jason nickte zerstreut, als er sich auf den Stuhl neben mich setzte.

Wie die meisten Veranstaltungen der Lawtons verlief dieses Abendessen in freundlicher, aber gezwungener Atmosphäre. Wir reichten einander die Erbsen und machten Smalltalk. Carol war abwesend, E. D. ungewöhnlich still. Diane und Jason versuchten immer mal wieder, sich um die Konversation verdient zu machen, doch es war offenkundig etwas zwischen Jason und seinem Vater zur Sprache gekommen, auf das keiner von beiden näher eingehen wollte. Jase wirkte so angespannt, dass ich mich, als der Nachtisch kam, fragte, ob er vielleicht krank sei — kaum einmal nahm er die Augen von seinem Teller, den er wiederum praktisch nicht angerührt hatte. Als es Zeit war, zur Rodelparty aufzubrechen, erhob er sich nur mit deutlichem Widerwillen und schien im Begriff, sich zu entschuldigen, doch E. D. sagte: »Lass nur, nimm dir einen Abend frei, das wird dir gut tun.« Ich fragte mich: freinehmen wovon?

Zu der Party fuhren wir in Dianes Auto, einem bescheidenen kleinen Honda, ein typisches »Mein erstes Auto«-Auto, wie Diane sich ausdrückte. Ich saß hinter dem Fahrersitz, Jason vorne neben seiner Schwester, die Knie gegen das Handschuhfach gedrückt.

»Was war los?«, fragte ihn Diane. »Hat er dir den Hintern versohlt?«

»Schwerlich.«

»Du benimmst dich aber so, als ob.«

»Tatsächlich? Tut mir Leid.«

Der Himmel, versteht sich, war dunkel. Unser Scheinwerferlicht strich, als wir nach Norden bogen, über verschneite Rasenflächen, über eine Wand laubloser Bäume. Wir hatten vor drei Tagen Rekordschneefälle gehabt, gefolgt von einem Kälteeinbruch, der den Schnee überall dort, wo die Schneepflüge nicht hingekommen waren, unter einer Eishaut einbalsamiert hatte. Nur wenige, vorsichtig fahrende Autos kamen uns entgegen.

»Was war’s denn dann? Etwas Ernstes?«

Jason zuckte mit den Achseln.

»Was? Seuchen? Hungersnöte?«

Wieder zuckte er mit den Achseln und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.


Auf der Party war er nicht viel besser drauf. Andererseits war es auch keine besonders tolle Party.

Es war ein Treffen ehemaliger Rice-Klassenkameraden von Jason und Diane, ausgerichtet von der Familie eines Rice-Absolventen, der gerade von irgendeiner Eliteuniversität für die Ferien mach Hause gekommen war. Seine Eltern versuchten, den Abend einigermaßen respektabel zu gestalten: mit Fingerfood, heißem Kakao und Schlittenfahren auf dem sanften Hügel hinter dem Haus. Doch für die Mehrzahl der Gäste — ernste Wohlstandskinder, die schon im Zahnspangenalter in Zermatt oder Gstaad Ski gelaufen waren — war es nur ein weiterer Trinkanlass. Draußen, unter bunten Lichtergirlanden, zirkulierten mehr oder weniger heimlich die Flachmänner, und im Keller verkaufte ein Typ namens Brent Ecstasy.

Jason suchte sich einen Sessel in irgendeiner Ecke und blickte jeden finster an, der ein freundliches Gesicht machte. Diane stellte mir ein großäugiges Mädchen namens Holly vor und verließ mich dann, während Holly einen Monolog über sämtliche Filme, die sie in den letzten zwölf Monaten gesehen hatte, vom Stapel ließ. Fast eine Stunde trieb sie mich durchs Zimmer, nur hin und wieder innehaltend, um sich ein Stück Sushi von einem Tablett zu schnappen. Als sie mal aufs Klo musste, huschte ich hinüber in Jasons Schmollecke und bat ihn flehentlich, mit mir nach draußen zu gehen.

»Ich hab keine Lust zum Rodeln.«

»Ich auch nicht. Tu mir einfach einen Gefallen, okay?«

Also zogen wir unsere Stiefel und Jacken an und trotteten nach draußen. Die Nacht war kalt und windstill. Ein halbes Dutzend Rice-Schüler stand in einem Nebel von Zigarettenrauch auf der Veranda und starrte uns an. Wir folgten einem Pfad im Schnee, bis wir mehr oder weniger für uns waren, auf einem kleinen Hügel, von wo aus wir einigen halbherzigen Rodlern zusehen konnten, wie sie durch den Schein der Weihnachtsbeleuchtung schlitterten. Ich erzählte Jason von Holly, die sich an mich geheftet hatte wie eine Klette. Achselzuckend erwiderte er: »Jeder hat so seine Probleme.«

»Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir heute Abend?« Bevor er antworten konnte, klingelte mein Handy. Es war Diane, die vom Haus aus anrief. »Wo seid ihr hin? Holly ist ziemlich sauer. Sie einfach so stehen zu lassen. Ziemlich unhöflich, Tyler.«

»Da muss doch noch jemand anders sein, den sie zutexten kann.«

»Sie ist einfach unsicher. Sie kennt hier kaum jemanden.« »Tut mir Leid, aber inwiefern ist das mein Problem?« »Ich dachte nur, mit euch beiden könnte es passen.« Ich blinzelte. »Es könnte mit uns passen?« Wie sollte man das interpretieren, wenn nicht… »Soll das heißen, du wolltest uns verkuppeln?«

Sie zögerte ein, zwei lange Sekunden. »Ach, komm, Tyler, reg dich nicht auf.«

Seit fünf Jahren tauchte Diane mal mehr, mal weniger scharf auf meiner Bildfläche auf. Es hatte Zeiten gegeben — vor allem, nachdem Jason auf die Uni gegangen war —, in denen ich mir wie ihr bester Freund vorgekommen war. Sie rief an, wir redeten, wir shoppten oder sahen uns Filme an. Wir waren Freunde. Kumpel. Sofern es irgendeine sexuelle Spannung gab, schien sie ganz auf meiner Seite zu liegen, und ich war sorgfältig darauf bedacht, sie zu verbergen, weil selbst diese Teilintimität fragil war — das wusste ich, ohne dass man es mir sagen musste. Was immer Diane bei mir suchte, es hatte nichts mit irgend gearteter Leidenschaft zu tun.

E. D. hätte natürlich kein Verhältnis zwischen mir und Diane geduldet, es sei denn, es war kindlicher Natur, fand unter Aufsicht statt und barg keine Gefahr, unerwartete Wendungen zu nehmen. Aber auch Diane schien die Distanz zwischen uns ganz gut in den Kram zu passen, und so sah ich sie manchmal monatelang fast gar nicht, allenfalls, dass ich ihr von ferne zuwinkte, wenn sie auf den Rice-Bus wartete (solange sie noch auf die Academy ging). Während dieser Phasen rief sie nicht an, und wenn ich mal, was selten genug vorkam, die Kühnheit besaß, bei ihr durchzuklingeln, war sie nicht zum Reden aufgelegt.

Während dieser Zeit ging ich gelegentlich mit Mädchen von meiner Schule aus, schüchternen Mädchen zumeist, die eigentlich (oft genug explizit) lieber von Jungen mit höherem Popularitätsgrad ausgeführt worden wären, sich aber mehr oder weniger damit abgefunden hatten, ein gesellschaftliches Leben zweiter Wahl zu führen. Keine dieser Verbindungen war von Dauer. Als ich siebzehn war, verlor ich meine Unschuld an ein hübsches, verblüffend großes Mädchen namens Elaine Bowland; ich versuchte mir einzureden, dass ich in sie verliebt sei, aber nach acht oder neun Wochen gingen wir mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung wieder auseinander.

Nach jeder dieser Episoden rief Diane ganz unerwartet an, und wir redeten; ich erwähnte dann Elaine Bowland oder Toni Hickock oder Sarah Burstein, und Diane kam irgendwie nie so recht dazu, mir zu erzählen, wie sie die Pause in unserer Beziehung verbracht hatte, aber das machte nichts, denn schon bald waren wir wieder in unserer Blase gelandet, frei schwebend zwischen Romanze und Heuchelei, Kindheit und Reife.

Ich bemühte mich, nicht mehr zu erwarten. Doch ich konnte nicht aufhören, mit ihr zusammen sein zu wollen. Und mir schien, dass auch sie meine Gesellschaft suchte; schließlich kam sie immer wieder auf mich zurück. Ich hatte gesehen, wie sie sich entspannte, wenn ich da war, ihr spontanes Lächeln, wenn ich den Raum betrat, als wolle sie sagen: Oh, gut, Tyler ist da. Wenn Tyler da ist, kann nichts passieren.

»Tyler?«

Ich fragte mich, was sie Holly erzählt hatte. Tyler ist echt nett, aber er läuft mir schon seit Jahren ständig nach. Ihr beide würdet toll zusammenpassen…

»Tyler?« Sie klang bekümmert. »Tyler, wenn du nicht reden möchtest…«

»Nein, möchte ich eigentlich nicht.«

»Dann gib mir bitte Jason.«

Ich reichte ihm das Handy. Jason hörte eine Weile zu, dann sagte er: »Wir sind hier auf dem Hügel. Nein. Nein. Komm doch auch raus. So kalt ist es auch wieder nicht. Nein.«

Ich wollte sie nicht sehen, ich schickte mich an, wegzugehen. Jason warf mir das Handy zu und sagte: »Sei kein Arsch, Tyler. Ich muss mit dir und Diane reden.«

»Worüber?«

»Über die Zukunft.«

Das war eine ärgerlich kryptische Bemerkung. »Dir ist vielleicht nicht kalt, mir schon.« Saumäßig kalt.

»Es geht hier um Wichtigeres als die Probleme, die du mit meiner Schwester haben magst.« Er wirkte auf fast komische Weise ernst. »Und ich weiß, was sie dir bedeutet.«

»Sie bedeutet mir gar nichts.«

»Das wäre nicht einmal dann wahr, wenn ihr nur Freunde wärt.«

»Wir sind nur Freunde.« Ich hatte eigentlich noch nie mit ihm über Diane gesprochen; das war ein Thema, das wir bei unseren Gesprächen mühsam umschifften. »Frag sie doch selbst.«

»Du bist sauer, weil sie dich dieser Holly vorgestellt hat.«

»Ich möchte das nicht diskutieren.«

»Aber sie wollte damit doch nur ein frommes Werk tun. Dianes neue Masche. Sie hat all diese Bücher gelesen.«

»Was für Bücher?«

»Apokalyptische Theologie. Meistens irgendwelche Bestseller. Du weißt schon: C. R. Ratel, ›Beten in der Finsternis‹, die Absage an das weltliche Ich. Du musst mehr Nachmittagsfernsehen gucken, Tyler. Sie wollte dich nicht kränken. Das war als Geste gedacht.«

»Und dadurch wird es besser?« Ich machte einige weitere Schritte von ihm weg, in Richtung Haus, und fragte mich, wie ich ohne Auto nach Hause kommen wollte.

»Tyler.« Irgendetwas in seiner Stimme veranlasste mich, stehen zu bleiben. »Tyler. Hör zu. Du hast mich gefragt, was mit mir los ist.« Er seufzte. »E. D. hat mir etwas über das Oktober-Ereignis erzählt. Es ist noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben. Ich habe ihm versprochen, dass ich nicht darüber rede, aber ich werde dieses Versprechen brechen. Ich werde es brechen, weil es nur drei Leute auf der Welt gibt, die ich als Familie empfinde. Einer davon ist mein Vater, die anderen beiden seid ihr, du und Diane. Also könntest du vielleicht noch ein paar Sekunden Geduld mit mir haben?«

Ich sah Diane, die den Hang hinaufgestapft kam, damit beschäftigt, sich in ihren Parka zu zwängen, einen Arm drin, einen Arm draußen.

Ich sah Jason, sah seinen entschieden unglücklichen Blick im trüben Lampenlicht. Es machte mir Angst, und ungeachtet meiner Gefühle erklärte ich mich bereit, ihn anzuhören.


Jason flüsterte Diane etwas zu, als sie uns erreichte. Sie blickte ihn mit großen Augen an, dann trat sie etwas zurück, hielt etwa gleichen Abstand zu uns beiden. Jason begann zu sprechen, sanft, methodisch, fast beschwichtigend, berichtete von einem Albtraum, als handle es sich um eine Gutenachtgeschichte.

Er hatte das alles natürlich von E. D. gehört.

Für E. D. war es gut gelaufen nach dem Oktober-Ereignis. Kaum waren die Satelliten ausgefallen, stellte Lawton Industries auch schon Pläne für eine sofort installierbare, praktische Ersatztechnologie vor: Höhenaerostaten, technisch avancierte Ballons, die auf unbestimmte Zeit in der Stratosphäre schweben konnten. Fünf Jahre später trugen E. D.s Aerostaten Telekom-Nutzlasten und Leitungsverstärker, ermöglichten Multipoint-Stimmen- und Daten-Übertragungen, bewerkstelligten fast alles (außer GPS und Astronomie), was konventionelle Satelliten auch gekonnt hätten. E. D.s Macht und Einfluss waren schnell gewachsen. Erst vor kurzem hatte er eine Raumfahrt-Lobbygruppe, die Perihelion-Stiftung, gegründet, und er hatte die Regierung bei einer Reihe von Projekten beraten, die nicht in der Öffentlichkeit verhandelt wurden. In diesem Fall ging es um das ARV-Programm — Automated Reentry Vehicle, also automatisierte Wiedereintrittsfahrzeuge — der NASA.

Die NASA hatte ihre ARV-Sonden in den letzten Jahren immer weiter verfeinert, um den Oktoberschild zu untersuchen. Konnte man ihn durchdringen? Konnten nützliche Daten von außerhalb gewonnen werden?

Der erste Versuch war buchstäblich ein Schuss ins (Dunkel-) Blaue, eine einfache ARV-Nutzlast auf einer aufpolierten Lockheed Martin Atlas 2AS, hinaufgeschleudert in die absolute Dunkelheit über der Vandenberg Air Force Base. Anfangs hatte es nach einem Fehlschlag ausgesehen. Der Satellit, der eine Woche in der Umlaufbahn hätte bleiben sollen, stürzte wenige Augenblicke nach dem Start unweit der Bermudas in den Atlantik. Als ob er, sagte Jason, gegen die Oktober-Ereignis-Grenze gestoßen und zurückgeprallt wäre.

Aber er war nicht abgeprallt. »Als sie ihn bargen, konnten sie die Daten einer ganzen Woche downloaden.«

»Wie ist das möglich?«

»Die Frage ist nicht, was möglich ist, sondern was passiert ist. Und passiert ist eben, dass die Nutzlast sieben Tage in der Umlaufbahn verbracht hat und in derselben Nacht zurückgekehrt ist, in der sie gestartet war. Woher wissen wir, dass es so war? Weil jedes Mal das Gleiche passiert ist, bei jedem Start, den sie danach unternommen haben — und sie haben es noch mehrmals versucht.«

»Was ist passiert? Wovon sprichst du, Jase? Zeitreisen?«

»Nein… eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht?«

»Lass ihn einfach erzählen«, sagte Diane ruhig.

Es gebe alle möglichen Hinweise auf das, was tatsächlich geschehen ist, berichtete Jason. Beobachtungen vom Boden aus schienen darauf hinzudeuten, dass die Trägerraketen beschleunigt hatten, bevor sie hinter der Barriere verschwanden — so, als seien sie hineingezogen worden. Doch die sichergestellten Borddaten zeigten keinen solchen Effekt. Die jeweiligen Beobachtungen ließen sich nicht miteinander vereinbaren: Vom Boden aus gesehen, waren die Satelliten mit Beschleunigung in die Barriere geflogen und dann fast sofort zur Erde zurückgefallen, während die Satelliten selbst behaupteten, sie seien glatt und reibungslos in ihre vorgesehene Umlaufbahn gelangt, dort den geplanten Zeitraum über verblieben und mittels eigenem Antrieb Wochen oder Monate später wieder zurückgekehrt. (Wie bei dem russischen Kosmonauten, dachte ich, dessen offiziell nie bestätigte oder dementierte Geschichte zu einer Art modernen Sage geworden war.) Und wenn man annahm, dass beide Datensätze zutreffend waren, dann gab es nur eine Erklärung: Außerhalb der Barriere herrschte eine andere Zeit.

Oder, von einem anderen Blickwinkel aus gesehen: Auf der Erde verging die Zeit langsamer als im übrigen Universum.

»Versteht ihr, was das bedeutet?«, fragte Jason. »Vorher sah es so aus, als steckten wir in einer Art elektromagnetischem Käfig, der die zur Erde gelangende Energie regulierte. Und das trifft auch zu. Aber es ist im Grunde nur ein Nebeneffekt, ein kleiner Ausschnitt eines sehr viel größeren Bildes.«

»Nebeneffekt wovon?«, fragte ich.

»Von dem, was man als Zeitgradient bezeichnet. Versteht ihr? Für jede Sekunde, die auf der Erde vergeht, vergeht außerhalb der Barriere sehr viel mehr Zeit.«

»Das ergibt doch keinen Sinn. Was soll das für eine Physik sein, die da am Wirken ist?«

»Leute, die erheblich mehr Erfahrung haben als ich, plagen sich momentan mit dieser Frage ab. Aber die Vorstellung eines Zeitgradienten hat etwas für sich. Wenn es ein zeitliches Gefälle zwischen uns und dem Universum gibt, dann würde die zu einem bestimmten Zeitpunkt an die Erdoberfläche gelangende Umgebungsstrahlung — Sonnenlicht, Röntgenstrahlen, kosmische Strahlung — proportional beschleunigt werden. Und die Sonnenstrahlen eines Jahres, auf zehn Sekunden kondensiert, wären unmittelbar tödlich. Die elektromagnetische Barriere um die Erde verbirgt uns also nicht, sie beschützt uns. Sie schirmt diese ganze konzentrierte — und ich vermute mal: blauverschobene — Strahlung ab.«

»Das gefälschte Sonnenlicht.« Diane hatte es kapiert.

»Genau. Sie haben uns falsches Sonnenlicht gegeben, weil der echte Stoff tödlich wäre. Gerade mal genug davon, und zwar ordnungsgemäß verteilt, um die Jahreszeiten nachzuahmen, Ackerbau möglich zu machen und so etwas wie Wetter zu fabrizieren. Die Gezeiten, unsere Flugbahn um die Sonne — Masse, Impuls, Anziehungskraft —, all diese Dinge werden manipuliert, nicht nur, um uns abzubremsen, sondern auch, um uns währenddessen am Leben zu erhalten.«

»Manipuliert«, sagte ich. »Es ist also kein Naturereignis. Es ist gemacht, ein Werk der Technik.«

»Ich glaube, das müssen wir uns eingestehen, ja.«

»Es wird uns zugefügt.«

»Manche sprechen von einer hypothetischen Steuerintelligenz.«

»Aber wozu das alles? Was ist damit bezweckt?«

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«

Diane starrte ihren Bruder durch die kalte Winterluft hindurch an. Zitternd schlug sie die Arme um ihren Parka. Nicht so sehr wegen der Temperaturen, sondern weil sie auf die entscheidende Frage gekommen war: »Wie viel Zeit, Jason? Wie viel Zeit vergeht dort draußen?«

Jason zögerte, sichtlich unwillig, ihr zu antworten. »Viel Zeit«, murmelte er schließlich.

»Sag’s uns einfach«, sagte sie entschieden.

»Nun ja, es gibt alle möglichen Messungen. Aber beim letzten Start, da haben sie ein Kalibrierungssignal von der Mondoberfläche abprallen lassen. Der Mond entfernt sich jedes Jahr ein wenig von der Erde, wusstet ihr das? Um eine winzig kleine, aber messbare Strecke. Wenn man diese Strecke misst, gewinnt man einen groben Kalender, der umso genauer ist, je mehr Zeit verstreicht. Nehmt das zusammen mit anderen Indikatoren, zum Beispiel die Bewegung nahegelegener Sterne…«

»Wie viel Zeit, Jason?«

»Seit dem Oktober-Ereignis sind fünf Jahre und ein paar Monate vergangen. Außerhalb der Barriere stellt sich das als ein Zeitraum von etwas über fünfhundert Millionen Jahren dar.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fiel absolut nichts ein. Ich war sprachlos. Keines Gedankens fähig. Es gab in diesem Moment nicht das geringste Geräusch, nichts als die Leere der Nacht.

Diane allerdings blickte geradewegs ins furchterregende Herz der Sache: »Und wie lange bleibt uns noch?«

»Auch das weiß ich nicht. Kommt drauf an. Zu einem gewissen Grad sind wir durch die Barriere geschützt, doch wie wirksam ist dieser Schutz? Einigen Tatsachen jedenfalls müssen wir ins Auge sehen: Die Sonne ist sterblich, wie alle anderen Sterne. Sie verbrennt Wasserstoff, sie expandiert und wird immer heißer. Die Erde existiert in einer Art bewohnbaren Zone innerhalb des Sonnensystems, und diese Zone bewegt sich stetig nach außen. Wie gesagt, wir sind geschützt, vorläufig sind wir auf jeden Fall sicher. Aber irgendwann wird die Erde in die Heliosphäre der Sonne eintreten, wird von ihr verschluckt werden. Ab einem gewissen Punkt gibt es schlicht und einfach kein Zurück mehr.«

»Wie lange, Jase?«

Er sah sie mitleidig an. »Vierzig, vielleicht fünfzig Jahre. Ungefähr.«

Загрузка...