4 x 109 n. Chr.

Vor Padang stiegen wir aus Nijons Rettungswagen in ein Auto mit einem Minang-Fahrer um, der uns — mich, Ibu Ina und En — bei einem Speditionslager an der Küstenstraße absetzte. In einer schwarzen Kiesebene standen fünf riesige Blechdachlagerhallen zwischen kegelförmigen, von Planen abgedeckten Zementhügeln und einem verrosteten Schienentankwagen, den man buchstäblich aufs Abstellgleis geschoben hatte. Das Hauptbüro war ein niedriges Holzgebäude unter einem Schild, auf dem BAYUR FORWARDING stand.

Die Bayur-Spedition, erläuterte Ina, war eines der Unternehmen ihres Ex-Mannes Jala, und dieser Jala war es auch, der uns gleich darauf am Empfang begrüßte. Er war ein bulliger, apfelwangiger Mann in einem kanariengelben Geschäftsanzug — er sah aus wie ein Toby-Krug, der eine Expedition in die Tropen plant. Er und Ina umarmten sich im Stil von einvernehmlich Geschiedenen, dann gab Jala mir die Hand und beehrte auch En mit einem Handschlag. Er stellte mich seiner Empfangsdame als »Palmölimporteur aus Suffolk« vor, wohl für den Fall, dass sie von den New Reformasi befragt werden würde. Dann eskortierte er uns zu seinem sieben Jahre alten BMW mit Brennstoffzellenmotor und wir fuhren nach Süden Richtung Teluk Bayur, Jala und Ina vorn, En und ich auf der Rückbank.

In Teluk Bayur — dem großen Tiefwasserhafen südlich von Padang — hatte Jala sein ganzes Geld verdient. Vor dreißig Jahren, sagte er, sei Teluk Bayur noch ein schläfriges Sumatra-Sandschlammbecken gewesen, mit sehr bescheidenen Hafeneinrichtungen und einem übersichtlichen Umschlag von Kohle, rohem Palmöl und Düngemitteln. Doch dank des Wirtschaftsbooms in der Zeit der Nagari-Restauration und der Bevölkerungsexplosion in der Torbogenära besitze Teluk Bayur nun ein generalüberholtes Hafenbecken mit Kais und Liegeplätzen von Weltniveau, mit einem riesigen Lagerungskomplex und so viel modernem Schnickschnack, dass sogar Jala irgendwann die Lust verlor, all die Schlepper, Schuppen, Kräne und Auflader nach Tonnage zusammenzurechnen. »Jala ist stolz auf Teluk Bayur«, sagte Ina. »Es gibt kaum einen hohen Beamten, den er nicht bestochen hätte.«

»Aber keinen, der im Rang höher steht als General Schlüssel«, berichtigte Jala.

»Du bist zu bescheiden.«

»Ist es etwa falsch, wenn man Geld verdient? Bin ich zu erfolgreich? Ist es ein Verbrechen, etwas aus sich zu machen?«

Ina neigte den Kopf. »Das sind natürlich alles nur rhetorische Fragen.«

Ich fragte, ob wir direkt zu einem Schiff in Teluk Bayur fahren würden.

»Nicht direkt«, sagte Jala. »Ich bringe Sie zu einem sicheren Ort im Hafen. So einfach ist das nicht, dass man einfach auf ein Schiff spazieren und es sich gemütlich machen könnte.«

»Es ist gar kein Schiff da?«

»Selbstverständlich ist ein Schiff da. Die Capetown Maru, ein netter kleiner Frachter. Er lädt gerade Kaffee und Gewürze. Wenn die Frachträume voll sind, die Schulden beglichen und die Genehmigungen unterzeichnet, dann geht die menschliche Fracht an Bord. Diskret, wie ich hoffe.«

»Was ist mit Diane? Ist Diane in Teluk Bayur?«

»Bald«, sagte Ina mit einem bedeutungsvollen Blick auf Jala.

»Ja, bald«, erwiderte er.


Teluk Bayur mochte einst nur ein schläfriger Handelshafen gewesen sein, doch wie alle modernen Häfen war dieser inzwischen zu einer Stadt für sich geworden, einer Stadt, die nicht für Menschen gemacht war, sondern für Frachtgut. Der eigentliche Hafen war begrenzt und umzäunt, aber um diesen Kern herum hatte sich ergänzendes Gewerbe angesiedelt wie Bordelle um einen militärischen Stützpunkt: nachgeordnete Spediteure und Expediteure, LKW-Kollektive, die mit umgebauten Mehrachsern arbeiteten, undichte Öldepots. Wir ließen das alles schnell hinter uns — Jala wollte uns untergebracht wissen, bevor die Sonne unterging.

Bayur Bay selbst war ein Hufeisen aus öligem Salzwasser. Kais und Molen leckten daran wie Betonzungen. An die Küste grenzend, breitete sich das geordnete Chaos des Handels im großen Maßstab aus: die vor- und nachgeordneten Lagerhäuser und Stapelplätze, die Kräne, die sich wie riesige Gottesanbeterinnen an den Laderäumen der Containerschiffe gütlich taten. Wir hielten bei einem Wachhäuschen, und Jala reichte dem Posten irgendetwas durchs Wagenfenster — einen Passierschein, Bestechungsgeld, vielleicht beides. Der Posten winkte uns durch, Jala winkte liebenswürdig zurück und fuhr auf das Gelände innerhalb des Stahlzauns, brauste mit, wie mir schien, halsbrecherischer Geschwindigkeit an einer ganzen Reihe von CPO- und Avigas-Tanks vorbei. »Ich habe Ihnen hier eine Bleibe für die Nacht organisiert«, sagt er. »In einem der Lagerhäuser auf dem Dock E habe ich ein Büro. Da ist nur unbewehrter Beton drin, da stört Sie keiner. Morgen früh werde ich Diane Lawton dorthin bringen.«

»Und dann fahren wir ab?«

»Geduld. Sie sind nicht die Einzigen, die rantau machen — nur die Auffälligsten. Es könnte Komplikationen geben.«

»Welcher Art?«

»Na, die New Reformasi natürlich. Die Polizei durchkämmt das Hafengelände von Zeit zu Zeit, auf der Suche nach Illegalen und Bogenflüchtlingen. Meistens finden sie auch ein paar. Oder auch mehr als ein paar, je nachdem, wer die Hand aufgehalten hat und wie viel hineingeflossen ist. Im Moment gibt es großen Druck aus Jakarta, also wer weiß? Außerdem ist davon die Rede, dass es einen Arbeitskampf geben könnte — die Gewerkschaft der Stauer ist ausgesprochen militant. Wenn wir Glück haben, können wir ablegen, bevor der Konflikt beginnt. Sie müssen also für eine Nacht im Dunkeln auf dem Fußboden schlafen. Ina und En bringe ich fürs Erste zu den anderen Dorfbewohnern.«

»Nein«, sagte Ina bestimmt. »Ich bleibe hier bei Tyler.«

Jala sah sie an und sagte etwas auf Minang.

»Nicht lustig«, erwiderte sie. »Und auch nicht wahr.«

»Was dann? Du traust mir nicht zu, dass ich ihn sicher unterbringe?«

»Was habe ich je davon gehabt, dir zu trauen?«

Jala grinste. Seine Zähne waren tabakbraun. »Abenteuer.«

»Das kann man wohl sagen.«


Also landeten wir, Ibu Ina und ich, am Nordende eines Lagerhallenkomplexes etwas abseits der Docks, in einem trostlosen rechteckigen Raum, der einst, so Ina, als Büro des Zollaufsehers gedient hatte, bevor das Gebäude wegen anstehender Reparaturen am porösen Dach vorübergehend geschlossen worden war.

Eine Wand des Raums war ein Fenster aus drahtverstärktem Glas. Ich blickte hinab in einen tiefen, kahlen Stauraum, blass vom Betonstaub. Stützpfeiler aus Stahl ragten wie rostige Rippen aus einem schlammigen, von Pfützen übersäten Boden. Das einzige Licht kam von Sicherheitslampen, die in großen Abständen an den Wänden hingen. Insekten waren durch die Öffnungen des Gebäudes eingedrungen, schwärmten in Wolken um die vergitterten Glühbirnen, gingen ein, bildeten Haufen aus leblosen Hüllen. Es gelang Ina, eine Schreibtischlampe zum Leuchten zu bringen. Leere Pappkartons stapelten sich in einer Ecke. Ich faltete die trockensten auseinander und legte sie übereinander, um daraus zwei primitive Matratzen zu machen. Keine Decken. Aber es war eine sehr warme Nacht. Die Monsunzeit stand bevor.

»Glauben Sie, Sie können schlafen?«, fragte Ina.

»Ist nicht das Hilton, aber besser krieg ich’s nicht hin.«

»Oh, das meinte ich nicht. Ich spreche vom Lärm. Können Sie bei dem Lärm schlafen?«

Teluk Bayur stellte nachts keineswegs den Betrieb ein, das Beladen und Entladen dauerte vierundzwanzig Stunden am Tag. Sehen konnten wir es nicht, aber wir konnten es hören: das Geräusch von schweren Motoren und gequältem Metall und in Abständen das Donnern tonnenschwerer Frachtcontainer in Bewegung. »Hab schon unter schlimmeren Bedingungen geschlafen«, sagte ich.

»Das bezweifle ich, aber es ist nett, dass Sie es sagen.«

Zunächst schlief keiner von uns. Stattdessen saßen wir beim Schein der Schreibtischlampe und unterhielten uns sporadisch. Ina fragte nach Jason. Ich hatte ihr einige der längeren Abschnitte zu lesen gegeben, die ich während meiner Krankheit niedergeschrieben hatte. Jasons Übergang ins Vierte Alter, sagte sie, scheine weniger schwierig gewesen zu sein als meiner. Nein, erwiderte ich, ich hätte bei dieser Schilderung nur die Bettschüsseldetails weggelassen.

»Aber seine Erinnerung? Es gab keinen Verlust? Er hat sich keine Sorgen deswegen gemacht?«

»Er hat nicht viel darüber gesprochen. Bestimmt hat er sich Sorgen gemacht.« Einmal, als er gerade aus einem seiner Fieberanfälle auftauchte, hatte er sogar verlangt, ich solle sein Leben für ihn aufzeichnen: Schreib es für mich auf Ty, hatte er gesagt. Schreib es auf, falls ich alles vergesse.

»Aber keine Graphomanie bei ihm.«

»Nein, zu Schreibwut kommt es, wenn das Gehirn seine eigene Artikulationsfähigkeit neu zu vernetzen beginnt, aber es ist nur eines der möglichen Symptome. Die Geräusche, die er machte, waren vermutlich seine spezielle Manifestation dieses Vorgangs.«

»Das haben Sie von Wun Ngo Wen erfahren.«

Ja. Oder aus seinen medizinischen Archiven, die ich später studierte.

Ina war noch immer von dem Marsianer fasziniert. »Diese Warnung an die Vereinten Nationen, wegen Überbevölkerung und Ressourcenknappheit — hat Wun je mit Ihnen darüber gesprochen? Ich meine, in der Zeit, bevor…«

»Ich weiß. Ja, doch, ein bisschen.«

»Was hat er gesagt?«

Das war anlässlich einer unserer Unterhaltungen über das eigentliche Ziel der Hypothetischen gewesen. Wun hatte ein Diagramm aufgezeichnet, das ich jetzt für Ina auf dem staubigen Parkettboden reproduzierte: eine senkrechte und eine waagrechte Linie, die einen Graphen definierten. Die Senkrechte stand für Bevölkerungszahlen, die Waagerechte für die Zeit. Eine gezackte Kurve kreuzte mehr oder weniger horizontal über die Graphenebene.

»Entwicklung der Bevölkerung in der Zeit«, sagte Ina. »So viel verstehe ich. Aber was genau wird gemessen?«

»Jede Tierpopulation stellt ein relativ stabiles Ökosystem dar. Seien es Füchse in Alaska oder Brüllaffen in Belize. Die Population schwankt abhängig von äußeren Faktoren — ein besonders kalter Winter etwa oder eine Zunahme von natürlichen Feinden —, aber sie ist jedenfalls kurzfristig stabil.«

Was jedoch, hatte Wun gefragt, wenn wir eine intelligente, Werkzeuge gebrauchende Spezies über einen längeren Zeitraum betrachten? Ich malte Ina den gleichen Graphen noch einmal auf, nur diesmal bewegte sich die Kurve stetig nach oben.

»Was hier geschieht«, sagte ich, »ist, dass die Population, dass die Menschen lernen, ihre Fähigkeiten weiterzugeben. Dass sie nicht nur wissen, wie man Feuersteine schlägt, sondern dass sie auch anderen Menschen zeigen, wie man es macht und wie man die Arbeit ökonomisch aufteilt. Kooperation ergibt mehr zu essen. Die Bevölkerung wächst. Mehr Menschen kooperieren noch effizienter und entwickeln neue Fertigkeiten. Ackerbau. Viehhaltung. Lesen und Schreiben — was bedeutet, dass Fertigkeiten noch besser weitergegeben und sogar vererbt werden können an spätere Generationen.«

»Also verläuft die Kurve immer steiler — bis wir in uns selbst ertrinken.«

»Nicht zwangsläufig. Es gibt andere Kräfte, die die Kurve nach rechts ziehen. Wachsender Wohlstand und technisches Können wirken zu unseren Gunsten. Wohlgenährte, in Sicherheit lebende Menschen tendieren dazu, ihre Reproduktion zu begrenzen. Technologie und eine flexible Kultur geben ihnen die Mittel dazu. Letzten Endes, meinte jedenfalls Wun, wird die Kurve sich wieder nach rechts neigen.«

Ina schien verwirrt. »Dann gibt es also gar kein Problem? Keine Hungersnot, keine Überbevölkerung?«

»Unglücklicherweise ist die Bevölkerungskurve für die Erde noch weit davon entfernt, waagrecht zu verlaufen. Und wir haben es mit einschränkenden Bedingungen zu tun.«

»Einschränkende Bedingungen?«

Noch ein Diagramm. Eine Kurve, die wie ein kursives S verlief, am höchsten Punkt waagrecht. Darüber zeichnete ich zwei parallele horizontale Linien: die eine, mit A bezeichnete, ein gutes Stück über der Trendkurve, die andere, mit B bezeichnete, schnitt die Kurve im Aufschwung.

»Was sind das für Linien?«, fragte Ina.

»Beide kennzeichnen die Erhaltungsmöglichkeit des Planeten. Wie viel Ackerland zur Verfügung steht, Treibstoff und Rohstoffe, um die Technik am Laufen zu halten, saubere Luft, sauberes Wasser. Das Diagramm zeigt den Unterschied zwischen einer erfolgreichen und einer scheiternden intelligenten Spezies. Eine Spezies, die ihre größte Zahl unterhalb des Limits erreicht, hat das Potenzial, langfristig zu überleben. Und kann sich all den Dingen zuwenden, von denen die Science-Fiction-Autoren immer geträumt haben: ins Sonnensystem, in die Galaxis expandieren, Zeit und Raum manipulieren.«

»Wie großartig.«

»Immer sachte. Die Alternative ist unerfreulicher. Eine Spezies, die an die Nachhaltigkeitsgrenzen stößt, bevor sie ihre Bevölkerungszahl stabilisiert hat, ist höchstwahrscheinlich zum Untergang verurteilt. Hungersnöte, versagende Technik und ein Planet, der von der Zivilisation so erschöpft ist, dass er sich nicht mehr regenerieren kann.«

»Verstehe. Und was sind jetzt wir? Fall A oder Fall B? Hat Wun Ihnen das gesagt?«

»Alles, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass beide Planeten, die Erde wie der Mars, auf ihr jeweiliges Limit zusteuerten. Und dass die Hypothetischen intervenierten, bevor sie es überschreiten konnten.«

»Aber warum haben sie interveniert? Was erwarten sie von uns?«

Das war eine Frage, auf die Wuns Volk keine Antwort wusste. Genauso wenig wie wir.

Nein, das ist nicht ganz richtig: Jason Lawton hatte eine Art Antwort gefunden.

Aber ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen.


Ina gähnte. Ich verwischte die Zeichnungen auf dem staubigen Fußboden, und sie knipste die Schreibtischlampe aus. Die weit verstreuten Nachtlampen gaben ein erschöpftes Licht ab. Außerhalb der Lagerhalle ertönte etwa alle fünf Sekunden ein Geräusch, das wie der Schlag einer riesigen gedämpften Glocke anmutete.

»Ticktack«, sagte Ina, während sie sich auf ihrer Matratze aus schimmliger Pappe einrichtete. »Ich erinnere mich an die Zeit, als die Uhren noch tickten. Sie auch, Tyler? Diese altmodischen Uhren?«

»Meine Mutter hatte eine in der Küche.«

»Es gibt so viele Sorten Zeit. Die Zeit, nach der wir unser Leben messen. Monate und Jahre. Oder die große Zeit, die Zeit, die Berge wachsen und Sterne entstehen lässt. Oder all die Dinge, die zwischen zwei Herzschlägen geschehen. Es ist schwer, in all diesen Zeiten zu leben. Und leicht zu vergessen, dass man in allen lebt.«

Das metronomische Scheppern ging weiter.

Im trüben Licht konnte ich gerade noch ihr müdes Lächeln erkennen.

»Ich glaube, ein Leben ist genug für mich«, sagte sie.

Am Morgen erwachten wir vom Geräusch einer aufgerissenen Ziehharmonikatür, begleitet vom Einfall grellen Lichts. Jala rief nach uns.

Ich eilte die Treppe hinunter. Jala war schon in der Lagerhalle, Diane kam langsam hinter ihm her.

Ich trat näher und sagte ihren Namen.

Sie versuchte zu lächeln, aber sie hatte die Zähne zusammengebissen und ihr Gesicht war unnatürlich blass. Und ich bemerkte, dass sie ein zusammengefaltetes Tuch auf eine Stelle über ihrer Hüfte presste und dass sowohl das Tuch als auch ihre Baumwollbluse rot leuchteten vom Blut, das hindurchgesickert war.

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