Jason schlug vor, wir sollten uns Zimmer in Cocoa Beach nehmen und dort auf ihn warten, er werde dann am nächsten Tag zu uns stoßen. Er musste noch eine letzte Fragerunde mit den Medien bestreiten, hatte sich aber die Zeit vor den Starts freigehalten, weil er diese erleben wollte, ohne von einer CNN-Crew mit dümmlichen Fragen gelöchert zu werden.
»Toll«, sagte Diane, als ich diese Information an sie weitergab. »Dann kann ich ja all die dümmlichen Fragen selbst stellen.«
Es war mir gelungen, sie in Hinsicht auf Jasons Gesundheitszustand zu beruhigen: nein, er werde nicht sterben, und sofern es irgendwelche Signallichter in seiner Krankenakte gebe, sei das ganz allein seine Angelegenheit. Sie akzeptierte das, oder schien es jedenfalls zu akzeptieren, wollte ihn aber trotzdem sehen, und sei es nur, um sich Gewissheit zu verschaffen — als habe der Tod meiner Mutter ihren Glauben an die Fixsterne des Lawton-Universums nachhaltig erschüttert.
Also nutzte ich meinen Perihelion-Ausweis und meinen Kontakt zu Jase, um uns zwei benachbarte Suiten in einem Holiday Inn mit Ausblick auf Canaveral zu mieten. Nicht lange, nachdem das Mars-Projekt ersonnen und die Einwände der Umweltschutzbeauftragten gehört und ignoriert worden waren, hatte man ein Dutzend Flachwasser-Abschussrampen errichtet und vor der Küste von Merritt Island verankert. Es waren diese Bauwerke, die wir von unserem Hotel aus besonders gut sehen konnten. Ansonsten bestand die Aussicht aus Parkplätzen, Winterstränden, blauem Wasser.
Wir standen auf dem Balkon ihrer Suite. Sie hatte geduscht und sich umgezogen, und wir wollten jetzt nach unten gehen, um uns den Herausforderungen des Hotelrestaurants zu stellen. Auf allen anderen Baikonen, soweit wir sie sehen konnten, drängten sich die Kameras und Fotoobjektive — das Holiday Inn war ein ausgewiesenes Pressehotel (Simon mochte den säkularen Medien misstrauen, aber Diane war plötzlich mittendrin statt nur dabei). Wir konnten die untergehende Sonne nicht sehen, doch fiel ihr Licht auf die fernen Startrampen und Raketen, was diese eher ätherisch als real erscheinen ließ, wie eine Schwadron von Riesenrobotern, die zu irgendeiner Schlacht im Mittelatlantischen Graben abmarschierten. Diane trat einen Schritt von der Brüstung zurück, als würde sie der Anblick erschrecken. »Warum sind es denn bloß so viele?«
»Ökopoiesis mit der Schrotflinte«, erwiderte ich.
Sie lachte, es klang ein bisschen vorwurfsvoll. »Ist das ein Ausdruck von Jason?«
War es nicht, jedenfalls nicht ganz. »Ecopoiesis« war ein Ausdruck, der von einem gewissen Robert Haynes im Jahre 1990 geprägt wurde, zu einer Zeit, als Terraformung noch eine rein spekulative Wissenschaft war. Gemeint war streng genommen die Schaffung einer sich selbst regulierenden anaerobischen Biosphäre, wo vorher keine existiert hatte, doch der moderne Sprachgebrauch bezeichnete damit jede rein biologische Einwirkung auf den Mars. Zur Begrünung des Mars waren zwei Varianten des planetarischen Bauens erforderlich: grobe Terraformung, um die Oberflächentemperatur und den atmosphärischen Druck zu erhöhen, bis annehmbare Lebensbedingungen entstanden; und Ökopoiesis, die Verwendung von mikrobischem und pflanzlichem Leben, um den Boden aufzubereiten und die Luft mit Sauerstoff anzureichern.
Die schwere Arbeit hatte der Spin schon für uns erledigt: Sämtliche Planeten des Sonnensystems — mit Ausnahme der Erde — waren durch die Ausdehnung der Sonne beträchtlich erwärmt worden. Was zu tun blieb, war die Feinarbeit — Ökopoiesis. Freilich gab es eine Vielzahl möglicher Wege dahin, viele Kandidaten unter den einzusetzenden Organismen, von felsenbewohnenden Bakterien bis hin zu Hochgebirgsmoosen.
»Schrotflinte also deshalb«, spekulierte Diane, »weil ihr sie alle losschickt.«
»So viele, wie’s irgend geht, weil es bei keinem der Organismen eine Garantie gibt, dass er sich anpasst und überlebt. Einer aber schafft es womöglich.«
»Vielleicht mehr als einer.«
»Nichts gegen einzuwenden. Wir wollen ja ein Ökosystem, keine Monokultur.« Tatsächlich waren die Abschüsse zeitlich gestaffelt. Die erste Welle sollte nur anaerobe und photoautotrophe Organismen transportieren, simple Lebensformen, die keinen Sauerstoff benötigten und Energie aus Sonnenlicht gewannen. Sofern sie in ausreichend großer Anzahl gediehen und starben, würden sie eine Schicht von Biomasse schaffen, die komplexere Ökosysteme nähren konnte. Die nächste Welle, ein Jahr darauf, würde oxigenierende Organismen ins Spiel bringen, und mit den letzten unbemannten Abschüssen sollten primitive Pflanzen anreisen, um den Boden zu präparieren und Verdunstungs- und Niederschlagszyklen zu regulieren.
»Es kommt mir alles so unwahrscheinlich vor.«
»Na ja, wir leben auch in unwahrscheinlichen Zeiten. Aber du hast schon Recht, es gibt keine Garantie, dass es funktionieren wird.«
»Und wenn nicht?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Was hätten wir verloren?«
»Viel Geld. Viel Arbeitskraft.«
»Ich kann mir keine bessere Verwendung dafür vorstellen. Ja, es ist ein Vabanquespiel, alles andere als eine sichere Sache, aber der potenzielle Gewinn lohnt das Risiko in jedem Fall. Und es bringt allgemeinen Nutzen, bisher jedenfalls. Gut für die Moral zu Hause und eine günstige Gelegenheit, die internationale Zusammenarbeit zu fördern.«
»Aber ihr habt Leute in die Irre geführt. Ihr habt ihnen vorgegaukelt, dass der Spin etwas ist, das wir managen, das wir technisch in den Griff kriegen können.«
»Hoffnungen geweckt, meinst du.«
»Die falsche Sorte Hoffnung. Und wenn ihr scheitert, bleibt ihnen überhaupt keine Hoffnung mehr.«
»Was sollen wir denn deiner Ansicht nach tun, Diane? Uns auf unsere Gebetsteppiche zurückziehen?«
»Es würde sicherlich nicht bedeuten, dass man seine Niederlage eingesteht — das Beten, meine ich. Und wenn ihr erfolgreich seid, ist der nächste Schritt, Menschen loszuschicken?«
»Ja, wenn wir den Planeten begrünen können, schicken wir Menschen.« Ein viel schwierigeres, ethisch komplexes Vorhaben. Wir würden die Kandidaten in Zehnergruppen auf den Weg bringen. Sie würden eine unvorhersehbar lange Reise in engster Umgebung mit begrenzten Vorräten ertragen müssen. Sie würden ein atmosphärisches Abbremsen von nahezu tödlichem Delta v nach Monaten der Schwerelosigkeit zu erleiden haben, gefolgt von einem gefährlichen Abstieg zur Planetenoberfläche. Falls all das funktionierte und falls ihre karg bemessene Überlebensausrüstung den parallelen Abstieg schaffte und halbwegs in ihrer Nähe landete, würden sie als Nächstes Techniken und Fähigkeiten entwickeln müssen, um in einer Umgebung zu überdauern, die für eine menschliche Besiedlung nicht annähernd geeignet war. Ihre Mission bestand nicht darin, zur Erde zurückzukehren, sondern lange genug zu leben, um sich in ausreichender Zahl zu vermehren und ihren Nachkommen tragfähige Existenzbedingungen zu hinterlassen.
»Welcher zurechnungsfähige Mensch würde sich darauf einlassen?«
»Du würdest dich wundern.« Ich konnte zwar nicht für die Chinesen, die Russen oder irgendwelche anderen internationalen Freiwilligen sprechen, aber die nordamerikanischen Expeditionskandidaten waren ganz gewöhnliche, ja geradezu schockierend normale Männer und Frauen. Sie waren ausgewählt worden auf Grund ihrer Jugend, ihrer körperlichen Robustheit und ihrer Fähigkeit, Unannehmlichkeiten auch über längere Zeit zu ertragen. Nur wenige von ihnen waren Testpiloten bei der Airforce gewesen, aber alle besaßen das, was Jason als die »Testpilotenmentalität« bezeichnete, nämlich die Bereitschaft, ein gravierendes Risiko für Leib und Leben einzugehen, um etwas Spektakuläres zu erreichen. Und natürlich waren die meisten von ihnen dem Tode geweiht, ebenso wie die Mehrzahl der Bakterien, die wir nach oben schicken würden. Das Äußerste, was wir hoffen durften, war, dass eine Gruppe Überlebender, die durch die hoffentlich bemoosten Schluchten der Valles Marineris wanderte, auf eine ähnliche Gruppe von Russen oder Dänen oder Kanadiern treffen und eine lebensfähige marsianische Menschheit auf den Weg bringen würde.
»Und das kannst du alles gutheißen?«
»Mich hat niemand nach meiner Meinung gefragt. Aber ich wünsche ihnen alles Gute.«
Diane warf mir einen Das-reicht-nicht-Blick zu, entschied sich aber, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter ins Foyer-Restaurant. Schon als wir uns hinter einem Dutzend von Fernsehtechnikern anstellten, um einen Tisch zugewiesen zu bekommen, muss sie die wachsende Erregung gespürt haben, und nachdem wir bestellt hatten, wandte sie den Kopf, lauschte nach Bruchstücken der Unterhaltungen ringsum — Wörter wie »Photodissoziation«, »kryptoendolithisch« und, ja, auch »Ökopoiesis« wehten von den Tischen der gedrängt sitzenden Journalisten herüber, die sich schon mal in den Jargon für den nächsten Tag einübten oder sich einfach zu verstehen mühten, wovon die Rede war. Dies war das erste Mal seit der Mondlandung vor über sechzig Jahren, dass die Aufmerksamkeit der Welt sich so ausschließlich auf ein Raumfahrtabenteuer konzentrierte, und der Spin verlieh dieser Zweitauflage etwas, das der Mondlandung gefehlt hatte: echte Dringlichkeit, ein globales Bewusstsein für das Risiko.
»Das alles ist Jasons Werk, nicht wahr?«
»Schon möglich, dass es auch ohne Jason und E. D. passieren würde. Aber es würde ganz anders vor sich gehen, vermutlich lange nicht so schnell und so effizient. Jase war von Anfang an im Zentrum des Geschehens.«
»Und wir an der Peripherie. Kreisen immerzu um das Genie herum. Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich hab ein bisschen Angst vor ihm. Ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich weiß, dass er mich ablehnt.«
»Nicht dich. Deinen Lebensstil vielleicht.«
»Du meinst meinen Glauben. Es ist okay, darüber zu reden. Ich weiß, dass Jase sich ein bisschen… ja, betrogen fühlt. Aber zu Unrecht. Jason und ich sind nie demselben Weg gefolgt.«
»Im Grunde, weißt du, ist er immer noch einfach Jase. Der gute alte Jase.«
»Aber bin ich auch noch die gute alte Diane?«
Worauf ich nichts zu erwidern wusste.
Sie aß mit großem Appetit, und nach dem Hauptgericht bestellten wir noch Nachtisch und Kaffee. Ich sagte: »Was für ein Glück, dass du dir hierfür Zeit nehmen konntest.«
»Ein Glück, dass Simon mich von der Leine gelassen hat?«
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Ich weiß. Aber in gewisser Weise ist es so. Simon hat mitunter einen Hang zum Kontrollieren. Er weiß gern, wo ich bin.«
»Ist das ein Problem für dich?«
»Du meinst, ist meine Ehe in Schwierigkeiten? Nein, ist sie nicht, und das würde ich auch nicht zulassen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht hin und wieder verschiedener Meinung wären.« Sie zögerte. »Wenn ich darüber rede, erzähl ich es dir, okay? Nicht Jason. Nur dir.«
Ich nickte.
»Simon hat sich ein bisschen verändert, seit du ihm begegnet bist. Haben wir alle, alle, die in den alten NK-Tagen dabei waren. Bei NK ging es darum, jung zu sein und eine Gemeinschaft des Glaubens zu errichten, so etwas wie einen heiligen Raum, wo wir keine Angst voreinander haben mussten, wo wir einander umarmen konnten, nicht nur im bildlichen Sinne, sondern tatsächlich. Der Garten Eden auf Erden. Aber wir hatten uns etwas vorgemacht. Wir dachten, AIDS würde keine Rolle spielen, Eifersucht würde keine Rolle spielen — konnten sie ja gar nicht, weil wir das Ende der Welt erreicht hatten. Aber die Trübsalzeit ist lang, Ty. Die Trübsal ist Arbeit für ein ganzes Leben, und dafür müssen wir gesund und stark sein.«
»Du und Simon…«
»Oh, wir sind gesund.« Sie lächelte. »Danke der Nachfrage, Dr. Dupree. Aber wir haben Freunde an AIDS und an Drogen verloren. Die Bewegung war eine Achterbahnfahrt, Liebe auf dem Weg nach oben und Trauer auf dem Weg nach unten. Das wird dir jeder sagen, der dabei war.«
Gut möglich, aber Diane war die einzige NK-Veteranin, die ich kannte. »Die letzten Jahre waren für niemanden leicht.«
»Simon hat sich schwer getan, damit fertig zu werden. Er glaubte wirklich, wir wären eine gesegnete Generation. Einmal hat er mir erzählt, dass Gott sich der Menschheit so weit genähert habe, dass es einem vorkomme, als würde man in einer Winternacht neben einem Ofen sitzen und könne sich praktisch die Hände am Königreich des Himmels wärmen. Wir haben alle so empfunden, aber bei Simon hat es wirklich das Beste in ihm hervorgebracht. Und als dann alles zerfiel, als so viele von unseren Freunden krank wurden oder in diese oder jene Abhängigkeit abdrifteten, da hat ihn das ziemlich tief getroffen. Das war auch die Zeit, als das Geld allmählich knapp wurde und Simon sich eine Arbeit suchen musste — wir beide mussten das. Ich hab ein paar Jahre lang aushilfsweise gearbeitet. Simon konnte keinen säkularen Job finden — er ist jetzt Hausmeister in unserer Kirche in Tempe, Jordan Tabernacle heißt sie, und sie bezahlen ihn, wenn sie können… Er lernt gerade für sein Installateurszeugnis.«
»Nicht gerade das Gelobte Land.«
»Ja, aber weißt du was? Ich glaube, so ist es auch nicht gedacht. Das sage ich ihm immer wieder. Vielleicht spüren wir, wie das Tausendjährige Reich sich nähert, aber es ist noch nicht da — wir müssen immer noch die letzten Minuten des Spiels zu Ende spielen, auch wenn das Ergebnis schon feststeht. Und vielleicht werden wir danach beurteilt. Wir müssen so spielen, als käme es noch darauf an.«
Wir fuhren hinauf zu unseren Zimmern. Diane blieb vor ihrer Tür stehen und sagte: »Jetzt merke ich wieder, wie gut es tut, mit dir zu reden. Wir konnten uns schon früher immer gut unterhalten, weißt du noch?«
Hatten uns unsere Ängste über das keusche Medium des Telefons anvertraut. Intimität auf große Entfernung. Das war ihr immer lieber gewesen. Ich nickte.
»Vielleicht können wir das wieder so machen«, sagte sie. »Vielleicht kann ich dich ab und zu von Arizona aus anrufen.«
Sie würde natürlich mich anrufen, weil es Simon womöglich nicht gefallen würde, wenn ich sie anriefe, das war klar. Ebenso wie der Charakter der Beziehung, die sie vorschlug. Ich sollte der platonische Kumpel sein, jemand Harmloses, dem man sich in schwierigen Zeiten anvertrauen kann, wie der schwule Freund der Hauptdarstellerin in einem Hollywoodfilm. Wir würden plaudern. Uns dies und jenes erzählen. Niemand würde irgendjemand wehtun.
Es war nicht das, was ich wollte oder brauchte. Aber das konnte ich dem etwas verlorenen, bittenden Blick, der auf mich gerichtet war, nicht entgegenschleudern. Stattdessen sagte ich: »Ja, natürlich.«
Sie grinste und umarmte mich und ließ mich im Flur stehen.
Ich blieb länger auf, als vernünftig gewesen wäre, hätschelte, eingebettet in Lärm und Gelächter aus angrenzenden Zimmern, meine angeschlagene Würde und dachte an all die Wissenschaftler und Ingenieure bei Perihelion, JPL und Kennedy, all die Zeitungsleute und Videojournalisten, die die Scheinwerfereffekte über den Raketen beobachteten, dachte an uns alle, die wir hier am äußersten Ende der Menschheitsgeschichte unsere Arbeit erledigten, die wir das machten, was von uns erwartet wurde: das Spiel zu Ende spielen, als komme es darauf noch an.
Jason traf am Mittag des folgenden Tages ein, zehn Stunden, bevor die erste Abschusswelle angesetzt war. Das Wetter war angenehm, heiter und windstill, ein gutes Omen. Unter all den über den Globus verteilten Raketenstartplätzen fiel lediglich der erweiterte Kourou-Komplex der Europäischen Raumfahrtbehörde in Französisch-Guayana aus, der infolge eines heftigen Märzsturmes gesperrt werden musste (die ESA-Mikroorganismen würden einen oder zwei Tage aufgehalten werden — oder eine halbe Million Jahre nach Spin-Zeit).
Jason kam geradewegs zu meiner Suite, wo Diane und ich auf ihn warteten. Er trug eine billige Plastikwindjacke und eine Marlins-Mütze, die er sich zur Tarnung tief ins Gesicht gezogen hatte. »Tyler«, sagte er, als ich die Tür aufmachte. »Tut mir Leid. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich dagewesen.«
Bei der Trauerfeier. »Ich weiß.«
»Belinda Dupree war das Beste am ganzen Großen Haus. Das ist mein voller Ernst.«
»Ich danke dir«, sagte ich und trat beiseite.
Diane näherte sich mit einem wachsamen Gesichtsausdruck. Jason machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einen Meter auseinander und musterten sich. Das Schweigen lastete schwer. Jason war derjenige, der es brach. »Mit diesem Kragen«, sagte er, »siehst du aus wie ein viktorianischer Bankier. Und du solltest ein bisschen zunehmen. Ist es so schwer, eine vernünftige Mahlzeit zu bekommen im Land der Kühe?«
»Mehr Kakteen als Kühe, Jase.«
Und dann lachten sie und fielen einander in die Arme.
Nach Einbruch der Dunkelheit setzten wir uns auf den Balkon und bestellten beim Zimmerservice ein Rohkost-Tablett (Dianes Wahl). Die Nacht war so dunkel wie jede andere Sternenlose, spinverhüllte Nacht, aber die Startrampen wurden von gigantischen Scheinwerfern erleuchtet und ihre Spiegelungen tanzten in der sanften Dünung.
Jason ging jetzt seit einigen Wochen zu einem Neurologen. Die Diagnose des Spezialisten stimmte mit meiner überein: Jason litt an einer schweren und nicht auf Medikation ansprechenden multiplen Sklerose, und die einzig sinnvolle Behandlung war die Verordnung von Palliativen. Der Neurologe hatte sogar die Absicht gehabt, Jasons Fall den Gesundheitsämtern vorzustellen für deren laufende Studie über die bisweilen so bezeichnete AMS — atypische multiple Sklerose —, aber Jason hatte ihm das, mit Hilfe von Drohungen oder Bestechung, ausgeredet. Und vorläufig verschaffte ihm der neue pharmazeutische Cocktail eine stabile Remission — er war funktionstüchtig und beweglich wie zu besten Zeiten. Sollte Diane irgendeinen Verdacht gehegt haben, so wurde er rasch zerstreut.
Er hatte eine Flasche teuren, original französischen Champagner mitgebracht, um die Raketenstarts zu feiern. »Wir hätten auch VIP-Plätze haben können«, erklärte ich Diane. »Exklusive Sitzreihen vor dem Vehicle Assembly Building. Ellbogen reiben mit Präsident Garland.«
»Ach, wir haben einen guten Blick von hier«, sagte Jason. »Und der Vorteil ist, dass wir nicht als Requisiten für spektakuläre Fotos herhalten müssen.«
Diane zog einen Flunsch. »Ich bin noch nie einem Präsidenten begegnet.«
Der Himmel war natürlich dunkel, aber im Fernsehen — wir hatten den Apparat im Hotelzimmer laut aufgedreht, um den Countdown zu hören — wurde über die Spin-Barriere gesprochen, und Diane blickte nach oben, als sei diese plötzlich sichtbar geworden: der Deckel, der die Welt verschloss. Jason sah, wie sie den Kopf zurücklegte. »Sie sollten nicht mehr Barriere dazu sagen«, brummte er. »Keine der Fachzeitschriften tut das noch.«
»Ach? Und wie sagen die dazu?«
Er räusperte sich. »Sie bezeichnen es als ›seltsame Membran‹.«
»O nein.« Diane lachte. »Nein, das ist ja schrecklich. Völlig unakzeptabel. Es klingt wie ein gynäkologisches Leiden.«
»Ja, aber ›Barriere‹ ist nicht korrekt. Es ist mehr wie eine begrenzende Schicht. Keine Grenzlinie, die man überschreitet. Es nimmt selektiv Objekte auf und beschleunigt sie ins äußere Universum. Der Vorgang ähnelt mehr einer Osmose als, sagen wir, dem Durchbrechen eines Zauns. Ergo Membran.«
»Ich hatte ganz vergessen, wie es ist, sich mit dir zu unterhalten, Jase. Es wird leicht ein bisschen surreal.«
»Still jetzt«, sagte ich. »Hört zu.«
Das Fernsehen hatte zur NASA-Leitung hinübergeschaltet; zu hören war eine ausdruckslose Kontrollzentrumsstimme, die rückwärts zählte. Dreißig Sekunden. Zwölf Raketen standen aufgetankt und startbereit auf ihren Rampen. Zwölf simultane Raketenstarts, ein Unternehmen, das eine weniger ehrgeizige Raumfahrtbehörde als unausführbar und extrem gefährlich bewertet hätte. Aber wir lebten eben in risikofreudigen Zeiten.
»Warum müssen sie alle gleichzeitig aufsteigen?«, fragte Diane.
»Weil«, setzte Jason an, dann sagte er: »Nein, warte. Schau erst mal zu.«
Zwanzig Sekunden. Zehn. Jason stand auf und lehnte sich gegen die Balkonbrüstung. Die Hotelbalkone waren überlaufen. Der Strand war überlaufen. Tausend Köpfe und Objektive schwenkten in die gleiche Richtung. Schätzungen sprachen später von annähernd zwei Millionen Menschen im und um das Cape herum. Nach Polizeiberichten wurden in jener Nacht einhundert Brieftaschen entwendet. Es gab zwei Messerstechereien mit tödlichem Ausgang, fünfzehn versuchte Körperverletzungen und Vergewaltigungen und eine Frühgeburt (das Kind, ein Mädchen von vier Pfund, kam auf einer Tischplatte im International House of Pancakes in Cocoa Beach zur Welt).
Fünf Sekunden. Der Fernseher wurde still. Für einen Moment gab es kein Geräusch mehr außer dem Surren und Jaulen der Fotoapparate.
Dann plötzlich stand das Meer bis zum Horizont in Flammen.
Einzeln hätte keine dieser Raketen eine größere Menge beeindrucken können, selbst im Dunkeln nicht, aber jetzt gab es nicht nur eine Flammensäule, sondern fünf, sieben, zehn, zwölf. Die Startrampen wirkten vor dem dunklen Hintergrund kurzzeitig wie skelettierte Wolkenkratzer, bevor sie hinter Schwaden von verdampftem Meerwasser verschwanden. Zwölf Pfeiler aus weißem Feuer, Kilometer voneinander entfernt, aber perspektivisch zusammengerückt, stießen in einen Himmel, der von ihrem vereinten Licht indigoblau gefärbt wurde. Das Strandpublikum begann zu jubeln, und die Rufe verschmolzen mit dem Geräusch der Feststoffantriebe, die dröhnend Höhe suchten, ein dumpfes Hämmern, das einem das Herz zusammenpresste wie in Ekstase oder höchster Angst. Aber es war nicht nur das reine Spektakel, das wir bejubelten. Sicherlich hatte jeder von uns schon einmal einen Raketenstart gesehen, zumindest im Fernsehen, und obwohl dieser Massenstart großartig und laut war, lag das Bemerkenswerte hauptsächlich in seinem Ziel, in der zugrunde liegenden Idee: Wir waren nicht einfach nur im Begriff, die Fahne irdischen Lebens auf dem Mars zu hissen — wir widersetzten uns dem Spin.
Die Raketen stiegen auf (und als ich einen Blick durch die Balkontür warf, schossen auf dem Bildschirm ähnliche Raketen in den bewölkten Tageshimmel von Jiuquan, Svobodny, Baikonur und Xichang). Das grelle Licht legte sich in die Schräge und begann zu verblassen, während die Nacht vom Meer her zurückgeschwemmt kam. Der Lärm verbrauchte sich in Sand, Beton und kochendem Salzwasser. Ich meinte Feuerwerkskörper riechen zu können, die mit der Flut an den Strand getragen wurden, mir war, als sei es der angenehm schreckliche Gestank von Funken sprühenden Römischen Kerzen.
Tausend Kameras klickten wie sterbende Grillen und verstummten schließlich.
Der Jubel dauerte, in dieser oder jener Form, bis in die frühen Morgenstunden an.
Wir gingen ins Zimmer zurück, zogen die Jalousien vor die ernüchternde Dunkelheit und öffneten den Champagner. Wir sahen die Nachrichten aus Übersee — abgesehen vom französischen Regenaufschub waren alle Starts erfolgreich gewesen. Eine bakterielle Armada hatte Kurs auf den Mars genommen.
»Also, warum müssen sie denn nun alle gleichzeitig nach oben?«, fragte Diane erneut.
Jason warf ihr einen gedankenvollen Blick zu. »Weil sie ihr Ziel alle ungefähr zur gleichen Zeit erreichen sollen. Was durchaus nicht so einfach ist, wie es klingt. Sie müssen mehr oder weniger simultan in die Spin-Membran eintreten, andernfalls wären sie beim Austritt um Jahre oder sogar Jahrhunderte getrennt. Bei dieser anaerobischen Fracht ist das noch nicht so entscheidend, aber wir üben schon mal für die Zukunft, wenn es wirklich darauf ankommt.«
»Jahre oder Jahrhunderte? Wie ist das möglich?«
»Die Natur des Spins, Diane.«
»Sicher, aber Jahrhunderte?«
Er drehte seinen Stuhl in ihre Richtung, die Stirn gerunzelt. »Ich versuche gerade das Ausmaß deiner Unwissenheit zu ermessen…«
»Es ist nur eine Frage, Jase.«
»Zähl mir mal eine Sekunde vor.«
»Was?«
»Guck auf deine Armbanduhr und zähl mir eine Sekunde vor. Nein, ich mach es. Achtung: ein-und-zwan-zig. Eine Sekunde. Klar?«
»Jason…«
»Hab ein bisschen Geduld. Über das Spin-Verhältnis bist du dir im Klaren?«
»So ungefähr.«
»Ungefähr reicht nicht. Eine terrestrische Sekunde entspricht 3,17 Jahren Spin-Zeit. Falls also eine unserer Raketen nur eine Sekunde nach den anderen in die Spin-Membran eintritt, erreicht sie die Umlaufbahn mehr als drei Jahre zu spät.«
»Nur weil ich bestimmte Zahlen nicht aufsagen kann…«
»Wichtige Zahlen, Diane. Angenommen, unsere Flotte ist gerade aus der Membran herausgekommen, genau jetzt.« Er stieß einen Finger durch die Luft. »Eine Sekunde, hier und weg. Für die Flotte waren das drei Jahre und ein paar Zerquetschte. Vor einer Sekunde waren sie in der Erdumlaufbahn, jetzt haben sie ihre Fracht auf der Marsoberfläche abgeliefert. Ich meine jetzt, Diane, buchstäblich jetzt, in diesem Augenblick. Es ist schon geschehen, es ist vollbracht. Lass also eine Minute auf deiner Uhr vergehen. Das wären ungefähr hundertneunzig Jahre auf einer Uhr dort draußen.«
»Das ist natürlich eine Menge, aber du kannst einen Planeten nicht in zweihundert Jahren völlig umwandeln, oder?«
»Im Moment läuft unser Experiment also seit zweihundert Spin-Jahren. In diesem Augenblick, beziehungsweise gerade eben, haben diejenigen bakteriellen Kolonien, die die Reise überlebt haben, sich seit zwei Jahrhunderten auf dem Mars fortgepflanzt. In einer Stunde werden sie seit elftausendvierhundert Jahren dort gewesen sein. Morgen um diese Zeit werden sie sich seit fast zweihundertvierundsiebzigtausend Jahren vermehrt haben.«
»Okay, Jase, ich begreife das Prinzip.«
»Nächste Woche um diese Zeit, 1,9 Millionen Jahre.«
»Okay.«
»In einem Monat, 8,3 Millionen Jahre.«
»Jason!«
»Nächstes Jahr um diese Zeit, einhundert Millionen Jahre.«
»Ja, aber…«
»Auf der Erde sind hundert Millionen Jahre ungefähr die Zeitspanne zwischen dem Hervortreten des Lebens aus dem Meer und deinem letzten Geburtstag. Einhundert Millionen Jahre reichen für diese Mikroorganismen aus, um Kohlendioxid aus den Kohlensäureablagerungen in der Kruste zu pumpen, Stickstoff aus Nitraten auszulaugen, Oxide aus dem Regolith freizusetzen und es anzureichern, indem sie in großen Massen sterben. Das freigesetzte CO2 wirkt als Treibhausgas. Die Atmosphäre wird dichter und wärmer. In einem Jahr schicken wir eine Armada aus atmenden Organismen, und die werden damit beginnen, CO2 in freien Sauerstoff umzuwandeln. Nach einem weiteren Jahr — oder sobald wir die entsprechende Spektralsignatur erkennen — führen wir Gräser, Pflanzen, andere komplexe Organismen ein. Und wenn sich auf diese Weise so etwas wie eine grob homöostatische planetarische Ökologie stabilisiert, schicken wir Menschen los. Weißt du, was das bedeutet?«
»Sag es mir«, sagte Diane missmutig.
»Es bedeutet, dass es innerhalb von fünf Jahren eine blühende menschliche Zivilisation auf dem Mars geben wird. Farmen, Fabriken, Straßen, Städte…«
»Dafür gibt es ein griechisches Wort, Jase.«
»Ja, Ecopoiesis.«
»Ich hatte mehr an ›Hybris‹ gedacht.«
Er lächelte. »Ich mache mir über vieles Gedanken. Aber ganz gewiss nicht darüber, ob ich gegen die Götter frevle.«
»Oder gegen die Hypothetischen?«
Das ließ ihn innehalten. Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von seinem schon etwas abgestandenen Champagner. »Ich habe keine Angst, sie gegen mich aufzubringen«, sagte er schließlich. »Im Gegenteil. Wir tun vielleicht genau das, was sie von uns erwarten.«
Er erklärte sich nicht weiter dazu, und Diane nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
Am nächsten Tag fuhr ich Diane nach Orlando, wo ihr Flugzeug nach Phoenix wartete.
Im Verlauf der letzten Tage war klar geworden, dass von der körperlichen Intimität, die wir in jener Nacht in den Berkshires, vor ihrer Heirat mit Simon, geteilt hatten, nicht mehr die Rede sein würde, weder in Andeutungen noch gar explizit. Gewürdigt wurde dieses Thema allenfalls in den halsbrecherischen Kapriolen, die unsere Unterhaltung mitunter schlagen musste, um es zu umgehen. Als wir uns vor der Sicherheitsschleuse des Flughafens ungelenk umarmten, sagte sie: »Ich ruf dich an«, und ich wusste, sie würde es auch tun — Diane machte wenige Versprechungen, nahm es mit diesen jedoch sehr genau —, aber ebenso war mir bewusst, wie viel Zeit vergangen war, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, und wie viel Zeit vergehen würde, bevor ich sie wiedersah: keine Spin-Zeit zwar, aber etwas genauso unter den Händen Zerfallendes, etwas genauso Verzehrendes. Da waren kleine Falten um ihre Augen, um den Mund herum, nicht unähnlich denen, die ich jeden Morgen im Spiegel sah.
Verblüffend, dachte ich, wie geschäftig wir uns in Menschen verwandelt hatten, die einander nicht besonders gut kannten.
Es gab weitere Raketenstarts im Frühling und Sommer jenen Jahres, mit Beobachtungsgeräten im Gepäck, die Monate in einer hohen Erdumlaufbahn verbrachten und mit visuellen und spektralen Bildern vom Mars zurückkehrten — Schnappschüsse der Ökopoiesis.
Die ersten Ergebnisse waren nicht eindeutig: ein moderater Anstieg des atmosphärischen CO2-Gehalts, was aber auch ein Nebeneffekt der Sonnenerwärmung sein konnte. Der Mars blieb, wenn man auch nur halbwegs plausible Maßstäbe anlegte, eine kalte, unwirtliche Welt. Jason räumte ein, dass sich die GEMOs — die genetisch veränderten Marsorganismen, die den Löwenanteil der ersten Saatgutfracht gestellt hatten — womöglich nicht gut an die tagsüber herrschende UV-Strahlung und den an oxydierenden Agenzien reichen Regolith des Planeten angepasst hätten.
Aber im Hochsommer sahen wir dann starke spektrographische Hinweise auf biologische Aktivität. Da war mehr Wasserdampf in einer dichteren Atmosphäre, mehr Methan, Äthan und Ozon, sogar ein winziger, aber nachweisbarer Zuwachs an freiem Stickstoff.
Bis Weihnachten waren diese, wenn auch noch immer subtilen, Veränderungen so dramatisch über das Niveau dessen hinausgewachsen, was der solaren Erwärmung hätte zugeschrieben werden können, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte: Der Mars war ein lebendiger Planet geworden.
Die Startrampen wurden erneut bereitgemacht, neue Frachten mikrobischen Lebens waren gezüchtet und verpackt. Volle zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts der USA fielen in diesem Jahr auf spinbezogene Raumfahrtprogramme — in anderen Industrieländern war der Anteil ähnlich hoch.
Im Februar erlitt Jason einen Rückfall. Als er aufwachte, konnte er nicht mehr beide Augen gleichzeitig fokussieren. Sein Neurologe veränderte die Medikation und verordnete ihm vorübergehend eine Augenklappe. Jason erholte sich rasch, konnte aber fast eine Woche lang nicht zur Arbeit gehen.
Diane stand zu ihrem Wort. Sie begann, mich mindestens einmal im Monat anzurufen, meistens noch häufiger, oft spät Abends, wenn Simon am anderen Ende ihrer kleinen Wohnung schon schlief. Sie hatten ein paar Zimmer über einem Antiquariat in Tempe, das Äußerste, was sie sich leisten konnten von Dianes Gehalt und den unregelmäßigen Einkünften, die Simon vom Jordan Tabernacle nach Hause brachte. Bei warmem Wetter konnte ich im Hintergrund das Summen der primitiven Klimaanlage hören; im Winter lief das Radio leise mit, um das Geräusch ihrer Stimme zu tarnen.
Ich lud sie ein, anlässlich der nächsten Startserie wieder nach Florida zu kommen, aber das konnte sie natürlich nicht einrichten: sie musste arbeiten, sie hatten am Wochenende Freunde von der Kirche zu Gast, Simon würde kein Verständnis dafür haben. »Simon macht eine kleine spirituelle Krise durch. Er versucht mit dem Messias-Problem klarzukommen.«
»Es gibt ein Messias-Problem?«
»Du solltest mal in die Zeitungen gucken«, sagte Diane, die offenbar eine etwas unrealistische Vorstellung davon hatte, inwieweit solche religiösen Streitfragen Thema in der kommerziellen Presse wurden, jedenfalls in Florida; drüben im Westen mochte es anders sein. »Die alte NK-Bewegung glaubte an eine Parusie ohne Christus. Das hat uns von den anderen abgehoben.« Das, dachte ich, und ihre Vorliebe für öffentliche Nacktheit. »Die frühen Autoren, Ratel und Greengage, sahen im Spin eine direkte Erfüllung der biblischen Prophezeiung — und das hieß, dass die Prophezeiung selbst neu definiert, von den historischen Ereignissen neu konfiguriert wurde. Es musste keine Trübsalszeit im wörtlichen Sinne mehr geben und nicht einmal eine physische Wiederkunft Christi. Das ganze Zeug in den Briefen an die Thessalonicher, an die Korinther und im Buch der Offenbarung konnte neu interpretiert oder ignoriert werden, denn der Spin war ein echter Eingriff Gottes in die Geschichte der Menschheit — ein greifbares Wunder, das Vorrang gegenüber der Schrift hat. So war uns die Freiheit gegeben, das Königreich auf Erden zu schaffen. Plötzlich waren wir selbst für unseren Chiliasmus verantwortlich.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.« Tatsächlich hatte ich, seit das Wort »Parusie« gefallen war, mehr oder weniger nur noch Bahnhof verstanden.
»Es bedeutet — na ja, wichtig ist eigentlich nur, dass Jordan Tabernacle, unsere kleine Kirche, jeglicher NK-Doktrin offiziell abgeschworen hat, obwohl die Gemeinde zur Hälfte aus ehemaligen NK-Leuten wie Simon und mir besteht. Plötzlich gibt es also diesen ganzen Streit über die Trübsalszeit und darüber, wie sich der Spin zur biblischen Prophezeiung verhält. Und die Leute schlagen sich auf diese oder jene Seite. Bereaner gegen Progressive, Covenanter gegen Preteristen. Gibt es einen Antichrist, und wenn ja, wo ist er? Erfolgt die Entrückung vor der Trübsalszeit, währenddessen oder danach? Solche Themen. Vielleicht klingt es banal, aber die spirituellen Einsätze sind hoch und die Leute, die in diese Diskussionen verwickelt sind, stehen uns nahe, sind unsere Freunde.«
»Wo stehst du denn?«
»Ich persönlich?« Sie schwieg, und da war es wieder, das murmelnde Geräusch des Radios im Hintergrund, die Valiumstimme eines Sprechers, der die Spätnachrichten verlas: Neueste Informationen über die Schießerei in Mesa… Parusie ja oder nein. »Man könnte sagen, ich bin im Konflikt. Ich weiß nicht, was ich glaube. Manchmal vermisse ich die alten Zeiten. Das Paradies erfinden, während man das Leben lebt. Es scheint, als wäre…« Sie hielt inne. Jetzt war da noch eine andere Stimme, die das Murmeln des Radios verdoppelte: Diane? Bist du immer noch auf?
»Tut mir Leid«, flüsterte sie. Simon auf Kontrollgang. Es war Zeit, unser telefonisches Stelldichein, ihren Akt körperloser Untreue, abzubrechen. »Ich ruf dich bald wieder an.«
Sie legte auf, bevor ich mich verabschieden konnte.
Die zweite Serie Saatguttransporte ging so reibungslos vonstatten wie die erste. Wieder wurde Canaveral von den Medien belagert, aber diesmal verfolgte ich das Ereignis auf einer großen Digitalprojektion im Perihelion-Auditorium. Es war ein Start bei Sonnenschein, und er ließ die Reiher in den Himmel über Merritt Island flattern wie helles Konfetti.
Ein weiterer Sommer des Wartens. Die europäische Weltraumbehörde ESA platzierte eine Reihe orbitaler Teleskope und Interferometer im Weltraum, und im September waren sämtliche Büros bei Perihelion mit hochauflösenden Bildern unseres Erfolges tapeziert. Ich rahmte mir eines davon für das Wartezimmer: eine farbgenerierte Wiedergabe des Mars, ein Ausschnitt, der Olympus Mons als eisige Silhouette zeigte, durchschnitten von frischen Entwässerungskanälen; Nebel, der wie Wasser durch Valles Marineris floss, grüne Kapillaren, die sich über Solis Lacus schlängelten. Das südliche Hochland der Terra Strenum war immer noch Wüste, aber die Krater dieser Region waren unter dem Einfluss eines feuchteren, windigeren Klimas fast bis zur Unsichtbarkeit erodiert.
Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre schwankte einige Monate lang, weil die Population der aeroben Organismen mal wuchs, mal wieder schrumpfte, aber im Dezember hatte er zwanzig Millibar überschritten und stabilisierte sich. Inmitten einer potenziell chaotischen Mischung von Treibhausgasen, eines instabilen hydrologischen Kreislaufs und neuartiger biogeochemischer Rückkopplungsschleifen entdeckte der Mars sein ureigenes Gleichgewicht.
Die positiven Meldungen taten Jason gut. Die Remission dauerte an, und er warf sich in einen fröhlichen, fast therapeutischen, Arbeitsstress. Wenn er überhaupt Grund zum Verdruss sah, dann wegen der medialen Darstellung seiner Person als ikonenhaftes Genie der Perihelion-Stiftung, als wissenschaftliche Berühmtheit, als Aushängeschild für die Umwandlung des Mars. Dies ging mehr auf E. D.s Wirken als auf sein eigenes zurück: E. D. wusste, dass die Öffentlichkeit Perihelion mit einem menschlichen Gesicht verbinden wollte, einem vorzugsweise jungen Gesicht, klug, aber nicht einschüchternd, und schon zu Zeiten, da Perihelion nicht mehr als eine Raumfahrt-Lobbygruppe war, hatte er Jason beharrlich vor jede Kamera geschoben. Jason fand sich damit ab — er besaß ein Talent für anschauliche und geduldige Erklärungen und er war einigermaßen fotogen —, aber er hasste die ganze Prozedur und verließ lieber den Raum, als dass er sich im Fernsehen sah.
Dies war das Jahr der ersten unbemannten NEP-Flüge, die Jason mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Es ging um die Schiffe, die Menschen zum Mars transportieren sollten und die im Gegensatz zu den vergleichsweise simplen Saattransportern neue Technologie darstellten. NEP stand für »nuclear electric propulsion« — »nuklear-elektrischer Antrieb«: Miniaturatomreaktoren speisten Ionentriebwerke, die weitaus schubkräftiger waren als diejenigen, die die Saatraumschiffe angeschoben hatten, stark genug, um gewaltige Nutzlasten zu ermöglichen. Doch diese Leviathane in eine Umlaufbahn zu bringen, erforderte größere Trägerraketen, als die NASA je an den Start gebracht hatte, erforderte, was Jason »heroische Ingenieursarbeit« nannte, heroisch teure obendrein. Angesichts der vorgelegten Kosten wurden selbst im weitgehend unterstützungswilligen Kongress erste Warnflaggen gehisst, doch die Kette der Erfolge ließ kritische Stimmen vorerst verstummen. Jason hatte allerdings Sorge, dass ein krasser Fehlschlag diesem Stillhalten ein Ende setzen würde.
Kurz nach der Jahreswende ging ein NEP-Testschiff im Weltraum verloren. Auf dem Capitol meldeten sich sogleich die Vertreter eines finanzpolitischen Konservativismus und erhoben ihre Vorwürfe, Abgeordnete von Bundesstaaten zumeist, die nicht nennenswert in die Raumfahrtindustrie investiert hatten. E. D.s Freunde im Kongress wiesen jedoch alle Schuldzuweisungen zurück, und schon eine Woche später erfolgte ein erfolgreicher Test, der der Kontroverse das Wasser abgrub. Dennoch meinte Jason, wir seien noch einmal haarscharf davongekommen.
Diane hatte die Debatte verfolgt, hielt sie aber für trivial. »Statt über solche Sachen«, sagte sie, »sollte Jason sich lieber Gedanken darüber machen, was für Auswirkungen diese Mars-Geschichte auf die Welt hat. Bisher haben sie ja nur gute Presse gehabt, nicht wahr? Alle sind begeistert, wir alle wollen etwas sehen, das uns — ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll — die Potenz der menschlichen Rasse bestätigt. Aber die Euphorie wird sich früher oder später verbrauchen, und unterdessen entwickeln sich die Leute zu ausgebufften Spin-Experten.«
»Ist das so schlimm?«
»Wenn das Mars-Projekt scheitert oder nicht die Erwartungen erfüllt, dann ja. Nicht nur, weil die Leute enttäuscht sein werden. Sie haben die Umwandlung eines ganzen Planeten beobachtet, das heißt, sie gewinnen einen Maßstab, um den Spin zu erfassen. Der Spin ist nicht mehr bloß ein abstraktes Phänomen — ihr habt sie ins Auge der Bestie blicken lassen, zu eurem Besten, nehme ich an, aber wenn euer Projekt fehlschlägt, dann raubt ihr ihnen diesen Mut wieder, und dann ist es schlimmer als vorher, weil sie das Ding gesehen haben. Und sie werden euch für euer Scheitern nicht lieben, Tyler, denn ihre Angst wird größer sein als je zuvor.«
Ich zitierte das Gedicht von Housman, das ich vor langer Zeit von ihr gelernt hatte: Das Kind hat nicht mal wahrgenommen / Wie’s in den Bauch des Bär’n gekommen.
»Das Kind beginnt sich einen Reim zu machen«, erwiderte sie. »Vielleicht kann man so die Trübsalszeit definieren.«
Vielleicht. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, dachte ich an die Hypothetischen, wer oder was sie auch sein mochten. Es gab im Grunde nur eins, was man wirklich über sie sagen konnte: Sie waren nicht nur imstande, die Erde in diese seltsame Membran einzuschließen, sondern sie waren schon lange da draußen zugange, beherrschten uns, regulierten nach Gutdünken unseren Planeten und den Fluss der Zeit — seit fast zwei Milliarden Jahren.
Undenkbar, dass es etwas auch nur annähernd Menschliches war, das eine solche Geduld aufbrachte.
Jasons Neurologe wies mich auf eine klinische Studie hin, die in jenem Winter in der Ärztezeitschrift JAMA veröffentlicht worden war. Forscher an der Universität Cornell hatten einen genetischen Marker für akute medikamentenresistente MS entdeckt. Der Neurologe, ein freundlicher, korpulenter Floridianer namens David Malmstein, hatte Jasons DNA-Profil untersucht und die betreffende Sequenz darin gefunden. Ich fragte ihn, was das bedeutete.
»Das bedeutet, dass wir seine Medikation ein wenig spezifischer Zuschneidern können. Es bedeutet außerdem, dass wir ihm nie die permanente Remission verschaffen können, die ein typischer MS-Patient erwarten darf.«
»Er scheint doch mittlerweile schon fast ein Jahr symptomfrei zu sein. Kann man das nicht als langfristig bezeichnen?«
»Seine Symptome sind unter Kontrolle, das ist alles. Die AMS brennt weiter, ungefähr wie ein Feuer in einem Kohlenflöz. Der Zeitpunkt wird kommen, wo wir es nicht mehr kompensieren können.«
»Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.«
»Könnte man so sagen.«
»Wie lange wird er noch den Anschein von Normalität aufrecht erhalten können?«
Malmstein dachte kurz nach. »Wissen Sie«, sagte er dann, »genau das hat Jason mich auch gefragt.«
»Und was haben Sie ihm gesagt?«
»Dass ich kein Hellseher bin. Dass AMS eine Krankheit ohne gesicherte Ätiologie ist. Dass der menschliche Körper seinen eigenen Kalender hat.«
»Ich vermute, die Antwort hat ihm nicht sonderlich gefallen.«
»Er hat sein Missfallen deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber es ist wahr. Er könnte noch die nächsten zehn Jahre asymptomatisch herumlaufen. Oder er könnte Ende dieser Woche im Rollstuhl sitzen.«
»Haben Sie ihm das gesagt?«
»In einer freundlicheren Version. Er soll nicht die Hoffnung verlieren. Er besitzt Kampfgeist und das zählt viel. Meine ehrliche Meinung ist die, dass er kurzfristig gut zurechtkommen wird — zwei Jahre, fünf Jahre, vielleicht auch mehr. Danach ist alles möglich. Ich wünschte, ich könnte eine bessere Prognose anbieten.«
Ich erzählte Jason nicht, dass ich mit Malmstein gesprochen hatte, aber ich sah, wie er in den folgenden Wochen seinen Arbeitseinsatz noch verdoppelte, seine Erfolge gegen die Zeit und die Sterblichkeit verbuchte: nicht die der Welt, sondern seine eigene.
Die Anzahl der Raketenstarts, von den Kosten nicht zu reden, steigerte sich rasant. Die letzte Welle der Saatguttransporte (die einzigen, die, jedenfalls teilweise, echte Saat enthielten) fand im März statt, zwei Jahre nachdem Jason, Diane und ich beobachtet hatten, wie ein Dutzend ähnliche Raketen von Florida aus zu dem damals noch unfruchtbaren Planeten aufbrachen.
Der Spin hatte uns den nötigen Hebel für eine lange Ökopoiesis geliefert. Doch nachdem wir die Samen komplexer Pflanzen auf den Weg gebracht hatten, wuchs dem richtigen Timing eine entscheidende Rolle zu. Wenn wir zu lange warteten, konnte uns die Entwicklung auf dem Mars aus den Händen gleiten: eine essbare Getreidesorte würde, wenn sie sich eine Million Jahre lang wild entwickelte, am Ende unter Umständen kaum noch Ähnlichkeit mit ihrer Herkunftsform aufweisen, ja wäre vielleicht ungenießbar oder gar giftig geworden.
Das hieß, dass die Beobachtungssatelliten nur wenige Wochen nach der Saatgutarmada gestartet werden mussten, und die bemannten NEP-Schiffe, falls die Ergebnisse verheißungsvoll aussahen, unmittelbar danach.
Ich erhielt einen weiteren spätabendlichen Anruf von Diane, einen Tag nachdem die Beobachtungssatelliten aufgestiegen waren (ihre Datenpakete waren nach wenigen Stunden geborgen worden, befanden sich aber noch auf dem Weg nach Pasadena, um dort im JPL, dem »Labor für Düsenantrieb«, analysiert zu werden). Sie wirkte bedrückt, und als ich nachbohrte, gestand sie, dass sie vorübergehend entlassen worden war, mindestens bis Juni. Sie und Simon waren dadurch mit ihrer Miete in Rückstand geraten. E. D. konnte sie nicht um Geld bitten, und mit Carol zu reden, war unmöglich. Im Moment versuchte sie Mut zu sammeln, um Jason anzusprechen, aber die damit verbundene Demütigung machte sie auch nicht fröhlicher.
»Um was für eine Summe geht es denn, Diane?«
»Tyler, ich wollte nicht…«
»Ich weiß. Du hast nicht gefragt. Ich mache ein Angebot.«
»Na ja… in diesem Monat, also, fünfhundert Dollar würden uns schon sehr weiterhelfen.«
»Das Pfeifenstielvermögen ist also aufgebraucht.«
»Simons Treuhandfonds ist ausgelaufen. Es ist schon noch Familienvermögen da, aber Simons Familie spricht nicht mit ihm.«
»Wenn ich dir einen Scheck schicke, würde er mitkriegen, was läuft?«
»Es würde ihm nicht gefallen. Ich hab mir gedacht, ich erzähl ihm, ich hätte eine alte Versicherungspolice gefunden und zu Geld gemacht. So was in der Richtung. Die Sorte Lüge, die nicht als Sünde zählt. Hoffe ich.«
»Ihr seid noch immer unter der Collier-Street-Adresse zu erreichen?« An die ich jedes Jahr eine höflich neutrale Weihnachtskarte schickte und von wo ich jedes Mal eine mit typischen Winter-Motiven zurückbekam, unterzeichnet mit Alles Gute und Gottes Segen, Simon und Diane Townsend.
»Ja«, sagte sie. Und dann: »Danke, Tyler. Vielen, vielen Dank. Weißt du, das ist unglaublich beschämend.«
»Es sind schwere Zeiten für viele.«
»Dir geht’s aber gut?«
»Ja, mir geht’s gut.«
Ich schickte ihr sechs Schecks, jeder auf den fünfzehnten des Monats vordatiert, Geld für ein halbes Jahr. Ich war mir nicht sicher, ob es unsere Freundschaft festigen oder vergiften würde. Oder ob es überhaupt eine Rolle spielte.
Die Messdaten zeugten von einer Welt, die noch immer trockener war als die Erde, aber bedeckt von Seen, die glänzenden türkisfarbenen Kupfertischintarsien ähnelten; ein von Wolkenbändern sanft umspielter Planet mit stürmischen Niederschlägen, die auf die dem Wind zugewandten Hänge uralter Vulkane gepeitscht wurden und Flussbecken ebenso speisten wie schlammige Flachlanddeltas, so grün wie ein gepflegter Vorstadtrasen.
Die großen Trägerraketen standen aufgetankt auf ihren Plattformen; auf Startplätzen und Kosmodromen rund um die Welt bestiegen annähernd achthundert Menschen die Abschussrampen, um sich in schrankgroße Kammern einzuschließen und einem Schicksal ins Auge zu blicken, das alles andere als gewiss war. Die auf diesen Trägerraketen installierten NEP-Archen enthielten (zusätzlich zu den Astronauten) im Embryostadium befindliche Schafe, Rinder, Pferde, Schweine und Ziegen sowie die Mutterschöße aus Stahl, aus denen sie, mit etwas Glück, ins Leben geholt werden konnten; die Samen von zehntausend Pflanzen, die Larven von Bienen und anderen nützlichen Insekten, biologisches Frachtgut, das die Reise und die Härten der Wiedergeburt überstehen würde oder auch nicht; Archive menschlichen Wissens sowohl in digitaler Form (inklusive der Technik, es zu lesen) als auch auf eng bedrucktem Papier; und schließlich Bauteile und Vorräte für einfache Behausungen, Solarstromgeneratoren, Treibhäuser, Wasserreinigungsanlagen, Feldlazarette. In einem Best-Case-Szenario würden alle Schiffe innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Jahren, je nach Durchquerung der Spin-Membran, in etwa die gleichen Äquatorialebenen erreichen; im schlechtesten Fall könnte sogar ein einziges Schiff, sofern es in einigermaßen intaktem Zustand landete, seiner Mannschaft die Mittel in die Hand geben, die Akklimatisierungszeit zu überstehen.
Also ging es einmal mehr ins Perihelion-Auditorium, zusammen mit all denen, die nicht an die Küste gefahren waren, um das Ereignis live mitzuerleben. Ich saß ganz vorn neben Jason, und wir reckten die Hälse, um die Videoeinspielung der NASA sehen zu können, eine spektakuläre Totale der Startrampen vor der Küste, Stahlinseln, durch gewaltige Gleisbrücken verbunden, zehn riesige Prometheus-Trägerraketen (»Prometheus« genannt, soweit sie von Boeing oder Lockheed-Martin gebaut worden waren; die Russen, die Chinesen und die Europäer verwendeten die gleichen Schablonen, nannten sie aber anders und strichen sie anders an), in Scheinwerferlicht getaucht und wie weiß getünchte Zaunpfähle in den blauen Atlantik hineingestellt. Viel war für diesen Augenblick geopfert worden: Steuern und Schätze, Küstenlinien und Korallenriffe, Karrieren und manch ein Menschenleben (am Fuße jeder Rampe vor Canaveral befand sich eine Tafel mit den Namen der fünfzehn Bauarbeiter, die während der Montage ums Leben gekommen waren). Jasons Fuß klopfte einen wilden Rhythmus, während der Countdown in die letzte Minute ging, und ich fragte mich schon, ob es symptomatisch sei, doch er fing meinen Blick auf und sagte: »Ich bin nur aufgeregt. Du etwa nicht?«
Es hatte bereits Probleme gegeben. Weltweit waren achtzig dieser großen Trägerraketen montiert und für einen aufeinander abgestimmten Start präpariert worden, und da es sich um eine Neukonstruktion handelte, traten hier und da noch Fehler auf. Für vier Raketen war der Start schon wegen technischer Schwierigkeiten abgeblasen worden, und drei hatten ihren Countdown — für einen Start, der eigentlich weltweit zur gleichen Zeit erfolgen sollte — aus den üblichen Gründen unterbrochen: unsichere Treibstoffleitungen, störungsanfällige Software. So etwas war unvermeidlich und in der Planung auch einkalkuliert worden, dennoch wirkte es wie ein schlechtes Vorzeichen.
So vieles musste in so kurzer Zeit geschehen. Was wir diesmal verpflanzten, das war ja keine Biologie, sondern menschliche Geschichte, und diese menschliche Geschichte, hatte Jason gesagt, brannte wie ein Feuer im Vergleich zum trägen Gang der Evolution. (Als wir noch viel jünger waren, nach Beginn des Spins, aber noch bevor er das Große Haus verließ, hatte Jason diesen Gedanken gern mit Hilfe einer kleinen Vorführung veranschaulicht. »Streck die Arme aus«, pflegte er zu sagen, »zu beiden Seiten«, und wenn man dann in der gewünschten Kreuzhaltung dastand, fuhr er fort: »Vom linken Zeigefinger quer über dein Herz hinüber bis zum rechten Zeigefinger, das ist die Geschichte der Erde. Weißt du, was die menschliche Geschichte ist? Die Geschichte der Menschheit ist der Nagel auf deinem rechten Zeigefinger. Und nicht mal der ganze Nagel. Nur das kleine weiße Stück. Das Stück, das du abschneidest, wenn es zu lang wird. Das ist die Entdeckung des Feuers und die Erfindung der Schrift und Galileo und Newton und die Mondlandung und der 11. September und letzte Woche und heute Morgen. Gemessen an der Evolution sind wir Neugeborene. Gemessen an der Geologie existieren wir noch kaum.«)
Dann verkündete die NASA-Stimme: »Zündung«, und Jason saugte Luft durch die Zähne ein und wandte den Kopf halb ab, als neun von zehn Trägerraketen — hohle, mit explosiver Flüssigkeit gefüllte Röhren, höher als das Empire State Building — entgegen aller Logik der Schwerkraft und Trägheit himmelwärts explodierten, Tonnen von Treibstoff verbrannten, um die ersten Zentimeter Höhe zu gewinnen, und Meerwasser verdampften, um einen Schallwirbel abzupuffern, der sie andernfalls in Stücke gesägt hätte. Und dann war es, als hätten sie sich Leitern aus Dampf und Rauch gebaut und erkletterten diese mit inzwischen deutlich wahrzunehmender Geschwindigkeit, während Feuerfedern die rotierenden Wolken überholten, die sie erzeugt hatten. Auf und davon, wie jeder andere erfolgreiche Start: schnell und lebhaft wie ein Traum, dann auf und davon.
Die letzte Trägerrakete wurde von einem fehlerhaften Sensor aufgehalten und startete zehn Minuten später. Ihre Nutzlast würde nun den Mars erst tausend Jahre nach der übrigen Flotte erreichen, aber dies, wie gesagt, war bei der Planung einkalkuliert worden und konnte sich sogar als vorteilhaft erweisen — als eine Art Neuinjektion irdischer Technologie und irdischen Wissens, nachdem die digitalen und die auf Papier gedruckten Bücher der ursprünglichen Kolonisten längst zu Staub zerfallen waren.
Augenblicke später schaltete die Videoübertragung nach Französisch-Guayana um, zum ehrwürdigen und vielfach ausgebauten Centre National d’Etudes Spatiales in Kourou, wo eine der großen Trägerraketen aus der Aerospatiale-Fabrik etwa dreißig Meter weit aufgestiegen war, dann den Anschub verloren hatte und in einem pilzförmigen Flammenmeer auf die Rampe zurückgekracht war.
Zwölf Menschen fanden den Tod, zehn an Bord der NEP-Arche und zwei auf dem Boden, aber es war die einzige offensichtliche Katastrophe der gesamten Startreihe, und so konnte man, alles in allem genommen, wohl doch von einem glücklichen Ausgang sprechen.
Freilich war das noch nicht das Ende der Übung. Bis Mitternacht — und dies schien mir der bislang deutlichste Indikator für die groteske Kluft zwischen terrestrischer und Spin-Zeit zu sein — würde die menschliche Zivilisation auf dem Mars entweder komplett untergegangen sein oder auf eine Geschichte von annähernd hunderttausend Jahren zurückblicken.
Das war, grob gerechnet, die Zeitspanne zwischen der Entstehung des Homo sapiens als individueller Spezies und gestern Nachmittag.
Es entschied sich also so allerlei, während ich von Perihelion zurück zu meinem gemieteten Heim fuhr. Ganze marsianische Dynastien stiegen auf und vergingen wieder, während ich darauf wartete, dass die Ampel umschaltete. Ich dachte an diese Existenzen — ganz und gar reale Menschenleben, jedes eingezwängt in eine Zeitspanne von weniger als einer Minute auf meiner Armbanduhr — und mir wurde ein wenig schwummrig. Das Spin-Schwindelgefühl. Oder vielleicht ging es auch tiefer.
Ich sah die Ergebnisse, bevor sie öffentlich bekannt gemacht wurden.
Es war eine Woche nach den Prometheus-Starts. Jason war für 10 Uhr 30 in der Praxis angemeldet, vorbehaltlich neuer Nachrichten aus Pasadena. Er sagte den Termin zwar nicht ab, erschien aber eine ganze Stunde später, eine Aktenmappe in der Hand und offensichtlich mit der Absicht, über etwas ganz anderes zu sprechen als seine Medikamente.
»Ich weiß nicht, was ich der Presse sagen soll. Ich komme gerade aus einer Konferenz mit dem ESA-Direktor und ein paar chinesischen Bürokraten. Wir versuchen einen Entwurf für eine gemeinsame Erklärung der Staatsoberhäupter zu formulieren, aber kaum sind mal die Russen mit einer Wendung einverstanden, legen die Chinesen ihr Veto ein, und umgekehrt.«
»Eine Erklärung worüber?«
»Die Satellitendaten.«
»Ihr habt die Ergebnisse?«
Tatsächlich waren sie längst überfällig. Normalerweise gab das JPL seine Fotos schneller heraus und aus Jasons Worten folgerte ich, dass irgendjemand die Daten zurückgehalten hatte. Was wohl bedeutete, dass sie nicht den Erwartungen entsprachen. Schlechte Nachrichten vielleicht.
»Hier, schau.« Jason öffnete die Aktenmappe und entnahm ihr zwei Teleskopbilder. Es waren beides Ansichten vom Mars, aufgenommen aus der Erdumlaufbahn nach den Prometheusstarts. Das erste Foto war atemberaubend, obwohl es sich oberflächlich nicht sehr von dem gerahmten Bild in meinem Wartezimmer zu unterscheiden schien: Ich konnte genug Grün ausmachen, um mich davon zu überzeugen, dass das exportierte Ökosystem noch immer intakt war, noch immer aktiv.
»Sieh ein bisschen genauer hin«, sagte Jason. Er fuhr mit dem Finger an der gewundenen Linie einer Flussebene entlang. Da waren grüne Flecken mit klaren, regelmäßigen Umgrenzungen. Je näher ich hinsah, desto mehr davon. »Landwirtschaft.«
Ich hielt den Atem an und überlegte, was das bedeutete. Jetzt gibt es zwei bewohnte Planeten im Sonnensystem, dachte ich. Nicht nur hypothetisch, sondern wahr und wahrhaftig. Das da waren Orte, wo Menschen lebten, Orte auf dem Mars.
Ich wollte nicht aufhören hinzustarren, aber Jason schob das Bild in seinen Umschlag zurück und zeigte mir das zweite Foto. »Dies hier«, sagte er, »wurde vierundzwanzig Stunden später aufgenommen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Von derselben Kamera auf demselben Satelliten aufgenommen. Wir haben parallele Bilder, um das Ergebnis zu bestätigen. Es sah zuerst aus wie ein Fehler in der Bildverarbeitung, bis wir den Kontrast so weit hochgefahren haben, dass wir ein bisschen Sternenlicht erkennen konnten.«
Aber da war nichts zu sehen auf dem Foto. Ein paar Sterne und in der Mitte ein fettes Nichts in Form einer Scheibe. »Was ist das?«
»Eine Spin-Membran«, sagte Jason. »Von außen gesehen. Der Mars hat jetzt auch eine.«