Himmlischer Gartenbau

Es war der Winter der Startrampen.

Neue Abschussrampen waren nicht nur in Canaveral, sondern auch in der Wüste im Südwesten, in Südfrankreich und Äquatorialafrika, in Jiuquan und Xichang in China und in Baikonur und Svobodny in Russland errichtet worden; Rampen für die Saatgutfrachten zum Mars und besonders große Rampen für die sogenannten Riesengestelle, gewaltige Trägerraketen, die menschliche Freiwillige zu einem halbwegs bewohnbaren Mars transportieren sollten, falls das grobe Terraformen von Erfolg gekrönt war. Die Rampen wuchsen in diesem Winter wie Eisen- und Stahlwälder, reich und üppig, verwurzelt in Beton, bewässert mit reichlichen Mitteln aus dem Bundesetat.

Die ersten Saatgutraketen waren in gewisser Weise weniger spektakulär als die für sie gebauten Abschussvorrichtungen. Es waren Trägerraketen vom Fließband, massengefertigt nach alten Titan- und Deltaschablonen, kein Gramm oder Mikrochip komplizierter als unbedingt nötig, und als der Winter in den Frühling überging, da bevölkerten sie ihre Rampen in geradezu beängstigender Anzahl, wie Baumwollhülsen vor dem Aufplatzen, auf dem Sprung, einem fernen, sterilen Boden Leben zuzuführen.

In gewissem Sinne herrschte auch Frühling im ganzen Sonnensystem — oder jedenfalls ein verlängerter Altweibersommer. Die bewohnbare Zone breitete sich nach außen aus, während die Sonne ihren Heliumkern erschöpfte, umfasste nach und nach den Mars, wie sie später auch den wasserhaltigen Jupitermond Ganymed umfassen würde, ein weiteres potenzielles Objekt zur Terraformung. Auf dem Mars hatten im Laufe von Millionen von wärmenden Sommern gewaltige Massen von gefrorenem CO2 und wässrigem Eis begonnen, in die Atmosphäre zu sublimieren. Zu Beginn des Spins hatte der atmosphärische Druck auf Bodenhöhe ungefähr acht Millibar betragen, die Luft war ähnlich dünn wie auf der Erde etwa fünf Kilometer über dem Gipfel des Mount Everest. Inzwischen hatte der Planet, selbst ohne menschliche Intervention, ein Klima entwickelt, das dem einer in Kohlendioxid getauchten arktischen Bergregion entsprach — nach marsianischen Maßstäben ausgesprochen milde.

Und wir hatten die Absicht, diesen Prozess weiterzutreiben. Wollten die Luft des Planeten mit Sauerstoff anreichern, wollten seine Tiefebenen begrünen, wollten Teiche schaffen, wo gegenwärtig noch das periodisch tauende Eis in Geysire aus Wasserdampf ausbrach oder einen giftigen Schlamm bildete.

Wir waren gefährlich optimistisch in diesem Winter der Startrampen.


Am 3. März, kurz vor den geplanten ersten Saatgutstarts, rief Carol Lawton mich zu Hause an und berichtete mir, dass meine Mutter einen schweren Schlaganfall erlitten hätte und die Ärzte mit ihrem baldigen Tod rechneten.

Ich organisierte eine Vertretung bei Perihelion, fuhr nach Orlando und buchte den ersten Flug am Morgen nach D.C.

Carol holte mich am Reagan International ab, in offenbar nüchternem Zustand. Sie breitete die Arme aus, und ich schloss sie in meine, diese Frau, die mir in all den Jahren, in denen ich auf ihrem Grundstück gelebt hatte, nie anders als mit verwirrter Gleichgültigkeit begegnet war. Dann trat sie einen Schritt zurück und legte ihre zitternden Hände auf meine Schultern. »Es tut mir so Leid, Tyler.«

»Lebt sie noch?«

»Ja. Komm, draußen wartet ein Wagen auf uns. Wir können während der Fahrt reden.«

Ich folgte ihr zu einem Auto, das wohl von E. D. zur Verfügung gestellt worden war, eine schwarze Limousine mit Regierungsplakette. Der Fahrer sprach kaum ein Wort, während er mein Gepäck in den Kofferraum lud, tippte sich lediglich an die Mütze, als ich ihm dankte. Nachdem wir eingestiegen waren, fuhr er, ohne erst eine entsprechende Anweisung entgegenzunehmen, in Richtung George-Washington-Universitätsklinik.

Carol war dünner, als ich sie in Erinnerung hatte — sie versank wie ein Vogel in den Lederpolstern. Sie zog ein Baumwolltaschentuch aus ihrer winzigen Handtasche und betupfte sich die Augen. »Dieses lächerliche Geheule. Gestern habe ich meine Kontaktlinsen verloren. Praktisch aus den Augen rausgeweint, das musst du dir mal vorstellen. Es gibt Dinge, die man als selbstverständlich betrachtet. Für mich war es die Tatsache, dass ich deine Mutter im Haus hatte, die für Ordnung sorgte. Oder einfach das Wissen, dass sie in der Nähe war, auf der anderen Seite des Rasens. Ich bin nachts immer aufgewacht — ich schlafe nicht sehr gut, was dich vermutlich nicht überraschen wird —, ich bin also nachts aufgewacht und hatte das Gefühl, die Welt sei zerbrechlich und ich könnte hindurchfallen, direkt durch den Fußboden durch, und ewig weiterfallen. Dann hab ich immer an sie gedacht, drüben im Kleinen Haus, mit ihrem gesunden Schlaf, tief und fest. Es war wie ein gerichtsverwertbarer Beweis. Beweisstück A, Belinda Dupree, oder: es gibt einen inneren Frieden. Sie war der Grundpfeiler des ganzen Haushalts, Tyler, ob du es gewusst hast oder nicht.«

Vermutlich hatte ich es gewusst. Im Grunde war alles ein und derselbe Haushalt gewesen, wenn ich auch als Kind vorwiegend die Unterschiede wahrgenommen hatte: mein Haus, bescheiden, aber ruhig und friedlich, und das Große Haus, wo die Spielsachen teurer, die Auseinandersetzungen aber auch heftiger waren.

Ich fragte sie, ob E. D. im Krankenhaus gewesen sei.

»E. D.? Nein, der hat zu tun. Um Raumschiffe zum Mars zu schicken, muss man wohl ganz furchtbar oft in der Innenstadt essen gehen. Ich weiß, dass es das ist, was Jason in Florida festhält, aber ich glaube, Jason befasst sich mit der praktischen Seite der Angelegenheit — falls sie eine praktische Seite hat —, während E. D. mehr den Bühnenzauberer gibt, der das Geld aus allen möglichen Hüten zieht. Aber du wirst E. D. sicherlich bei der Beerdigung sehen.« Ich zuckte zusammen, worauf sie mich entschuldigend ansah. »Für den Fall, dass. Aber die Ärzte sagen…«

»Dass sie sich nicht wieder erholen wird.«

»Sie liegt im Sterben, ja. Das sag ich dir als Kollegin. Weißt du das noch, Tyler? Ich hatte mal eine Arztpraxis. Damals, als ich zu so etwas noch fähig war. Und jetzt bist du ein Arzt mit eigener Praxis. Mein Gott!«

Ich war dankbar für ihre Direktheit. Vielleicht hatte es mit der ungewohnten Nüchternheit, der Ernüchterung, zu tun. Da war sie wieder in der hell erleuchteten Welt, der sie zwanzig Jahre lang aus dem Weg gegangen war, und musste feststellen, dass diese Welt noch immer genauso schrecklich war, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Wir betraten die Klinik. Carol hatte sich dem Pflegepersonal auf der Intensivstation bereits vorgestellt, daher gingen wir direkt zum Zimmer meiner Mutter. Als Carol an der Tür zögerte, sagte ich: »Kommen Sie mit rein?«

»Ich — nein, ich glaube nicht. Ich habe mich schon einige Male verabschiedet. Ich muss mich irgendwo aufhalten, wo es nicht nach Desinfektionsmitteln riecht. Ich werde auf dem Parkplatz mit den Rollbahrenschiebern eine rauchen. Treffen wir uns da?«

Ich nickte.

Meine Mutter war ohne Bewusstsein; an lebenserhaltende Apparate angeschlossen, die Atmung von einer Maschine reguliert, die mit jedem Heben und Senken des Brustkorbs ächzte. Ihre Haare waren weißer, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich streichelte ihre Wange, aber sie reagierte nicht.

Aus einem fehlgeleiteten ärztlichen Instinkt heraus schob ich eins ihrer Augenlider nach oben, vermutlich mit der Absicht, die Erweiterung ihrer Pupillen zu kontrollieren. Aber sie hatte nach dem Schlaganfall Blutungen im Auge erlitten. Es war rot wie eine Kirschtomate.

Ich verließ das Krankenhaus gemeinsam mit Carol, lehnte aber ihre Einladung zum Essen ab und erklärte, ich würde mir selbst etwas machen. Sie sagte: »Es ist bestimmt etwas in der Küche deiner Mutter, aber wenn du ins Große Haus kommen möchtest, bist du mehr als willkommen. Auch wenn es momentan etwas unordentlich ist, jetzt wo deine Mutter sich nicht mehr darum kümmern kann. Aber ich bin sicher, wir können dir noch ein passables Gästezimmer anbieten.«

Ich bedankte mich, gab aber zu verstehen, dass ich lieber auf der anderen Seite des Rasens bleiben wolle.

»Gib Bescheid, falls du deine Meinung änderst.« Sie starrte von der Kiesauffahrt über den Rasen hinweg zum Kleinen Haus, als würde sie es seit Jahren zum ersten Mal wieder klar sehen. »Hast du noch einen Schlüssel?«

»Ja, hab ich.«

»Also gut. Dann lass ich dich allein. Das Krankenhaus hat beide Nummern, falls sich ihr Zustand verändert.« Sie umarmte mich wieder und stieg die Verandastufen mit einer Entschlossenheit hinauf, die vermuten ließ, sie habe das Trinken jetzt lange genug aufgeschoben.

Ich ging in das Haus meiner Mutter. Mehr ihres als meines, dachte ich, obwohl die Spuren meiner Anwesenheit nicht gelöscht worden waren. Als ich auf die Universität umgezogen war, hatte ich mein kleines Zimmer leergeräumt und alles eingepackt, was mir wichtig war, doch meine Mutter hatte das Bett stehen lassen und die entstandenen Lücken — die Holzregale, die Fensterbank — mit eingetopften Pflanzen aufgefüllt, die jetzt in ihrer Abwesenheit rasch eingingen. Ich goss sie erst einmal. Auch das übrige Haus war ordentlich und aufgeräumt. Diane hatte die haushälterische Tätigkeit meiner Mutter einmal als »linear« bezeichnet, womit sie wohl meinte: auf Ordnung bedacht, aber nicht besessen. Ich inspizierte das Wohnzimmer, die Küche, warf einen Blick in ihr Schlafzimmer. Nicht alles war an seinem Platz. Aber alles hatte seinen Platz.

Bei Einbruch der Dunkelheit zog ich die Vorhänge zu und schaltete alle Lampen in allen Zimmern ein, machte mehr Licht, als meine Mutter je, zu welcher Zeit auch immer, für angemessen gehalten hatte. Es war eine Deklaration gegen den Tod. Ich fragte mich, ob Carol das Leuchten über die winterbraune Kluft hinweg bemerken, und wenn ja, ob sie es tröstlich oder erschreckend finden würde.

E. D. kam an diesem Abend gegen neun Uhr nach Hause und er besaß den Anstand, an die Tür zu klopfen und sein Mitgefühl auszudrücken. Er schien sich unbehaglich zu fühlen unter der Verandalampe, sein maßgeschneiderter Anzug leicht zerknittert. Sein Atem dampfte in der Abendkälte. Er tastete seine Taschen ab, an der Brust, an der Hüfte, unbewusst, als habe er etwas vergessen oder als wisse er einfach nicht, was er mit seinen Händen anstellen sollte. »Es tut mir Leid, Tyler«, sagte er.

Seine Beileidsbekundung schien mir doch reichlich verfrüht, so als ob der Tod meiner Mutter eine nicht nur unvermeidliche, sondern bereits vollendete Tatsache sei. Er hatte sie bereits abgeschrieben. Aber sie atmete noch, dachte ich, oder nahm jedenfalls noch Sauerstoff auf, etliche Kilometer entfernt, ganz allein in ihrem Krankenhauszimmer. »Vielen Dank, Mr. Lawton.«

»Um Gottes willen, Tyler, sag E. D. zu mir. Alle anderen tun es auch. Jason hat mir erzählt, dass du gute Arbeit leistest unten bei Perihelion Florida.«

»Meine Patienten beschweren sich nicht.«

»Großartig. Jeder Beitrag zählt, und sei er noch so klein. Hör mal, hat Carol dich hier draußen untergebracht? Wir haben natürlich auch ein Gästezimmer für dich bereit, wenn du möchtest.«

»Ich bin zufrieden, so wie es ist.«

»Okay, das verstehe ich. Klopf einfach an die Tür, wenn du etwas brauchst, in Ordnung?«

Er schlenderte zurück zum Großen Haus. Es war viel und ausführlich über Jasons Genie geredet worden, sowohl in der Presse als auch in der Familie, aber ich rief mir jetzt in Erinnerung, dass auch E. D. auf diese Bezeichnung Anspruch erheben konnte. Er hatte aus einem Ingenieurspatent und reichlich geschäftlicher Begabung ein großes Industrieunternehmen gemacht und zu einer Zeit, als Americom und AT&T noch wie ein schreckenstarres Reh in den Spin blinzelten, aerostatgestützte Telekommunikationsbandbreite verkauft. Was ihm fehlte, war nicht Jasons Intelligenz, sondern Jasons Witz und Jasons unerschöpfliche Neugier in Bezug auf das physikalische Universum. Und vielleicht auch ein Schuss von Jasons Humanität.

Dann war ich wieder allein, zu Hause und doch nicht zu Hause. Ich saß auf dem Sofa und wunderte mich darüber, wie wenig sich dieses Zimmer verändert hatte. Früher oder später würde es meine Aufgabe sein, alles zu entsorgen, was sich im Haus befand, etwas, das ich mir kaum ausmalen konnte, eine Aufgabe, die noch schwerer, noch absurder war als die, Leben auf einem anderen Planeten zu entwickeln. Und vielleicht führte das Nachdenken über diesen Akt des Verschwindenlassens dazu, dass ich auf dem obersten Brett des Regals neben dem Fernseher eine Lücke bemerkte.

Es fiel mir deshalb auf, weil meines Wissens diesem Brett in all den Jahren, die ich hier gewohnt hatte, nie mehr als ein oberflächliches Abstauben zuteil geworden war. Das oberste Brett war der Dachboden im Leben meiner Mutter. Ich hätte alles, was sich auf diesem Regalbrett befand, mit geschlossenen Augen und in der korrekten Reihenfolge aufzählen können: Ihre High-School-Jahrbücher (Martell Secondary School in Bingham, Maine, 1975, 76, 77, 78); ihr Berkeley-Studienbuch (1982); ein Jadebuddha als Buchstütze; ihr Diplom in einem Plastikrahmen zum Hinstellen; die braune Fächermappe, in der sie Geburtsurkunde, Reisepass und Steuerdokumente aufbewahrte; sowie, gestützt von einem weiteren grünen Buddha, drei ramponierte New-Balance-Schuhkartons mit der jeweiligen Aufschrift ANDENKEN (AUSBILDUNG), ANDENKEN (MARCUS) und VERMISCHTES.

Aber jetzt stand die zweite Buddha-Statue schief und der Karton mit der Aufschrift ANDENKEN (AUSBILDUNG) fehlte. Ich nahm an, dass sie ihn selbst heruntergenommen hatte, obwohl ich ihn nirgends sonst im Haus gesehen hatte. Die einzige der drei Schachteln, die sie in meiner Gegenwart regelmäßig geöffnet hatte, war VERMISCHTES. Sie war vollgestopft gewesen mit Konzertprogrammen und Ticketabrissen, spröde gewordenen Zeitungsausschnitten (einschließlich der Todesanzeigen für ihre Eltern), eine Souvenir-Anstecknadel in Form des Schoners Bluenose von ihrer Hochzeitsreise in Nova Scotia, Streichholzbriefchen verschiedenster Hotels und Restaurants, die sie besucht hatte, Modeschmuck, ein Taufschein, sogar eine Locke meiner ersten Haare, aufbewahrt in einem mit einer Sicherheitsnadel verschlossenen Stück Wachspapier.

Ich nahm die andere Schachtel herunter, die mit der Aufschrift ANDENKEN (MARCUS). Ich war nie besonders neugierig gewesen, was meinen Vater betraf, und meine Mutter hatte auch nicht viel über ihn erzählt, nichts was über ein paar dürre persönliche Merkmale hinausging: ein gut aussehender Mann, Ingenieur von Beruf, sammelte Jazzplatten, E. D.s bester Freund auf dem College, aber ein schwerer Trinker und schließlich, eines Nachts auf der Heimfahrt von einem Elektroniklieferanten in Milpitas, ein Opfer seiner Leidenschaft für schnelle Autos. In dem Karton befand sich ein Packen Briefe in Pergamentumschlägen, adressiert in einer schnörkellosen, sauberen Handschrift, die ihm gehört haben musste. Er hatte die Briefe an Belinda Sutton geschrieben, der Mädchenname meiner Mutter, an eine Adresse in Berkeley, die mir nichts sagte.

Ich öffnete einen der Umschläge, zog den vergilbten Bogen Papier heraus und faltete ihn auseinander.

Es war unliniertes Papier, aber die Handschrift zog sich dennoch in kurzen, sehr ordentlichen Parallelen über die Seite. Liebe Bel, las ich. Ich dachte, gestern Abend am Telefon hätte ich bereits alles gesagt, aber ich kann nicht aufhören, an Dich zu denken. Dies zu schreiben ist so, als seist du mir näher, wenn auch nicht so nahe, wie ich mir wünschen würde. Nicht so nahe wie im letzten August! Jede Nacht, in der ich mich nicht neben dich legen kann, spiel ich mir diese Erinnerung vor wie ein Videoband.

Es folgte noch mehr, aber ich las nicht weiter. Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seinen Umschlag zurück, machte den Karton zu und stellte ihn dahin, wo er hingehörte.


Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür. Ich öffnete sie in der Erwartung, Carol oder einen Bediensteten aus dem Großen Haus vor mir zu sehen.

Aber es war nicht Carol. Es war Diane. Diane in einem mitternachtsblauen bodenlangen Rock und einer Bluse mit hohem Kragen. Sie rang die Hände unter der Brust und sah mich mit funkelnden Augen an. »Es tut mir so Leid«, sagte sie. »Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte.«

Aber zu spät. Zehn Minuten vorher hatte das Krankenhaus angerufen. Belinda Dupree war gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.


Bei der Trauerfeier hielt E. D. eine kurze, eher verlegene Ansprache und sagte nichts von Bedeutung. Ich sprach, Diane sprach, Carol wollte eigentlich sprechen, war aber am Ende zu sehr in Tränen aufgelöst oder zu alkoholisiert, um die Kanzel zu besteigen.

Dianes Rede war die bewegendste, angemessen und von Herzen kommend, ein Katalog der Freundlichkeiten, die meine Mutter über den Rasen exportiert hatte wie Geschenke aus einem reicheren, liebevolleren Land. Ich war ihr dankbar. Der Rest der Zeremonie wirkte im Vergleich dazu mechanisch: flüchtig bekannte Gesichter lösten sich aus der Menge, um Erbauliches oder Halbwahres aufzusagen, und ich dankte ihnen und lächelte, dankte ihnen und lächelte, bis es Zeit war, zum Grab zu gehen.


Die Feier wurde am Abend mit einem Empfang im Großen Haus fortgesetzt, wo ich Beileidsbekundungen von E. D.s Geschäftspartnern, die ich alle nicht kannte, die aber zum Teil meinen Vater gekannt hatten, sowie von den Hausbediensteten entgegennahm, deren Trauer echter und schwerer zu ertragen war.

Partyserviceleute schlängelten sich mit gefüllten Weingläsern auf Silbertabletts durch die Menge und ich trank mehr, als mir gut tat, bis Diane, die ebenfalls geschmeidig durch die Gästeschar geglitten war, mich von einer weiteren Runde »herzlicher Anteilnahme für Ihren schmerzlichen Verlust« fortzog und sagte: »Du brauchst frische Luft.«

»Es ist kalt draußen.«

»Wenn du so weitertrinkst, wirst du unleidlich. Bist schon auf dem besten Weg dazu. Komm, Ty. Nur ein paar Minuten.«

Also raus auf den Rasen. Den braunen Mittwinterrasen. Den gleichen Rasen, auf dem wir vor fast zwanzig Jahren die Anfangsmomente des Spins erlebt hatten. Wir schritten den Umkreis des Großen Hauses ab, schlenderten eigentlich eher, trotz der steifen Märzbrise und des körnigen Schnees, der sich auf allen geschützten und schattigen Stellen gehalten hatte.

Alles Naheliegende hatten wir bereits gesagt. Wir hatten biografische Daten abgeglichen: meine berufliche Laufbahn, der Umzug nach Florida, meine Arbeit bei Perihelion; ihr Leben mit Simon, der allmähliche Übergang von NK zu einer milderen Orthodoxie, die der Entrückung mit Frömmigkeit und Selbstzucht entgegensah. (»Wir essen kein Fleisch«, hatte sie mir anvertraut. »Wir tragen keine Kunstfasern.« Und wie ich so, ein bisschen benommen, neben ihr ging, fragte ich mich, ob ich in ihren Augen abscheulich oder abstoßend geworden war, ob sie die Schinken-und-Käse-Beimischung meines Atems registrierte, oder die Baumwoll/Polyester-Jacke, die ich trug.) Sie hatte sich nicht sehr verändert, war allerdings etwas dünner als früher, dünner vielleicht als zuträglich, denn ihre Kinnlinie zeichnete sich doch recht schroff vor dem hohen, engen Kragen ab.

Ich war noch nüchtern genug, ihr dafür zu danken, dass sie mich nüchtern machen wollte.

»Ich musste da auch dringend weg. All diese Leute, die E. D. eingeladen hat. Keiner von denen hat deine Mutter in irgendeiner relevanten Weise gekannt, kein einziger. Die unterhalten sich alle über Mittelzuweisungen oder Nutzlasttonnagen. Schließen Geschäfte ab oder bereiten sie vor.«

»Vielleicht ist das E. D.s Art, ihr Ehre zu erweisen. Den Leichenschmaus mit politischer Prominenz würzen.«

»Das ist eine sehr großmütige Interpretation.«

»Er macht dich immer noch wütend.« Und so leicht, dachte ich.

»E. D.? Natürlich. Obwohl es gütiger wäre, ihm zu vergeben. Was du anscheinend getan hast.«

»Ich habe ihm weniger zu vergeben. Er ist ja nicht mein Vater.«

Ich hatte das ganz ohne Hintergedanken, ja ohne Absicht, ausgesprochen. Aber noch immer spukte das, was Jason mir vor einigen Wochen erzählt hatte, in meinen Gedanken herum. Ich verschluckte mich an der Bemerkung, wollte sie schon zurücknehmen, bevor ich sie ganz ausgesprochen hatte, wurde rot, als sie heraus war. Diane sah mich erst verständnislos an, dann weiteten sich ihre Augen und ein Ausdruck trat in ihr Gesicht, in dem sich Zorn und Verlegenheit so deutlich mischten, dass ich ihn trotz der trüben Lichtverhältnisse ohne Schwierigkeiten interpretieren konnte.

»Du hast mit Jason gesprochen«, sagte sie kalt.

»Tut mir Leid…«

»Wie muss man sich das genau vorstellen? Ihr beiden sitzt zusammen und macht euch über mich lustig?«

»Natürlich nicht. Er… Was Jason gesagt hat, das kam alles von den Medikamenten.«

Ein weiterer grotesker Fauxpas. Sie sprang sofort darauf an: »Was für Medikamente?«

»Ich bin sein praktischer Arzt. Manchmal verschreib ich ihm etwas. Ist das irgendwie wichtig?«

»Was sind das für Medikamente, die dich veranlassen, ein Versprechen zu brechen, Tyler? Er hat versprochen, dir nie etwas davon zu sagen… Ist Jason krank? Ist er deshalb nicht zur Beerdigung gekommen?«

»Er hat viel zu tun. Es sind nur noch wenige Tage bis zu den ersten Raketenstarts.«

»Aber aus irgendeinem Grund ist er bei dir in Behandlung.«

»Ich kann mich hier nicht über seine Krankengeschichte auslassen, das würde gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass ich damit erst recht ihr Misstrauen erregen würde. Ich verriet sein Geheimnis gerade dadurch, dass ich darauf bestand, es zu wahren.

»Das wäre typisch für ihn, krank zu werden und keinem von uns etwas zu sagen. Er ist so, so hermetisch verschlossen…«

»Vielleicht solltest du die Initiative ergreifen. Ruf ihn einfach mal an.«

»Glaubst du denn, das tue ich nicht? Hat er dir das auch erzählt? Eine Zeit lang hab ich ihn jede Woche angerufen. Aber er hat dann einfach diesen hohlen Charme angeknipst und sich geweigert, irgendwas von Bedeutung zu sagen. Wie geht’s, mir geht’s gut, was gibt’s Neues, nichts. Er will nichts von mir hören, Tyler, er ist voll auf E. D.s Seite. Ich bin ihm nur peinlich.« Sie machte eine kurze Pause. »Es sei denn, daran hätte sich etwas geändert.«

»Ich weiß nicht, was sich geändert hat. Aber vielleicht solltest du ihn besuchen, direkt mit ihm reden.«

»Wie sollte ich das anfangen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Nimm dir noch eine Woche frei. Flieg mit mir zurück.«

»Du hast gesagt, er hätte zu tun.«

»Sobald die Raketen gestartet sind, heißt es nur noch: abwarten und Tee trinken. Du kannst mit uns nach Canaveral kommen. Zusehen, wie Geschichte gemacht wird.«

»Diese Raketenstarts sind nutzlos«, erklärte sie, aber es klang wie etwas Angelerntes. »Ich würde schon gern, ich kann es mir nur nicht leisten. Simon und ich kommen zurecht, aber wir sind nicht reich. Wir sind keine Lawtons.«

»Ich spendier dir das Flugticket.«

»Du bist ein freigiebiger Betrunkener.«

»Ich mein es ernst.«

»Danke, aber nein. Das kann ich nicht annehmen.«

»Überleg es dir in Ruhe.«

»Frag mich noch mal, wenn du nüchtern bist.« Und dann, als wir die Stufen zur Veranda hinaufstiegen und das gelbe Licht auf ihre Augen fiel, sagte sie: »Ganz gleich, was ich einmal geglaubt haben mag — und ganz gleich, was ich vielleicht zu Jason gesagt habe…«

»Du brauchst das nicht zu sagen, Diane.«

»Ich weiß, dass E. D. nicht dein Vater ist.«

Was ich allerdings interessant fand an diesem Widerruf, war die Art, wie sie ihn vorbrachte. Fest und entschieden. Als wisse sie es inzwischen besser. Als habe sie eine andere Wahrheit entdeckt, einen alternativen Schlüssel zu den Geheimnissen der Lawtons.


Diane ging ins Große Haus zurück. Ich beschloss, dass ich weitere Sympathiebekundungen nicht ertragen könne, und verzog mich ins Haus meiner Mutter, das überheizt und stickig wirkte.

Am nächsten Tag sagte Carol, dass ich mir ruhig Zeit damit lassen könne, die Sachen meiner Mutter auszuräumen, »etwas zu arrangieren«, wie sie sich ausdrückte. Mit dem Kleinen Haus würde nichts passieren, sagte sie. Warte einen Monat. Ein Jahr. Ich könne »etwas arrangieren«, sobald ich Zeit dazu hätte und es keine seelische Belastung für mich darstellte.

Dass die seelische Belastung verschwinden würde, hielt ich für unwahrscheinlich; trotzdem bedankte ich mich für ihre Geduld und verbrachte den Tag damit, für den Rückflug nach Orlando zu packen. Mir machte die Vorstellung zu schaffen, dass ich etwas, das meiner Mutter gehört hatte, mitnehmen sollte; dass sie sich gewünscht hätte, ich würde ein Andenken an sie behalten und es meinerseits in einem Schuhkarton aufbewahren. Aber was? Eine ihrer Hummelfiguren, die sie geliebt hatte, die aber in meinen Augen nur teurer Kitsch waren? Den Kreuzstich-Schmetterling an der Wohnzimmerwand, den »Wasserlilien«-Druck im selbstgebastelten Rahmen?

Während ich noch mit mir zu Rate ging, tauchte Diane in der Tür auf. »Steht das Angebot noch? Der Flug nach Florida? War das dein Ernst?«

»Selbstverständlich.«

»Ich hab nämlich mit Simon gesprochen. Er ist zwar nicht übermäßig begeistert von dem Plan, aber er meint, er würde schon noch ein paar Tage allein zurechtkommen.«

Wie rücksichtsvoll von ihm, dachte ich.

»Also, es sei denn… ich meine, du hattest einiges getrunken…«

»Sei nicht albern. Ich ruf die Fluggesellschaft an.«

Ich buchte einen Platz auf Dianes Namen für den ersten Flug am nächsten Tag.

Dann packte ich zu Ende. Was die Besitztümer meiner Mutter betraf, so entschied ich mich schließlich für die beiden leicht angestoßenen Jadebuddha-Buchstützen.

Ich suchte im ganzen Haus, sah sogar unter den Betten nach, aber der fehlende Karton ANDENKEN (AUSBILDUNG) schien auf Dauer verschwunden zu sein.

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