Nach der Rodelparty sah ich Jason einige Jahre lang nicht. Wir blieben aber in Kontakt und trafen uns wieder in dem Jahr, in dem ich meinen Abschluss in Medizin machte, in einem für den Sommer gemieteten Haus in den Berkshires, etwa zwanzig Minuten von Tanglewood entfernt.
Ich war ausreichend beschäftigt gewesen. Ich hatte vier Jahre lang das College besucht, nebenbei Freiwilligendienst in einer Klinik geleistet und, lange bevor ich ihn absolvieren sollte, mit der Vorbereitung für den MCAT, den Aufnahmetest fürs weiterführende College, begonnen. Mein Notendurchschnitt, das MCAT-Ergebnis sowie ein Stapel Empfehlungsschreiben meiner bisherigen Dozenten und anderer ehrwürdiger Personen (E. D.s Freigebigkeit nicht zu vergessen) verschafften mir Zugang zur medizinischen Fakultät SUNY in Stony Brook, wo vier weitere Studienjahre abzuleisten waren. Das lag jetzt hinter mir, ich hatte fertig studiert, aber noch warteten mindestens drei Jahre Facharztausbildung auf mich, bevor ich praktizieren konnte.
Was mich in die Mehrheit der Menschen einreihte, die ihr Leben weiterhin so lebten, als hätten sie noch nie vom bevorstehenden Ende der Welt gehört.
Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn man den Weltuntergang auf Tag und Stunde genau vorausberechnet hätte. Dann hätten wir uns alle ein Leitmotiv — von Panik bis hin zu frommer Resignation — wählen und die menschliche Geschichte mit einem angemessenen Sinn fürs Timing, den Blick immer auf die Uhr gerichtet, zu Ende bringen können.
Aber womit wir es hier zu tun hatten, war nur eine — allerdings hohe — Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendwann ausgelöscht würden, in einem stetig lebensfeindlicher werdenden Sonnensystem. Gut, vermutlich konnte nichts uns auf Dauer vor der expandierenden Sonne schützen, die wir alle auf den von Weltraumsonden aufgenonmmenen NASA-Bildern gesehen hatten — aber vorerst waren wir abgeschirmt, aus Gründen, die niemand erklären konnte. Die Krise, falls es denn eine solche gab, war nicht zu greifen, der einzige den Sinnen zugängliche Hinweis war die Abwesenheit der Sterne — Abwesenheit als Hinweis, Hinweis auf Abwesenheit.
Wie also gestaltet man ein Leben, über dem drohend die Möglichkeit der Auslöschung schwebt? Diese Frage definierte unsere Generation. Für Jason war es nicht weiter schwierig, wie es schien; er hatte sich kopfüber in das Problem gestürzt: binnen kurzem wurde der Spin sein Leben. Und auch für mich war es, vermute ich, relativ einfach. Ich hatte ohnehin eine Neigung für die Medizin gehabt, und das schien jetzt, in der Atmosphäre einer vor sich hinköchelnden Krise, eine besonders glückliche Wahl zu sein. Vielleicht stellte ich mir vor, Leben zu retten, sollte das Ende der Welt sich als nicht nur hypothetisch erweisen, aber auch nicht auf einen Schlag erfolgen. Aber kam es darauf noch an, wenn wir sowieso alle zum Untergang verdammt waren? Warum ein einzelnes Leben retten, wenn bald darauf alles Leben ausradiert würde? Aber natürlich retten wir Ärzte im Grunde kein Leben, sondern verlängern es günstigstenfalls, und wenn das nicht klappt, geben wir Schmerzmittel. Das ist am Ende vielleicht das Nützlichste von dem, was wir gelernt haben.
Außerdem waren College und weiterführendes Studium eine lange, aufreibende, aber willkommene Ablenkung von allem anderen Leid der Welt gewesen.
Ich kam also zurecht. Jason kam zurecht. Aber viele Menschen hatten große Schwierigkeiten. Diane war eine von ihnen.
Ich war gerade dabei, mein Einzimmer-Apartment in Stony Brook auszuräumen, als Jason anrief.
Es war früher Nachmittag. Die von der Sonne nicht zu unterscheidende optische Illusion strahlte. Der Hyundai war beladen und bereit, die Fahrt nach Hause anzutreten. Mein Plan sah vor, dass ich ein paar Wochen bei meiner Mutter verbringen und dann noch ein oder zwei Wochen gemütlich mit dem Auto durch die Gegend fahren würde. Dies war die letzte freie Zeit, die ich vor Antritt meiner Assistenzarztstelle in Harborview in Seattle haben würde, und ich hatte die Absicht, sie zu nutzen, um ein wenig von der Welt zu sehen, jedenfalls von dem Teil der Welt, der zwischen Maine und dem Staat Washington lag. Aber Jason hatte andere Vorstellungen. Und er ließ mich kaum mein Hallo-wie-geht’s aussprechen, kam gleich zur Sache.
»Tyler, diese Gelegenheit ist zu gut, als dass man sie verpassen darf. E. D. hat ein Sommerhaus in den Berkshires gemietet.«
»Ach ja? Schön für ihn.«
»Aber er kann es nicht nutzen. Letzte Woche hat er ein Aluminiumpresswerk in Michigan besichtigt und dabei ist er von einer Ladeplattform gefallen und hat sich die Hüfte angebrochen.«
»Oh, tut mir Leid.«
»Es ist nichts Ernstes, die Heilung schreitet voran, aber er muss noch eine Weile auf Krücken gehen, und er will nicht den ganzen Weg nach Massachusetts kutschieren, nur um dort herumzusitzen und Percodan zu lutschen. Und Carol war von Anfang an nicht so furchtbar begeistert von der Idee.« Was mich nicht weiter überraschte — Carol Lawton war zur Gewohnheitstrinkerin geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie in den Berkshires hätte anfangen wollen, außer vielleicht noch ein bisschen mehr zu trinken. »Die Sache ist die«, fuhr Jason fort, »er kann nicht mehr von dem Vertrag zurücktreten, das Haus steht also drei Monate lang leer. Daher dachte ich, wo du doch gerade deinen Abschluss gemacht hast, wir könnten vielleicht wenigstens ein paar Wochen zusammen verbringen. Vielleicht Diane überreden, auch zu kommen. Vielleicht mal ein Konzert besuchen. In den Wäldern spazieren gehen. Wie in alten Zeiten. Tatsächlich bin ich schon auf dem Sprung dorthin. Was sagst du, Tyler?«
Ich war im Begriff, ihm abzusagen. Aber dann dachte ich an Diane. Ich dachte an die wenigen Briefe und Anrufe, die wir zu den üblichen Anlässen gewechselt, und an all die unbeantworteten Fragen, die sich zwischen uns aufgehäuft hatten. Ich wusste, es wäre klüger gewesen, abzusagen. Aber es war zu spät. Mein Mund hatte bereits ja gesagt.
Also verbrachte ich noch eine weitere Nacht auf Long Island, dann zwängte ich meine letzten Habseligkeiten in den Kofferraum des Autos und folgte dem Northern State Parkway bis zum Long Island Expressway.
Der Verkehr war nicht der Rede wert, und das Wetter schon fast unglaubwürdig schön. Es war ein strahlend blauer Nachmittag. Ich wollte das Morgen an den Meistbietenden verkaufen und mich für immer am, im oder auf dem zweiten Juli niederlassen. Ich fühlte mich so besinnungslos, so glücklich wie lange nicht mehr.
Dann schaltete ich das Radio ein.
Ich war alt genug, mich an die Zeit zu erinnern, als eine »Radiostation« noch ein Gebäude mit einem Sender und einer Turmantenne war, als der Radioempfang von Stadt zu Stadt mal besser, mal schlechter war. Viele solcher Stationen existierten immer noch, doch das Analogradio des Hyundais hatte etwa eine Woche nach Ablauf der Garantie den Geist aufgegeben. Damit blieb das Digitalprogramm (übertragen durch einen oder mehrere von E. D.s Aerostaten in der Hochatmosphäre). Üblicherweise hörte ich Jazz-Downloads aus dem zwanzigsten Jahrhundert, eine Vorliebe, die ich beim Stöbern in der Plattensammlung meines Vaters erworben hatte. Das, so redete ich mir gern ein, war sein wahres Erbe: Duke Ellington, Billie Holiday, Miles Davis. Musik, die schon alt war, als der junge Marcus Dupree sie entdeckt hatte, verstohlen weitergegeben wie ein Familiengeheimnis. Was ich jetzt, in diesem Moment, hören wollte, war »Harlem Air Shaft«, aber bei der Wartung des Wagens vor Reiseantritt waren meine Einstellungen gelöscht und ein Nachrichtenkanal einprogrammiert worden, den ich irgendwie nicht wieder los wurde. Also musste ich mir alles Mögliche über Naturkatastrophen und Prominente, die in irgendwelche Skandale verwickelt waren, anhören. Und es war auch vom Spin die Rede.
Inzwischen nannten wir es den Spin.
Obwohl der größere Teil der Welt nicht daran glaubte.
Die Umfragen waren ziemlich eindeutig. Die NASA hatte noch in jener Nacht, als Jason Diane und mich eingeweiht hatte, Datenmaterial der Orbitalsonden veröffentlicht, Ergebnisse, die bald durch eine Reihe von europäischen Erhebungen bestätigt wurden. Dennoch sah nur eine Minderheit der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung acht Jahre, nachdem sie über den Spin informiert worden war, diesen als »eine Bedrohung für sich oder ihre Familien« an. Und in weiten Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens betrachteten stabile Mehrheiten die ganze Angelegenheit als amerikanische Verschwörung oder einen Unfall, ein fehlgeschlagener Versuch, ein Verteidigungssystem in der Art von SDI zu installieren.
Ich hatte Jason einmal gefragt, warum das so war. Er sagte: »Bedenke, was das ist, das sie da glauben sollen. Wir haben es, global gesehen, mit einer Bevölkerung zu tun, die ein fast noch vor-newtonsches Verständnis von Astronomie hat. Was brauchst du denn wirklich über den Mond und die Sterne zu wissen, wenn du ganz davon beansprucht bist, ausreichend Biomasse zusammenzukratzen, um dich und deine Familie zu ernähren? Um diesen Leuten irgendetwas Sinnvolles über den Spin zu erzählen, musst du ganz weit ausholen. Die Erde, musst du ihnen zuerst einmal sagen, ist einige Milliarden Jahre alt. Lass sie sich an der Vorstellung von ›einige Milliarden Jahre‹ abarbeiten. Da hat man viel zu schlucken, vor allem, wenn man in einer muslimischen Theokratie, einem animistischen Dorf oder einer Schule im Bible Belt unterrichtet worden ist. Dann erzähl ihnen, dass die Erde nicht unveränderlich ist, dass es ein Zeitalter, länger als das unsere, gegeben hat, in dem die Meere Dampf und die Luft Gift waren. Erzähl ihnen, wie das Leben spontan entstanden ist und sich über drei Milliarden Jahre sporadisch entwickelt hat, bevor das erste als Mensch zu bezeichnende Wesen zustande gekommen ist. Sprich dann über die Sonne, davon, dass auch die nicht ewig besteht, sondern als eine sich zusammenziehende Wolke aus Gas und Staub begonnen hat und eines Tages, in ein paar Milliarden Jahren, expandieren, die Erde verschlucken, ihre äußeren Schichten absprengen und zu einem kleinen Klumpen ultradichter Materie zusammenschrumpfen wird. Einführung in die Kosmologie, nicht wahr? Du kennst das alles aus diesen Paperbacks, die du früher gelesen hast, für dich ist das selbstverständlich, aber für die meisten Menschen ist es ein völlig neuer Blick auf die Welt und vermutlich verstößt es gegen ihre zentralen Glaubensdogmen. Also lass sie das erst mal langsam begreifen. Lass es sich setzen. Dann rück mit der wirklich schlechten Nachricht raus: Die Zeit selbst ist flüssig und unberechenbar. Die Welt, die so unerschütterlich wirkt — trotz all dem, was wir eben gelernt haben —, ist kürzlich in eine Art kosmischen Kaltraum eingeschlossen worden. Warum hat man das mit uns gemacht? Das wissen wir nicht genau. Wir glauben, es wurde bewirkt — und zwar bewusst bewirkt — von Wesen, die so mächtig und unzugänglich sind, dass man sie durchaus als Götter bezeichnen könnte. Und wenn wir die Götter verärgern, entziehen sie uns vielleicht den Schutzschild, und dann werden recht bald die Berge zu schmelzen und die Meere zu kochen anfangen. Aber glaubt nicht unseren Worten. Ignoriert den Sonnenuntergang und den Schnee, der im Winter auf die Berge fällt, wie eh und je. Wir haben Beweise. Wir haben Berechnungen, logische Schlussfolgerungen, Fotos, die von Maschinen aufgenommen wurden. Forensische Beweise höchsten Kalibers.« Jason legte die traurig fragende Variante seines Lächelns auf. »Und doch ist die Jury nicht überzeugt.«
Und es waren nicht nur die Unwissenden, die sich nicht überzeugen ließen. In diesem Moment beklagte sich im Radio der Vorstandsvorsitzende eines Versicherungskonzerns über die wirtschaftlichen Auswirkungen »dieses ständigen unkritischen Geredes über den sogenannten Spin«. Die Menschen fingen an, die Sache ernst zu nehmen, sagte er, und das sei schlecht fürs Geschäft. Es mache die Leute leichtsinnig. Es leiste der Unmoral, dem Verbrechen, dem Schuldenmachen Vorschub. Schlimmer noch, es verfälsche alle Versicherungsstatistiken. »Falls die Welt nicht in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren untergeht«, sagte er, »könnten wir vor einer Katastrophe stehen.«
Wolken begannen von Westen her aufzuziehen. Eine Stunde später war der prachtvolle blaue Himmel vollständig bedeckt, und erste Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Ich schaltete die Scheinwerfer an.
Im Radio war man von den Versicherungsstatistiken zum nächsten Thema übergangen. Ein Thema, das in letzter Zeit die Schlagzeilen beherrscht hatte: die Silberkästen, so groß wie eine ganze Stadt, die außerhalb der Spin-Barriere schwebten, hunderte von Kilometern über beiden Polen der Erde. Die in fester Position schwebten, nicht etwa in einer Umlaufbahn kreisten. Ein Objekt kann in einer festen Umlaufbahn über dem Äquator hängen — geosynchrone Satelliten hatten das früher getan —, aber den elementaren Bewegungsgesetzen zufolge gibt es nichts, das in einer festen Position über den Polen des Planeten »kreisen« könnte. Und trotzdem hingen dort diese Dinger, entdeckt von einer Radarsonde und kürzlich fotografiert während einer unbemannten Flyby-Mission — eine weitere Schicht im Rätselwerk des Spins, und ebenso unbegreiflich für die verwirrten Massen, zu denen in diesem Fall auch ich zählte. Ich wollte mit Jason darüber reden. Ich glaube, ich wollte, dass er mir das alles genau erklärte.
Es regnete in Strömen und Donner grummelte in den Hügeln, als ich endlich vor E. D. Lawtons Sommermietshaus in der Nähe von Stockbridge hielt, ein englisches Cottage im ländlichen Stil, die Außenverkleidung arsengrün gestrichen, gelegen in einem etwa hundert Morgen großen Stück geschützten Waldes. Es leuchtete in der Dämmerung wie eine Sturmlaterne. Jason war schon da, sein weißer Ferrari parkte unter einer Überdachung, von der es nur so heruntertropfte.
Er musste mein Auto gehört haben, denn die große Eingangstür ging auf, bevor ich klopfen konnte. »Tyler!«, rief er grinsend.
Ich trat ein und stellte meinen regenfeuchten Koffer auf dem Fliesenboden der Diele ab. »Lange nicht gesehen, Jase«.
Wir waren über E-Mail und Telefon in Verbindung geblieben, aber von einigen kurzen Feiertagsbesuchen im Großen Haus abgesehen, war dies das erste Mal seit acht Jahren, dass wir uns zusammen in einem Raum befanden. Vermutlich hatte die Zeit bei uns beiden ihre Spuren hinterlassen, eine unauffällige Bestandsaufnahme sollte das bestätigen. Ich hatte ganz vergessen, wie eindrucksvoll sein Äußeres war. Er war schon immer groß gewesen, stets entspannt in seinem Körper ruhend; das war immer noch so, obwohl er ein bisschen magerer als früher wirkte, nicht zerbrechlich, aber in einem zerbrechlichen Gleichgewicht, wie ein auf dem Kopfende stehender Besenstiel. Seine Haare bildeten ein gleichmäßiges Stoppelfeld von einem knappen Zentimeter Länge. Und obwohl er einen Ferrari fuhr, legte er nach wie vor keinen Wert auf einen wie auch immer gearteten persönlichen Stil: er trug abgerissene Jeans, einen ausgebeulten, zerfransten Strickpullover und billige Halbschuhe.
»Hast du unterwegs gegessen?«, fragte er.
»Spätes Mittagessen.«
»Hungrig?«
War ich nicht, aber ich gestand, dass ich ziemlich scharf auf eine Tasse Kaffee war. Das Medizinstudium hatte mich in die Koffeinabhängigkeit getrieben. »Du hast Glück«, sagte Jason. »Ich hab auf der Fahrt hierher ein Pfund Guatemaltekischen gekauft.« Die Guatemalteken, unbekümmert um das Ende der Welt, ernteten also immer noch Kaffeebohnen. »Ich setz eine Kanne auf. Dann zeig ich dir alles.«
Wir machten einen Rundgang durchs Haus. Es hatte eine gewisse Zwanzigstes-Jahrhundert-Verspieltheit, mit apfelgrün und herbstorange gestrichenen Wänden, soliden antiquarischen Möbeln, Messingbetten und Spitzenvorhängen vor bauchigem Fensterglas, an dem unablässig der Regen herabströmte. Moderne Annehmlichkeiten in der Küche und im Wohnzimmer — großer Fernseher, Musikanlage, Internetanschluss. Behaglich im Regen. Nach unten zurückgekehrt, schenkte Jason den Kaffee ein. Wir saßen am Küchentisch und brachten uns auf den neuesten Stand.
Was seine Arbeit betraf, äußerte sich Jason unbestimmt, aus bescheidener Zurückhaltung oder aus Sicherheitsgründen. In den acht Jahren, nachdem die wahre Natur des Spins enthüllt worden war, hatte er einen Doktortitel in Astrophysik erworben, dann aber die Universität verlassen, um, in vorerst noch nachgeordneter Position, in E. D.s Perihelion-Stiftung einzutreten. Vielleicht kein schlechter Zug, war E. D. doch inzwischen ein hochrangiges Mitglied von Präsident Walkers Sonderausschuss für Globale Umweltkrisenplanung. Laut Jase stand Perihelion kurz davor, von einer Raumfahrt-Expertenkommission in ein offizielles Beratungsgremium umgewandelt zu werden, ausdrücklich autorisiert, politische Vorgaben zu machen.
»Ist das denn legal?«
»Sei nicht naiv, Tyler. E. D. hat sich von Lawton Industries zurückgezogen. Er hat seinen Vorstandsposten niedergelegt, und seine Anteile werden treuhänderisch verwaltet. Unseren Anwälten zufolge ist er konfliktfrei.«
»Und was machst du bei Perihelion?«
Er lächelte. »Ich höre den Älteren aufmerksam zu und mache höfliche Vorschläge. Aber erzähl mir von der Medizin.«
Er fragte mich, ob ich es widerwärtig fände, derart viel menschliche Schwäche und Krankheit zu Gesicht zu bekommen. Also erzählte ich ihm von meinem Anatomieseminar im zweiten Jahr. Zusammen mit einem Dutzend anderer Studenten hatte ich eine menschliche Leiche seziert und deren Inhalt nach Größe, Farbe, Funktion und Gewicht sortiert. Keine angenehme Erfahrung. Der einzige Trost lag in der Wahrheit und der einzige Verdienst im Nutzen. Aber es war auch ein Meilenstein, ein Gang auf die andere Seite. Jenseits dieses Punktes war von der Kindheit nichts mehr übrig.
»Herrgott, Tyler. Willst du vielleicht etwas Stärkeres als den Kaffee da?«
»Ich sag nicht, dass es eine große Sache war. Das ist ja das Schockierende daran. Es war keine große Sache. Du gehst da rein und hinterher ins Kino.«
»Aber ein weiter Weg vom Großen Haus.«
»Ein weiter Weg. Für uns beide.« Ich hob meine Tasse.
Dann tauschten wir Erinnerungen aus, und die Spannung in unserer Unterhaltung verflüchtigte sich. Wir sprachen von den alten Zeiten. Dabei folgten wir, wie ich bald merkte, einem bestimmten Muster. Jason erwähnte einen Ort — den Keller, die Mall, den Bach im Wäldchen —, und ich erzählte eine Geschichte dazu: Wie wir uns einmal an dem Spirituosenschrank vergangen hatten; wie wir einmal ein Rice-Mädchen namens Kelley Weens beobachtet hatten, als sie eine Packung Kondome aus der Drogerie klaute; wie Diane uns in dem einen Sommer unbedingt aus dem lyrischen Werk von Christina Rossetti vorlesen musste, atemlos, als habe sie etwas Bedeutendes entdeckt.
Der große Rasen, gab Jason vor. Die Nacht, als die Sterne verschwanden, sagte ich.
Und dann waren wir für eine Weile still.
»Sie ist immer noch dort unten?« Das war das Letzte, was ich gehört hatte, übermittelt von meiner Mutter. Diane besuchte ein College im Süden und studierte etwas, das ich mir nicht richtig hatte merken können: Urbane Geographie, Ozeanographie oder irgendeine andere abwegige Ographie.
»Ja, immer noch.« Jason rutschte auf seinem Stuhl herum. »Weißt du, Ty, bei Diane hat sich vieles verändert.«
»Na, das muss einen nicht unbedingt überraschen.«
»Sie ist mehr oder weniger verlobt. Will heiraten.«
Ich trug’s halbwegs mit Fassung. »Tja, schön für sie.« Welchen Grund hätte ich gehabt, eifersüchtig zu sein? Ich hatte keine Beziehung mehr zu Diane — hatte nie eine gehabt, jedenfalls nicht in der engeren Bedeutung des Wortes. Und ich war einmal fast selbst verlobt gewesen, in Stony Brook im zweiten Jahr, mit einer Studentin namens Candice Boone. Es hatte uns Spaß gemacht, einander »Ich liebe dich« zu sagen, bis wir dessen irgendwann überdrüssig wurden. Ich glaube, bei Candice begann der Überdruss zuerst.
Und dennoch: mehr oder weniger verlobt? Wie ging das denn?
Ich war versucht zu fragen, aber Jason fühlte sich sichtlich nicht wohl mit der Wendung, die unser Gespräch genommen hatte. Eine weitere Erinnerung stellte sich ein: Einmal, noch im Großen Haus, hatte Jason eine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie seiner Familie vorzustellen. Er hatte sie im Schachklub von Rice kennen gelernt, ein einfaches, aber nettes Mädchen, zu schüchtern, um viel zu sagen. Carol war an jenem Abend relativ nüchtern, aber E. D. war mit dem Mädchen sichtlich nicht einverstanden, behandelte sie demonstrativ unfreundlich, und als sie gegangen war, scholt er Jason dafür, »so ein Exemplar ins Haus zu schleppen«. Mit einem großen Verstand, so E. D., sei eine entsprechende Verantwortung verbunden. Er wolle nicht, dass Jason in eine konventionelle Ehe gelockt würde, wolle nicht mit ansehen müssen, wie er »Windeln an die Wäscheleine« hänge, anstatt sich »in der Welt einen Namen zu machen«.
Die meisten an Jasons Stelle hätten wohl aufgehört, ihre Freundinnen mit nach Hause zu bringen.
Jason aber hatte einfach aufgehört, Freundinnen zu haben.
Das Haus war leer, als ich am nächsten Morgen aufwachte.
Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht: Jason war losgefahren, um Vorräte fürs Grillen zu besorgen. Bin mittags zurück oder auch später. Jetzt war es halb zehn. Ich hatte luxuriös lange geschlafen, schon überkam mich Sommerferienträgheit.
Das Haus schien sie zu befördern. Die Stürme der letzten Nacht waren weitergezogen, eine angenehme Morgenbrise wehte durch die Kattunvorhänge, das Sonnenlicht legte Unregelmäßigkeiten in der Maserung der Arbeitsplatte in der Küche bloß. Ich frühstückte gemütlich am Fenster und beobachtete die Wolken, die wie stattliche Schoner über den Horizont segelten.
Kurz nach zehn klingelte es an der Tür, und ich bekam kurz Panik bei dem Gedanken, dass es Diane sein könnte. Hatte sie spontan beschlossen, ein bisschen früher zu kommen? Nein, es war »Mike, der Gartenmann« mit Halstuch und ärmellosem T-Shirt, der mir Bescheid geben wollte, dass er jetzt den Rasen mähen werde — er wolle niemanden aufwecken, aber der Mäher sei ziemlich laut; er könne aber auch am Nachmittag wiederkommen, falls das ein Problem sei. Überhaupt kein Problem, sagte ich, und ein paar Minuten später fuhr er die Konturen des Grundstücks mit einem uralten grünen John Deere ab, der die Luft mit brennendem Öl einfettete. Immer noch ein wenig schläfrig, fragte ich mich, wie diese Gartenarbeit sich wohl im Angesicht dessen ausnehmen würde, was Jason gerne als das »Universum im Ganzen« bezeichnete. Für das Universum im Ganzen war die Erde ein Planet kurz vor dem Stillstand. Die Grashalme dort draußen im Garten waren über Jahrhunderte gewachsen, in ihrer Bewegung ebenso majestätisch gemessen wie die Evolution der Sterne. Mike, eine vor einigen Milliarden Jahren geborene Naturgewalt, mähte sie mit unendlicher Geduld. Die abgetrennten Halme fielen, von der Schwerkraft leicht angehaucht, über viele, viele Jahre hinweg zwischen Sonne und Lehmboden, einem Boden, in dem Methusalemwürmer wühlten, während anderswo in der Galaxis womöglich ganze Reiche aufstiegen und wieder vergingen.
Jason hatte natürlich Recht: Es war schwer, an so etwas zu glauben. Oder nein, nicht daran »zu glauben« — die Menschen glauben ja an alles mögliche unplausible Zeug —, sondern es als grundlegende Wahrheit über die Welt zu akzeptieren. Ich saß auf der Veranda, an der von dem dröhnenden Deere abgewandten Seite des Hauses, die Luft war kühl, und die Sonne, als ich ihr mein Gesicht zukehrte, fühlte sich gut an, obwohl ich wusste, was es war — gefilterte Strahlung für eine Welt im Spin, eine Welt, in der Jahrhunderte verjubelt wurden, als sei’s nur eine Sekunde.
Kann nicht wahr sein. Ist aber wahr.
Ich dachte wieder an mein Studium, an das Anatomieseminar, von dem ich Jason erzählt hatte. Candice Boone, meine Beinahe-Verlobte, hatte mit mir diesen Kurs besucht. Während des Sezierens hatte sie sich gelassen gezeigt, doch hinterher nicht mehr. Ein menschlicher Körper, sagte sie, sollte Liebe enthalten, Hass, Mut, Feigheit, Seele, Geist — nicht diese schleimige Ansammlung von blauen und roten Imponderabilien. Ja. Und wir sollten nicht gegen unseren Willen in eine tödliche Zukunft gezerrt werden.
Aber die Welt ist, wie sie ist, und sie lässt nicht mit sich verhandeln. Etwas in der Art sagte ich zu Candice.
Sie erklärte, ich sei »kalt«. Mag sein, aber ich glaube, ich war mit dieser Bemerkung dem, was man als Weisheit bezeichnen könnte, näher gekommen als je zuvor.
Der Morgen schritt voran. Mike war mit dem Rasen fertig und fuhr wieder weg, hinterließ eine von feuchter Stille erfüllte Luft. Nach einer Weile raffte ich mich auf und rief meine Mutter in Virginia an, wo das Wetter, wie sie sagte, weniger einladend als in Massachusetts war, noch immer bewölkt nach einem Sturm in der Nacht, der einige Bäume und Strommasten gefällt hatte. Ich berichtete, dass ich sicher in E. D.s Sommerhaus angekommen sei. Sie fragte, was Jason für einen Eindruck mache, obwohl sie ihn vermutlich vor nicht allzu langer Zeit selbst gesehen hatte, während einem seiner Besuche im Großen Haus. »Älter«, erwiderte ich. »Aber immer noch Jase.«
»Macht er sich Sorgen wegen dieser China-Sache?« Meine Mutter war seit dem Oktober-Ereignis zum Nachrichtenjunkie geworden, hatte ständig CNN laufen, nicht aus Vergnügen, ja nicht mal wegen eines Bedürfnisses nach Information, sondern in erster Linie zur Beruhigung, zur Rückversicherung, so wie ein mexikanischer Dorfbewohner ständig ein Auge auf den nahen Vulkan haben mag, in der Hoffnung, dass der noch nicht angefangen hat zu rauchen. Die China-Sache sei im gegenwärtigen Stadium nur eine diplomatische Krise, sagte sie, obwohl einige Säbel schon sanft rasselten. Es ging um irgendeinen strittigen Satellitenstart, den die Chinesen planten. »Du solltest Jason danach fragen.«
»Hat E. D. dir mit diesem Zeug Angst gemacht?« »Nein. Hin und wieder höre ich einiges von Carol.«
»Ich weiß nicht, wie weit du dem trauen solltest.«
»Ach komm, Ty. Sie trinkt, aber sie ist nicht blöd. Ich übrigens auch nicht, jedenfalls nicht sehr.«
»Das wollte ich damit überhaupt nicht sagen.«
»Das meiste, was ich dieser Tage über Jason und Diane höre, kommt von Carol.«
»Hat sie gesagt, ob Diane in die Berkshires kommt? Von Jason kriege ich keine richtige Antwort.«
Meine Mutter zögerte. »Diane ist in den letzten Jahren ein bisschen unberechenbar gewesen. Daran liegt es vermutlich.«
»Was genau bedeutet unberechenbar?«
»Ach, na ja. Keine großen Erfolge am College. Ein paar Probleme mit dem Gesetz…«
»Mit dem Gesetz?«
»Ich meine, sie hat keine Bank ausgeraubt oder so, aber sie ist ein paarmal festgenommen worden, wenn NK-Versammlungen außer Kontrolle geraten sind.«
»Was zum Teufel hat sie bei NK-Versammlungen gemacht?«
Erneute Pause. »Du solltest wirklich Jason danach fragen.«
Die Absicht hatte ich.
Sie hustete — ich stellte sie mir vor, mit einer Hand über dem Telefon, den Kopf diskret zur Seite gedreht —, und ich fragte: »Wie fühlst du dich?«
»Müde.«
»Irgendwas Neues vom Doktor?« Sie war wegen Anämie in Behandlung. Flaschen voller Eisentabletten.
»Nein. Ich werde einfach alt, Ty. Früher oder später werden wir alle alt. Ich erwäge, in den Ruhestand zu gehen. Wenn du das, was ich tue, Arbeit nennen willst. Jetzt, wo die Zwillinge weg sind, sind ja nur noch Carol und E. D. zu versorgen, und E. D. auch kaum noch, seit die Sache in Washington angelaufen ist.«
»Hast du ihnen gesagt, dass du ans Aufhören denkst?«
»Noch nicht.«
»Es wäre nicht mehr das Große Haus ohne dich.« Sie lachte, nicht unbedingt glücklich. »Ich glaube, vom Großen Haus habe ich genug. Für ein Leben reicht es, danke sehr.« Aber sie sprach dann nie wieder von ihrem Plan. Ich glaube, es war Carol, die sie zum Bleiben überredete.
Jason kam irgendwann nachmittags zurück. »Ty?« Seine übergroßen Jeans hingen an den Hüften wie die Takelage eines in die Flaute geratenen Schiffes, und sein T-Shirt war gesprenkelt mit diversen Soßenflecken. »Hilf mir mal eben mit dem Grill, ja?«
Ich ging mit ihm nach draußen. Es handelte sich um den üblichen Propangasgrill. Jason hatte noch nie einen benutzt. Er öffnete das Ventil, drückte den Zündknopf und zuckte zusammen, als die Flammen hochzüngelten. Dann grinste er mir zu. »Wir haben Steaks. Wir haben einen Dreibohnensalat aus dem Delikatessenladen.«
»Und kaum Mücken.«
»Ja, hier wurde im Frühling gesprüht. Schon Hunger?«
Hatte ich. Irgendwie war ich beim Verdösen des Nachmittags hungrig geworden. »Grillen wir für zwei oder drei?«
»Ich warte noch immer darauf, dass ich was von Diane höre. Wahrscheinlich erfahren wir’s nicht vor heute Abend. Also nur wir beide zum Essen, denke ich.«
»Vorausgesetzt, die Chinesen schmeißen uns nicht vorher eine Bombe auf den Kopf.« Nur so als Köder.
Jason schnappte zu. »Machst du dir Sorgen wegen der Chinesen? Das ist nicht mal mehr eine Krise. Wurde beigelegt.«
»Was für eine Erleichterung.« Ich hatte von der Krise und von ihrer Beilegung an ein und demselben Tag erfahren. »Meine Mutter hat darüber gesprochen. War wohl in den Nachrichten.«
»Das chinesische Militär will die polaren Artefakte unter Beschuss nehmen. Sie haben Raketen mit atomaren Sprengköpfen startbereit auf ihren Rampen in Jiuquan stehen. Das Kalkül ist: Wenn sie die Polargeräte zerstören, dann reißen sie damit vielleicht den ganzen Oktoberschutzschirm ein. Natürlich gibt es keinen Grund zur Annahme, dass das funktioniert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Waffen einer Technologie etwas anhaben können, die imstande ist, Zeit und Gravitation zu manipulieren?«
»Also haben wir den Chinesen gedroht und sie haben klein beigegeben?«
»Ein bisschen war’s so. Ein bisschen Peitsche, aber auch ein bisschen Zuckerbrot. Wir haben angeboten, sie mit an Bord zu nehmen.«
»An Bord?«
»Sie dürfen mitmachen bei unserem eigenen kleinen Projekt zur Rettung der Welt.«
»Jetzt machst du mir aber wirklich ein bisschen Angst, Jase.«
»Reich mir mal die Zange da. Tut mir Leid, ich weiß, das klingt geheimnisvoll. Ich darf eigentlich gar nicht über diese Dinge sprechen. Mit niemandem.«
»Aber bei mir machst du eine Ausnahme?«
»Bei dir mache ich immer eine Ausnahme.« Er lächelte. »Wir reden beim Essen drüber, ja?«
Ich ließ ihn allein am Grill, eingehüllt von Rauch und Hitze.
Zwei aufeinander folgenden amerikanischen Regierungen war von der Presse vorgeworfen worden, sie würden »nichts gegen den Spin tun«. Aber diese Kritik disqualifizierte sich selbst, denn niemand wusste, was man denn überhaupt tun könne. Und jede offen aggressive Vorgehensweise — wie die von den Chinesen vorgeschlagene — wäre völlig unkalkulierbar gewesen.
Perihelion machte sich für einen anderen Ansatz stark.
»Die Leitmetapher«, sagte Jason, »ist nicht die Schlacht. Sondern Judo. Das Gewicht und den Schwung eines größeren Gegners nutzen und gegen ihn wenden. Das ist es, was wir mit dem Spin machen wollen.«
Er erzählte mir das ganz lakonisch, während er sein Steak mit chirurgischer Präzision zerschnitt. Wir aßen in der Küche, hatten aber die Hintertür offen gelassen. Eine riesige Hummel, so fett und gelb, dass sie wie ein in der Luft schwebendes Wollknäuel aussah, prallte gegen das Fliegengitter.
»Versuch mal«, sagte er, »den Spin nicht als Überfall, sondern als Chance zu verstehen.«
»Eine Chance, um was zu tun? Vorzeitig zu sterben?«
»Eine Chance, die Zeit für unsere eigenen Zwecke zu nutzen, auf eine Weise, die vorher gar nicht denkbar gewesen wäre.«
»Ist nicht Zeit das, was sie uns weggenommen haben?«
»Im Gegenteil. Außerhalb unserer kleinen Erdblase haben wir Millionen von Jahren, mit denen wir etwas anfangen können. Und wir haben ein Werkzeug, das gerade über solche großen Zeiträume hinweg extrem verlässlich funktioniert.«
»Werkzeug?«, fragte ich verwirrt, während er einen weiteren Rindfleischwürfel aufspießte. Es war eine Mahlzeit, die sich auf das Wesentliche konzentrierte: ein Steak auf dem Teller, eine Flasche Bier daneben. Keine Beigaben, abgesehen vom Dreibohnensalat, von dem er sich eine sehr bescheidene Portion nahm.
»Ja, ein Werkzeug, ein sehr naheliegendes: Evolution.«
»Evolution?«
»Wir werden uns nicht vernünftig unterhalten können, Tyler, wenn du immer nur das wiederholst, was ich sage.«
»Okay, also, Evolution als Werkzeug… Ich verstehe aber nicht, wie wir uns in dreißig oder vierzig Jahren so weit entwickeln können, dass es irgendetwas bewirkt.«
»Nicht wir, um Gottes willen, und mit Sicherheit nicht in dreißig oder vierzig Jahren. Ich spreche von einfachen Lebensformen. Ich spreche von Äonen. Ich spreche vom Mars.«
»Mars.« Hoppla.
»Stell dich nicht so begriffsstutzig. Denk nach!«
Der Mars war ein in funktioneller Hinsicht toter Planet, auch wenn er einstmals primitive Vorformen des Lebens aufgewiesen haben mochte. Außerhalb des Spins hatte er sich seit dem Oktober-Ereignis, gewärmt von einer expandierenden Sonne, über Millionen von Jahren »entwickelt«. Den jüngsten Orbitalfotos zufolge war er immer noch ein toter, ausgetrockneter Planet. Hätte er einfaches Leben und ein entsprechend günstiges Klima besessen, wäre aus ihm, so vermutete ich, inzwischen ein üppiger grüner Urwald geworden. Aber ersteres war nicht der Fall und folglich alles andere auch nicht.
»Früher hat man hier und da über Terraformung gesprochen«, sagte Jason. »Erinnerst du dich an die spekulativen Romane, die du damals gelesen hast?«
»Ich lese sie immer noch, Jase.«
»Nur zu. Wie würdest du es anfangen, wenn du den Mars terraformen solltest?«
»Ich würde versuchen, eine ausreichend große Menge von Treibhausgasen in die Atmosphäre zu bekommen, damit er sich aufwärmt. Das ganze gefrorene Wasser entbinden. Einfachste Organismen aussäen. Aber selbst wenn man die optimistischsten Annahmen zugrunde legt, dauert das…«
Er lächelte.
»Du veräppelst mich.«
»Nein.« Das Lächeln verflog. »Überhaupt nicht. Das ist alles ganz und gar ernst gemeint.«
»Aber wie soll das…?«
»Beginnen würden wir damit, dass wir, aufeinander abgestimmt, eine Reihe von Raumfahrzeugen losschicken, die künstlich hergestellte Bakterien transportieren. Einfacher Ionenantrieb und langsames Gleiten zum Mars hin. Möglichst kontrollierter Aufprall, den die Einzeller überleben können, und ein paar größere Nutzlasten mit Sprengkopf, um die Organismen unter die Oberfläche des Planeten zu bringen, wo wir Wasservorkommen vermuten. Um auf Nummer sicher zu gehen, machen wir das mehrmals von verschiedenen Abschussstellen aus und mit einem ganzen Spektrum von in Frage kommenden Organismen. Das Ziel ist, genügend organische Tätigkeit loszutreten, um den in die Kruste eingeschlossenen Kohlenstoff zu lösen und in die Atmosphäre zu blasen. Dann alles ein paar Millionen Jahre sacken lassen — Monate in unserer Zeit —, anschließend neue Messungen machen. Ist es ein wärmerer Planet geworden mit dichterer Atmosphäre und vielleicht ein paar Teichen mit halbflüssigem Wasser, wiederholen wir den ganzen Zyklus, diesmal mit vielzelligen, für die dortige Umwelt konstruierten Pflanzen. Wodurch etwas Sauerstoff in die Luft gelangt, der den atmosphärischen Druck um ein paar Millibar nach oben schraubt. So oft wiederholen wie nötig. Weitere Millionen Jahre hinzufügen und umrühren. Und schon hast du dir in vertretbarer Zeit — so wie unsere Uhren eben die Zeit messen — einen bewohnbaren Planeten gezaubert.«
Es war eine atemberaubende Idee. Ich kam mir vor wie einer dieser Stichwortgeber in einem viktorianischen Abenteuerroman: »Es war ein kühner, ja tollkühner Plan, den er ersonnen hatte, aber ich konnte beim besten Willen keinen Schwachpunkt darin finden…«
Außer einem. Einem grundlegenden Schwachpunkt.
»Jason, selbst wenn das möglich wäre — was hätten wir davon?«
»Wenn der Mars bewohnbar ist, könnten Menschen dort leben.«
»Wir alle, sieben oder acht Milliarden?«
Er schnaubte. »Kaum. Nein, nur einige Pioniere. Zuchtexemplare, wenn man es ganz nüchtern betrachtet.«
»Und was sollen die da machen?«
»Leben, sich vermehren und sterben. Millionen von Generationen in jedem von unseren Jahren.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um der menschlichen Rasse eine zweite Chance im Sonnensystem zu verschaffen. Und im besten Fall — nun, sie werden alles Wissen zur Verfügung haben, das wir ihnen mitgeben können, plus ein paar Millionen Jahre, um es weiterzuentwickeln. Innerhalb der Spin-Blase haben wir nicht genug Zeit, um zu ergründen, wer die Hypothetischen sind oder warum sie das mit uns machen. Unsere marsianischen Erben haben vielleicht eine bessere Chance. Vielleicht können sie uns ein wenig das Denken abnehmen.«
Oder das Kämpfen um unsere Existenz?
(Das war übrigens das erste Mal, dass ich den Ausdruck »die Hypothetischen« gehört hatte — die hypothetischen Steuerintelligenzen, die unsichtbaren und weitgehend theoretischen Wesen, die uns in unsere Zeitgruft eingesperrt hatten. Der Name setzte sich in der Öffentlichkeit erst einige Jahre später durch. Ich konnte mich allerdings damit gar nicht anfreunden. Ich empfand die Bezeichnung als zu distanziert, zu abstrakt. Die Wahrheit war bestimmt weitaus komplexer.)
»Es existiert also ein Plan, all diese Dinge tatsächlich ins Werk zu setzen?«
»O ja.« Jason hatte sein Steak zu drei Vierteln aufgegessen; er schob den Teller von sich. »Es ist gar nicht mal so teuer. Die einzig problematische Sache ist, widerstandsfähige Einzeller zu basteln. Die Marsoberfläche ist kalt, trocken, praktisch luftlos und wird jedes Mal, wenn die Sonne aufgeht, von sterilisierender Strahlung überschwemmt. Immerhin haben wir eine ganze Menge von Extremophilen, mit denen wir arbeiten können — Bakterien, die im antarktischen Packeis oder im Ausfluss von Atomreaktoren leben. Alles andere ist erprobte Technologie. Wir wissen, dass Raketen funktionieren. Wir wissen, dass organische Evolution funktioniert. Das einzig wirklich Neue ist unsere Perspektive. Imstande zu sein, die Ergebnisse einer extremen Langzeituntersuchung schon Wochen oder Monate nach dem Start auszuwerten. Das ist… einige nennen es ›teleologische Technik‹.«
»Das ist beinahe das Gleiche«, sagte ich, das neue Wort ausprobierend, das ich von ihm gelernt hatte, »wie das, was die Hypothetischen tun.«
»Ja.« Jason hob die Augenbrauen zu einem Gesichtsausdruck, den ich nach all den Jahren immer noch schmeichelhaft fand: Überraschung, Respekt. »Ja, in gewisser Weise ist es das wohl.«
Ich habe einmal ein interessantes Detail über die erste bemannte Mondlandung im Jahre 1969 gelesen. Damals, so hieß es in dem Buch, hätten sich viele Ältere — im neunzehnten Jahrhundert geborene Männer und Frauen, alt genug, sich noch an eine Welt ohne Automobile und Fernseher zu erinnern — geweigert, der Berichterstattung Glauben zu schenken. Worte, die in ihrer Kindheit nur im Zusammenhang mit einem Märchen Sinn ergeben hätten (»zwei Männer sind heute Abend auf dem Mond spazierengegangen«), traten ihnen nunmehr als Tatsachen entgegen. Das konnten sie nicht akzeptieren. Es widersprach ihrem Gefühl dafür, was vernünftig war und was nicht.
Mir erging es jetzt genauso.
Wir werden den Mars terraformen und kolonisieren, sprach mein Freund Jason und er litt keineswegs unter Wahnvorstellungen — jedenfalls nicht mehr als die klugen und mächtigen Menschen, die seine Überzeugung offensichtlich teilten. Das Ganze war also ernst gemeint und es musste, auf irgendeiner bürokratischen Ebene, sogar schon angelaufen sein.
Nach dem Essen machte ich, solange es noch hell war, einen Spaziergang. Mike, der Gartenmann, hatte gute Arbeit geleistet: Der Rasen leuchtete wie das Modell eines Mathematikers, Hege und Pflege einer Grundfarbe. Dahinter krochen schon die Schatten in den Wald. Diane würde es hier gefallen, kam es mir in den Sinn. Wieder dachte ich an jene Sommerzusammenkünfte am Bach, Jahre war es jetzt her, als sie uns aus alten Büchern vorgelesen hatte. Einmal, als wir über den Spin sprachen, zitierte sie einen Vers des englischen Dichters A. E. Housman:
Der Grizzlybär ist wild und groß,
Verschlingt das Kind, lässt’s nicht mehr los.
Das Kind hat nicht mal wahrgenommen,
Wie’s in den Bauch des Bär’n gekommen.
Jason telefonierte gerade, als ich durch die Küchentür wieder ins Haus trat. Er sah mich an, dann drehte er sich weg und senkte die Stimme.
»Nein«, sagte er. »Wenn es so sein muss, aber — nein, ich verstehe. Ist gut. Ich hab ist gut gesagt, oder? Ist gut heißt ist gut.« Er steckte das Telefon in die Tasche.
»War das Diane?«
Er nickte.
»Kommt sie?«
»Sie kommt. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich erwähnen möchte, bevor sie hier ist. Das, worüber wir beim Essen gesprochen haben — davon dürfen wir ihr nichts sagen. Und übrigens auch sonst niemandem. Das sind keine für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen.«
»Du meinst, sie sind unter Verschluss?«
»Formal gesehen, ja, vermutlich.«
»Aber du hast mir davon erzählt.«
»Ja. Das war ein Staatsverbrechen.« Er lächelte. »Und ich vertraue darauf, dass du es für dich behältst. Nur ein bisschen Geduld — in ein paar Monaten wird sich CNN damit überschlagen. Außerdem habe ich Pläne mit dir, Ty. Irgendwann in nächster Zeit wird Perihelion Kandidaten für ein extrem raues Siedlungsprojekt prüfen. Wir werden Ärzte aller Fachrichtungen an Ort und Stelle brauchen. Wäre es nicht toll, wenn du das machen könntest, wenn wir zusammen arbeiten könnten?«
Ich erschrak. »Ich hab gerade erst meine Prüfung gemacht, Jase. Ich habe noch keinerlei Praxis.«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Du vertraust Diane nicht?«
Sein Lächeln verrutschte. »Nein, ehrlich gesagt. Nicht mehr. Nicht in dieser Sache.« »Wann wird sie hier sein?«
»Morgen Vormittag.«
»Und was ist es, das du mir nicht sagen willst?«
»Sie bringt ihren Freund mit.«
»Ist das ein Problem?«
»Du wirst schon sehen.«