4 x 109 n. Chr.

Ich überquerte ein paar Meter festgestampfte Erde, an der in schorfigen Stücken verwitterter Asphalt hing, gelangte zu einer Böschung und rutschte, ziemlich geräuschvoll, auf der anderen Seite hinunter. Mit meinen Hartschalenkoffern, die vollgepackt waren mit Kleidung, handgeschriebenen Aufzeichnungen, Digitaldateien und marsianischen Pharmazeutika, landete ich in einem Entwässerungsgraben, Wasser, so grün wie Papayablätter und so warm wie die tropische Nacht, Wasser, das den vernarbten Mond spiegelte und nach Gülle stank.

Ich kletterte wieder hinauf, versteckte das Gepäck an einer trockenen Stelle der Böschung und kroch bis ganz nach oben, wo ich mich so hinlegte, dass man mich nicht sehen konnte, ich meinerseits aber die Straße, Ibu Inas Betonschachtelklinik und den davor geparkten schwarzen Wagen im Blick hatte.

Die Männer aus dem Auto waren durch die Hintertür eingedrungen. Sie schalteten weitere Lichter ein, wodurch gelbe Quadrate in den Fenstern mit vorgezogenen Jalousien entstanden, aber was sie in dem Gebäude anstellten, konnte ich nicht erkennen. Vermutlich durchsuchten sie es. Ich versuchte zu schätzen, wie lange sie sich drinnen aufhielten, doch offenbar hatte ich die Fähigkeit verloren, Zeit zu berechnen oder sie auch nur auf meiner Uhr abzulesen. Die Ziffern leuchteten wie ruhelose Glühwürmchen, wollten aber nicht lange genug stillstehen, dass ich mir einen Reim darauf machen konnte.

Einer der Männer kam aus der Vordertür, ging zum Auto und ließ den Motor an; der zweite Mann folgte ein paar Sekunden später und sprang auf den Beifahrersitz. Der mitternachtfarbene Wagen fuhr, nachdem er auf die Straße gesetzt hatte, ganz nah an mich heran, die Scheinwerfer strichen über die Berme. Ich duckte mich und blieb still liegen, bis das Motorengeräusch verklang.

Dann überlegte ich, was ich nun tun sollte. Eine nicht leicht zu beantwortende Frage, denn ich war müde — unglaublich müde plötzlich, zu schwach, um aufzustehen. Ich wollte zurück zur Klinik, ein Telefon auftreiben, Ina wegen der Männer im Auto warnen. Aber vielleicht würde En das ja besorgen. Ich hoffte es. Weil ich es nämlich nicht bis zur Klinik schaffen würde. Meine Beine zitterten bei jeglichem Versuch, mich in Bewegung zu setzen. Das war schon mehr als Müdigkeit, das fühlte sich wie Lähmung an.

Als ich wieder zur Klinik blickte, stieg dort Rauch aus den Abzügen im Dach und das gelbe Licht hinter den Jalousien flackerte. Feuer.

Die Männer hatten Inas Klinik angezündet, und es gab nichts, was ich tun konnte, außer die Augen zu schließen und zu hoffen, dass ich nicht sterben würde, bevor mich hier jemand fand.


Ich erwachte vom Gestank des Rauches und von einem leisen Weinen.

Immer noch kein Tageslicht. Aber ich stellte fest, dass ich mich bewegen konnte, wenigstens ein bisschen, mit beträchtlicher Mühe und unter Schmerzen, und ich schien auch mehr oder weniger klar im Kopf zu sein. Also schob ich mich den Hang hoch, Stück für Stück.

Auf der offenen Fläche zwischen mir und der Klinik waren Autos und Leute, Scheinwerfer und Taschenlampen schnitten spastische Bögen in den Himmel. Die Klinik war nur mehr eine schwelende Ruine. Ihre Betonmauern standen noch, doch das Dach war eingestürzt und das Gebäude vom Feuer praktisch ausgeweidet worden. Ich schaffte es, aufzustehen. Ich ging auf das Weinen zu.

Es war Ibu Ina, die weinte. Sie saß auf einer Asphaltinsel, die Arme um die Knie geschlungen. Einige Frauen standen um sie herum, die mir düstere, misstrauische Blicke zuwarfen, als ich näherkam. Doch als Ina mich sah, sprang sie auf und wischte sich die Augen mit dem Hemdsärmel ab. »Tyler Dupree!« Sie rannte auf mich zu. »Ich dachte, Sie wären in den Flammen umgekommen. Verbrannt mit allem andern.«

Sie packte mich, umarmte mich, hielt mich aufrecht — meine Beine waren schon wieder weich geworden. »Die Klinik«, brachte ich heraus. »All Ihre Arbeit. Es tut mir so Leid, ich…«

»Nein«, unterbrach sie mich. »Die Klinik ist nur ein Gebäude. Das ganze medizinische Klimbim kann man ersetzen. Sie dagegen sind einzigartig. En hat mir erzählt, wie Sie ihn weggeschickt haben, als die Brandstifter kamen. Sie haben ihm das Leben gerettet, Tyler!« Sie trat etwas zurück. »Tyler? Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Nein, nicht so richtig. Ich blickte an Inas Schulter vorbei zum Himmel. Der Tag brach an. Die alte Sonne ging auf. Der Mount Marapi zeichnete sich vor dem indigoblauen Himmel ab. »Bin nur müde«, sagte ich und schloss die Augen. Ich fühlte, wie meine Beine nachgaben, und hörte Ina um Hilfe rufen. Dann schlafe ich eben noch ein wenig, dachte ich. Es wurden einige Tage daraus.


Aus naheliegenden Gründen konnte ich nicht im Dorf bleiben.

Ina wollte mich während des letzten Abschnitts der medikamentösen Krise pflegen und fand, dass das Dorf mir Schutz schuldete. Schließlich hatte ich Ens Leben gerettet, wie sie beharrlich versicherte, und En war nicht nur ihr Neffe, sondern auf die eine oder andere Weise mit praktisch jedem im Umkreis verwandt. Ich war ein Held. Aber ich war auch ein Magnet, der die Aufmerksamkeit böser Männer anzog, und hätte Ina sich nicht derart ins Zeug gelegt, hätten die kepala desa mich wohl in den nächsten Bus nach Padang gesetzt. So aber wurde ich, zusammen mit meinem Gepäck, in ein unbewohntes Holzhaus gebracht (die Besitzer waren vor einigen Monaten rantau gegangen), bis anderweitige Vorkehrungen getroffen werden konnten.

Die Minangkabau von Westsumatra verstanden sich bestens darauf, den Zumutungen unterdrückerischer Regimes ein Schnippchen zu schlagen. Sie hatten alles überstanden: die Heraufkunft des Islam im sechzehnten Jahrhundert, die Padri-Kriege, den holländischen Kolonialismus, Suhartos Neue Ordnung, die Nagari-Restauration und, nach dem Spin, die New Reformasi und ihre brutale Staatspolizei. Ina hatte mir dazu einige Geschichten erzählt, in der Klinik und hinterher, als ich in einem winzigen Zimmer unter den riesigen, langsam kreisenden Flügeln eines elektrischen Ventilators lag. Die Stärke der Minang, sagte sie, sei ihre Flexibilität, ihr tiefes Verständnis dafür, dass der Rest der Welt nicht so war wie ihr Zuhause und es auch nie sein würde. (Sie zitierte ein Sprichwort der Minang: »Andere Felder, andere Grashüpfer. Andere Teiche, andere Fische.«) Die Tradition des rantau — junge Männer zogen hinaus in die Welt und kehrten reicher oder weiser zurück — habe ein kultiviertes, weltkluges Volk aus ihnen gemacht. Die schlichten Büffelhornholzhäuser des Dorfes waren mit Aerostat-Antennen ausgerüstet, und die meisten hier lebenden Familien empfingen regelmäßig Briefe oder E-Mails von Verwandten aus Australien, Europa, Kanada, den USA.

Es war daher keine Überraschung, dass Minangkabau auch im Hafen von Padang in allen nur denkbaren Funktionen beschäftigt waren. Inas Ex-Mann Jala war einer von vielen im Import/Export-Geschäft, der rantau-Expeditionen zum Bogen und darüber hinaus organisierte. »Jala ist ein Opportunist, und er kann auf kleinliche Weise gemein sein, aber er ist nicht skrupellos«, sagte Ina. »Diane hatte Glück, dass sie auf ihn gestoßen ist, oder vielleicht ist sie einfach eine sehr gute Menschenkennerin. Jedenfalls hat Jala für die New Reformasi nichts übrig.« (Sie hatte sich von ihm scheiden lassen, weil er, so Ina, in der Stadt die üble Gewohnheit entwickelt hatte, mit Frauen von zweifelhaftem Ruf zu schlafen. Er gab zu viel Geld für seine Freundinnen aus, und zweimal hatte er zwar heilbare, aber unschöne Geschlechtskrankheiten mit nach Hause gebracht. Er sei ein schlechter Ehemann, sagte sie, doch kein ausgesprochen schlechter Mensch. Er würde Diane nicht an die Behörden verraten, es sei denn, er würde verhaftet und gefoltert — aber er sei viel zu clever, um sich verhaften zu lassen.)

»Die Männer, die Ihre Klinik angezündet haben…«

»Sie müssen Diane in Padang bis zum Hotel gefolgt sein und dann den Fahrer befragt haben, der Sie hierher gebracht hat.«

»Aber warum das Gebäude niederbrennen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, sie wollten Ihnen Angst machen, Sie hervorlocken. Und alle übrigen warnen, die auf die Idee kommen könnten, Ihnen zu helfen.«

»Wenn sie die Klinik gefunden haben, kennen sie auch Ihren Namen.«

»Aber sie werden nicht offen, mit gezückten Waffen, ins Dorf kommen. So sehr sind die Verhältnisse noch nicht ausgeartet. Ich denke, dass sie das Hafenviertel beobachten und hoffen, dass wir etwas Dummes tun.«

»Aber trotzdem, wenn Ihr Name auf der Liste steht und Sie eine neue Klinik aufbauen…«

»Aber das war nie meine Absicht.«

»Nicht?«

»Nein. Sie haben mich überzeugt, dass das rantau gadang für Ärzte eine sinnvolle Sache ist. Falls Sie nichts gegen ein bisschen Konkurrenz einzuwenden haben.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich meine, dass es eine einfache Lösung für all unsere Probleme gibt, eine, über die ich seit langem nachdenke. Das gesamte Dorf hat sie auf die eine oder andere Weise ins Auge gefasst. Viele sind bereits weggegangen. Wir sind keine große erfolgreiche Stadt wie Belubus oder Batusangkar. Das Land hier ist nicht besonders reich, und Jahr für Jahr verlieren wir mehr Leute an die Stadt oder an andere Sippen in anderen Städten oder an das rantau gadang, und warum auch nicht? Es ist Platz genug in der neuen Welt.«

»Sie wollen auswandern?«

»Ich, Jala, meine Schwester und ihre Schwester und meine Neffen, meine Cousins und Cousinen — alles in allem über dreißig von uns. Jala hat mehrere uneheliche Kinder, die nur zu gern sein Geschäft übernehmen würden, sobald er auf der anderen Seite ist. Sehen Sie?« Sie lächelte. »Sie brauchen nicht dankbar zu sein. Wir sind nicht Ihre Wohltäter. Nur Mitreisende.«

Ich fragte sie mehrere Male, ob Diane in Sicherheit sei. So weit in Sicherheit, wie Jala es ermöglichen könne, erwiderte Ina. Jala hielt sie in einem kleinen Wohnraum über einem Zollhaus versteckt, bis die letzten Vorbereitungen getroffen waren. »Das Schwierigste wird sein, Sie unentdeckt zum Hafen zu bringen. Die Polizei argwöhnt, dass Sie im Hochland sind, also werden sie die Straßen beobachten und nach Ausländern Ausschau halten, vor allem nach kranken Ausländern, denn der Fahrer, der Sie zur Klinik gebracht hat, wird ihnen gesagt haben, dass es Ihnen nicht gut geht.«

»Mit dem Kranksein bin ich durch.«

Die letzte Krise hatte vor der brennenden Klinik begonnen, und sie hatte sich ausgetobt, während ich bewusstlos war. Ina sagte, es sei eine schwierige Phase gewesen, nach dem Umzug in das kleine Zimmer in dem leeren Haus hätte ich so ausdauernd gestöhnt, dass die Nachbarn sich beschwert hätten, sie habe ihren Vetter Adek bitten müssen, mich während der schlimmsten Krämpfe festzuhalten, daher rührten auch die blauen Flecke auf meinen Armen und Schultern, hätte ich die eigentlich bemerkt? Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich wusste nur, dass ich mich mit jedem Tag kräftiger fühlte; meine Temperatur war einigermaßen normal, ich konnte gehen, ohne zu zittern.

»Und die anderen Wirkungen des Präparats? Fühlen Sie sich anders?«

Eine interessante Frage. »Ich weiß nicht. Bisher jedenfalls nicht.«

»Na ja, fürs Erste ist es auch egal. Wie gesagt, der Trick wird darin bestehen, Sie aus dem Hochland raus und zurück nach Padang zu bekommen. Aber das kriegen wir schon hin.«

»Wann soll es losgehen?«

»In drei oder vier Tagen. Ruhen Sie sich aus, bis es so weit ist.«


Ina war in diesen drei Tagen sehr beschäftigt, ich sah sie kaum. Es waren heiße, sonnige Tage, doch der Wind schickte lindernde Brisen durch das Haus, und ich verbrachte die Zeit mit vorsichtiger Gymnastik, mit Schreiben und Lesen — im Schlafzimmer standen einige englischsprachige Taschenbücher, unter anderem eine populäre Biografie über Jason Lawton mit dem Titel »Ein Leben für die Sterne« (ich sah im Register nach und fand meinen Namen: Dupree, Tyler, mit fünf Seitenhinweisen, aber ich brachte es nicht über mich, das Buch zu lesen — die Geschichten von Somerset Maugham reizten mich einfach mehr).

En kam von Zeit zu Zeit vorbei, um nach mir zu sehen und mir Sandwiches und in Flaschen abgefülltes Wasser vom warung seines Onkels zu bringen. Er hatte eine recht besitzergreifende Art entwickelt und versäumte es nie, sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Er sagte, er sei »stolz, mit mir rantau zu machen«.

»Du auch, En? Du gehst in die neue Welt?«

Er nickte emphatisch. »Mein Vater auch, meine Mutter, mein Onkel« und ein Dutzend weitere Angehörige, deren Verwandtschaftsgrad er mit Minang-Ausdrücken bezeichnete. Seine Augen funkelten. »Vielleicht können Sie mich dort Medizin lehren.«

Vielleicht würde ich das müssen. Die Durchquerung des Bogens schloss eine traditionelle Ausbildung mehr oder weniger aus. Das war nicht gerade das Beste für En, und ich fragte mich, ob seine Eltern diesen Umstand bei ihrer Entscheidung genügend bedacht hatten.

Aber letztlich ging mich das nichts an, und es war offenkundig, wie sehr En sich auf die Reise freute. Er konnte seine Stimme kaum kontrollieren, wenn er darüber sprach, und sein strahlendes Gesicht war eine reine Freude. Er gehörte einer Generation an, die der Zukunft mit mehr Hoffnung als Furcht entgegensah — aus meiner Generation der »Grotesken« hatte niemand jemals auf diese Weise in die Zukunft hineingelächelt. Es war ein gutes, ein zutiefst menschliches Bild; es machte mich glücklich, und es machte mich traurig.

Ina kam am Abend vor der geplanten Abreise wieder zu mir, sie brachte Essen und einen Plan mit. »Der Sohn meines Vetters hat einen Schwager«, sagte sie, »der als Krankenwagenfahrer für das Spital in Batusangkar arbeitet. Er kann einen Krankenwagen aus dem Fuhrpark borgen, um Sie nach Padang zu bringen. Mindestens zwei Wagen mit Mobiltelefonen werden vor uns fahren — wenn es also eine Straßensperre gibt, müssten wir früh genug gewarnt sein.«

»Ich brauche keinen Krankenwagen.«

»Der Krankenwagen ist zur Tarnung. Sie werden hinten versteckt, ich lege meine Arztmontur an, und einer der Dorfbewohner — En bewirbt sich nachdrücklich um die Rolle — spielt den Kranken. Verstehen Sie? Wenn die Polizisten in den Wagen hineingucken, sehen sie mich und ein krankes Kind, dann sage ich ›KVES‹, und die Polizisten werden nicht sehr darauf erpicht sein, allzu gründlich weiterzusuchen. Auf diese Weise wird der amerikanische Arzt an ihnen vorbeigeschmuggelt.«

»Sie glauben, das funktioniert?«

»Ich glaube, es besteht eine gute Chance, dass es funktioniert.«

»Aber wenn Sie mit mir erwischt werden…«

»Die Polizei kann mich nicht verhaften, es sei denn, ich mache mich strafbar. Einen Ausländer aus dem Westen im Krankenwagen zu transportieren, ist keine Straftat.«

»Aber einen Straftäter zu transportieren, ist es vielleicht.«

»Sind Sie ein Straftäter, Pak Tyler?«

»Kommt drauf an, wie man gewisse Erlasse des Kongresses interpretiert.«

»Ich ziehe es vor, sie überhaupt nicht zu interpretieren. Machen Sie sich bitte darum keine Sorgen. Hatte ich schon erwähnt, dass die Reise um einen Tag verschoben wird?«

»Warum?«

»Eine Hochzeit. Natürlich sind Hochzeiten nicht mehr das, was sie mal waren. Das Hochzeits-adat ist seit dem Spin stark untergraben worden. Wie auch alles andere, seit das Geld, die Straßen und die Fastfood-Restaurants ins Hochland gekommen sind. Ich sage nicht, dass Geld grundsätzlich von Übel ist, aber es kann zerstörerische Wirkungen haben. Na, wenigstens haben wir keine Zehn-Minuten-Hochzeiten wie in Las Vegas — gibt es die immer noch in Ihrem Land?«

»Ich glaube schon.«

»Nun, bei uns geht es auch in diese Richtung. Minang hilang, tinggal kerbau. Wenigstens wird es noch ein palaminan geben und große Mengen klebrigen Reis und saluang-Musik. Geht es Ihnen gut genug, um daran teilzunehmen? Wenigstens für die Musik?«

»Es wäre mir eine Ehre.«

»Dann werden wir also morgen Abend singen, und am nächsten Morgen trotzen wir dem amerikanischen Kongress. Die Hochzeit ist auch günstig für uns. Viel Verkehr, viele Fahrzeuge auf der Straße, da fallen wir nicht weiter auf mit unserer kleinen rantau-Gruppe auf dem Weg nach Teluk Bayur.«

Ich schlief die Nacht durch, und als ich aufwachte, fühlte ich mich so gut wie lange nicht mehr, kräftiger und irgendwie munterer als gewohnt. Die morgendliche Brise war warm und trug mannigfache Kochdüfte, das Klagegeschrei von Hähnen und fleißiges Hämmern von der Dorfmitte heran, wo eine Freilichtbühne errichtet wurde. Ich verbrachte den Tag weitgehend am Fenster, las und beobachtete den öffentlichen Umzug, mit dem Braut und Bräutigam zum Haus des Bräutigams geleitet wurden. Inas Dorf war klein genug, dass eine Hochzeit alle anderen Aktivitäten zum Stillstand brachte. Sogar die warungs vor Ort hatten heute geschlossen, nur die Franchisegeschäfte auf der Hauptstraße hielten eine Notbesetzung für die Bedürfnisse der Touristen aufrecht. Am späten Nachmittag hing der Geruch von Hühnercurry und Kokosmilch in der Luft, und En kam mit einem fertig zubereiteten Essen vorbei.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit klopfte Ibu Ina, in einem mit Stickereien versehenen Gewand und Seidenkopftuch, an die Tür und sagte: »Es ist vorbei. Die eigentliche Hochzeit, meine ich. Jetzt kommt nur noch das Singen und Tanzen. Haben Sie immer noch Lust mitzukommen, Tyler?«

Ich trug die besten Sachen, die ich bei mir führte, weiße Baumwollhosen und ein weißes Hemd. Die Aussicht, in aller Öffentlichkeit gesehen zu werden, machte mich etwas nervös, aber Ina versicherte, dass keine Fremden an der Feier teilnähmen und ich in der Schar der Gäste willkommen sei.

Trotz ihrer beruhigenden Worte kam ich mir unangenehm auffällig vor, als wir gemeinsam die Straße entlang in Richtung Bühne und Musik gingen, weniger wegen meiner Körpergröße als wegen des Umstands, dass ich mich so lange in geschlossenen Räumen aufgehalten hatte. Das Haus zu verlassen, war, als würde ich aus dem Wasser an die Luft kommen — plötzlich war ich von nichts Substanziellem mehr umgeben. Ina lenkte mich ab, indem sie von dem frisch getrauten Paar redete. Der Bräutigam, ein Apothekerlehrling aus Belubus, war ein junger Vetter von ihr (Ina bezeichnete jeden Verwandten, der entfernter war als Bruder, Schwester, Onkel oder Tante, als »Vetter«; das Verwandtschaftssystem der Minang kannte zwar genauere Ausdrücke, für die es jedoch keine direkten englischen Entsprechungen gab). Die Braut war eine Hiesige mit leicht anrüchiger Vergangenheit. Beide wollten gleich nach der Hochzeit rantau gehen. Die neue Welt lockte.

Die Musik begann mit der Abenddämmerung und würde, so Ina, bis zum Morgen andauern. Sie wurde über riesige, auf Pfählen befestigten Lautsprechern ins ganze Dorf übertragen, ihren Ausgang aber nahm sie von der erhöhten Bühne, wo die Musiker auf Strohmatten saßen, zwei männliche Instrumentalisten und zwei Sängerinnen. Die Lieder, erklärte Ina, handelten von Liebe, Ehe, Enttäuschung, Schicksal und Sex. Jede Menge Sex, gekleidet in Metaphern, an denen ein Chaucer seine helle Freude gehabt hätte. Wir saßen auf einer Bank am Rand der Feierlichkeiten. Ich zog mehr als nur einige Blicke auf mich — ein Großteil der Leute musste die Geschichte von der niedergebrannten Klinik und dem geflohenen Amerikaner gehört haben —, aber Ina achtete darauf, dass ich nicht zum Objekt allgemeinen Staunens wurde. Sie schirmte mich weitgehend ab, wobei sie mit Blick auf die jungen Leute, die sich vor der Bühne drängten, nachsichtig lächelte. »Aus dem Klagealter bin ich heraus. Mein Feld muss nicht mehr gepflügt werden, wie es in dem Lied heißt. Diese ganze Aufregung immer. Meine Güte!«

Braut und Bräutigam saßen prachtvoll gekleidet auf nachgebildeten Thronen nahe der Bühne. Ich fand, dass der Bräutigam mit seinem bleistiftdünnen Schnurrbart nicht gerade den solidesten Eindruck machte, aber nein, beharrte Ina, das Mädchen sei diejenige, auf die man ein Auge haben müsse, so unschuldig sie in ihrem blau-weißen Brokatkostüm auch wirken möge. Wir tranken Kokosmilch. Wir lächelten. Als es auf Mitternacht zuging, zogen sich die meisten Frauen zurück, bis fast nur noch Männer übrig blieben, die Jungen johlend und lachend vor der Bühne, die Älteren an Tischen sitzend, wo sie mit großem Ernst Karten spielten, die Gesichter so undurchdringlich wie altes Leder.

Ich hatte Ina die Seiten zum Lesen gegeben, auf denen ich meine erste Begegnung mit Wun Ngo Wen schilderte. »Aber das kann nicht vollkommen wirklichkeitsgetreu sein«, sagte sie, als die Musik einmal Pause machte. »Sie klingen viel zu ruhig.«

»Ich war überhaupt nicht ruhig. Ich habe nur versucht, mich nicht zum Narren zu machen.«

»Immerhin wurden Sie mit einem Mann vom Mars bekannt gemacht.« Sie sah zum Himmel hinauf, zu den Post-Spin-Sternen in ihren fragilen, weit verstreuten Konstellationen, im Lichterglanz der Hochzeitsfeier nur schwach auszumachen. »Was hatten Sie erwartet?«

»Ich vermute, etwas weniger Menschliches.«

»Ah, aber er war sehr menschlich.«

»Ja.«

Wun Ngo Wen war in den ländlichen Gebieten Indiens, Indonesiens und Südostasiens eine Art Kultfigur geworden. In Padang, sagte Ina, hätten viele Leute sein Bild an der Wand hängen, in einem vergoldeten Rahmen, wie ein Heiligengemälde oder ein Foto eines berühmten Mullahs. »Es war etwas so Berührendes in seinem ganzen Wesen. Eine vertraute Art zu reden, obwohl wir ihn nur in Übersetzungen hören konnten. Und als wir die Fotografien seines Planeten sahen — all die bestellten Felder —, wirkte das mehr ländlich als städtisch, mehr östlich als westlich. Die Erde wurde vom Abgesandten einer anderen Welt besucht — und er war einer von uns! So schien es uns jedenfalls. Und wie er die Amerikaner gescholten hat, das war sehr vergnüglich.«

»Das war das Letzte, was Wun im Sinn hatte — jemandem Vorwürfe zu machen.«

»Zweifellos ist die Legende der Realität vorausgeeilt. Hatten Sie nicht tausend Fragen an ihn, als Sie ihn kennen lernten?«

»Natürlich. Aber ich dachte mir, dass er diese naheliegenden Fragen seit seiner Ankunft schon hundertmal beantwortet hatte. Ich nahm an, dass er genug davon hatte.«

»Hat er sich dagegen gesträubt, von seiner Heimat zu sprechen?«

»Im Gegenteil, er hat gerne davon erzählt. Er mochte halt nur nicht so gern ausgefragt werden.«

»Meine Manieren sind nicht so geschliffen wie Ihre. Ich wäre ihm sicher mit unzähligen Fragen auf die Nerven gegangen. Angenommen, Sie hätten an jenem ersten Tag die Möglichkeit gehabt, ihn irgendetwas Beliebiges zu fragen — was wäre das gewesen?«

Das war leicht. Ich wusste genau, welche Frage ich mir bei meiner ersten Begegnung mit Wun Ngo Wen verkniffen hatte. »Ich hätte ihn über den Spin befragt. Über die Hypothetischen. Ob sein Volk etwas in Erfahrung gebracht hatte, was wir noch nicht wussten.«

»Und haben Sie später mit ihm darüber sprechen können?«

»Ja.«

»Und hatte er viel dazu zu sagen?«

»Viel, ja.«

Ich sah zur Bühne. Eine neue saluang-Gruppe hatte sie betreten. Einer der Musiker spielte eine Rabab; er schlug mit seinem Bogen gegen den Bauch des Saiteninstruments und grinste. Es folgte ein weiteres anzügliches Hochzeitslied.

»Ich fürchte, ich habe Sie gerade ein bisschen ausgefragt«, sagte Ina.

»Tut mir Leid. Ich bin immer noch etwas erschöpft.«

»Dann sollten Sie nach Hause gehen und schlafen. Das ist eine ärztliche Anweisung. Mit ein bisschen Glück werden Sie Ibu Diane morgen wiedersehen.«

Wir gingen die laute Straße hinunter, ließen die Feierlichkeiten hinter uns. Die Musik spielte bis fünf Uhr morgens. Ich schlief trotzdem tief und fest.


Der Fahrer des Krankenwagens war ein magerer, wortkarger Mann in der weißen Uniform des Roten Halbmonds. Sein Name war Nijon. Er schüttelte mir mit übertriebener Ehrerbietung die Hand und hielt seine großen Augen auf Ibu Ina gerichtet, während er mit mir sprach. Ich fragte, ob ihn die Fahrt nach Padang unruhig mache. Ina übersetzte seine Antwort: »Er sagt, er habe schon gefährlichere Sachen aus weniger zwingenden Gründen gemacht. Er sagt, es sei ihm ein Vergnügen, einen Freund von Wun Ngo Wen kennen zu lernen. Er sagt, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten.«

Also kletterten wir in den Fond des Krankenwagens. An einer der Seitenwände befand sich ein horizontaler Stahlschrank, in dem normalerweise medizinische Ausrüstung gelagert wurde. Außerdem konnte man ihn als Sitzbank benutzen. Nijon hatte den Schrank ausgeräumt, und wir stellten fest, dass es mir möglich war, mich hineinzuzwängen, wenn ich meine Beine in den Hüften und den Knien abknickte und meinen Kopf irgendwie unter die Achsel klemmte. Der Schrank roch nach antiseptischen Mitteln und Latex und war ungefähr so bequem wie ein Affensarg, aber genau dort würde ich mich aufhalten müssen, falls wir an einem Kontrollpunkt angehalten wurden — dazu Ina auf der Bank in ihrem Arztkittel und En auf einer Tragbahre ausgestreckt, in seiner Rolle als KVES-Infizierter. Im heißen Morgenlicht erschien der Plan närrischer, als mir lieb war.

Nijon hatte kleine Keile in die Abdeckung des Schranks geklemmt, sodass ein wenig Luft darin zirkulieren konnte. Trotzdem empfand ich wenig Freude bei der Aussicht, in einen dunklen, heißen Metallkasten zu kriechen. Aber ich musste das gar nicht, jedenfalls vorerst nicht. Die Aktivitäten der Polizei, so Ina, konzentrierten sich auf die neue Schnellstraße zwischen Bukik Tinggi und Padang, und da wir in einem lockeren Konvoi mit anderen Dorfbewohnern reisten, sollten wir rechtzeitig vorgewarnt sein, bevor man uns anhielt. So saß ich also erst einmal neben Ina, während sie eine Tropfinfusion in Ens Armbeuge befestigte — ohne Nadel, nur mit Klebestreifen. En war begeistert von dem Täuschungsmanöver und probte schon mal den Husten, ein tief aus der Lunge geholtes Raucherröcheln, das bei Ina ein ebenso theatralisches Stirnrunzeln hervorrief: »Hast du etwa die Nelkenzigaretten deines Bruders gestohlen?«

En wurde rot. Er habe das lediglich im Interesse einer realistischen Darstellung gemacht, gab er zu verstehen.

»Ach ja? Pass nur auf, dass du dich nicht in ein frühes Grab schauspielerst.«

Nijon schlug die hinteren Türen zu, kletterte auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Unsere holprige Fahrt nach Padang begann. Ina sagte En, er solle die Augen zumachen. »Tu so, als wenn du schläfst.« Nicht lange, und sein Atem ging ruhiger, verwandelte sich schließlich in ein sanftes Schnarchen.

»Er war die ganze Nacht wach von der Musik«, erklärte Ina.

»Trotzdem wundere ich mich, dass er schlafen kann.«

»Einer der Vorzüge der Kindheit. Oder des Ersten Alters, wie die Marsianer sagen — habe ich Recht?«

Ich nickte.

»Sie haben vier davon, stimmt das? Vier Altersstufen, wo wir nur drei haben?«

So war es, wie Ina natürlich sehr genau wusste. Von allen Eigenheiten des Lebens in Wun Ngo Wens Fünf Republiken war dies diejenige, die die terrestrische Öffentlichkeit am meisten faszinierte hatte.

Auf der Erde spricht man in der Regel von zwei oder drei Phasen des Lebens: Kindheit und Erwachsensein, oder Kindheit, Pubertät und Erwachsensein. In manchen Kulturkreisen wird dem hohen Alter noch ein besonderer Status zugedacht. Doch der Brauch der Marsianer war völlig anders und hing mit ihren über Jahrhunderte entwickelten Fertigkeiten in der Biochemie und Genetik zusammen. Sie teilten das Leben in vier Abschnitte ein, die durch biochemisch vermittelte Vorgänge markiert waren: Geburt bis Pubertät war Kindheit; Pubertät bis zum Ende des körperlichen Wachstums und dem Beginn des Stoffwechselgleichgewichts war Adoleszenz oder Jugend; Gleichgewicht bis Verfall, Tod oder radikaler Wandel war Erwachsensein.

Und jenseits des Erwachsenseins das fakultative, das Wahlalter: das Vierte.

Schon vor Jahrhunderten hatten marsianische Biochemiker ein Mittel ersonnen, das menschliche Leben um durchschnittlich sechzig bis siebzig Jahre zu verlängern. Aber die Entdeckung war kein reiner Segen. Der Mars war ein von radikalen Beschränkungen, vom Mangel an Wasser und Stickstoff geprägtes Ökosystem — das Ackerland, das Ibu Ina so vertraut schien, war der Triumph einer überaus avancierten und subtilen Biotechnik, und die menschliche Fortpflanzung unterlag seit Jahrhunderten einer Regulierung, die sich an Kriterien der Nachhaltigkeit orientierte. Gab man der durchschnittlichen Lebenszeit noch einmal siebzig Jahre dazu, beschwor man zwangsläufig eine Bevölkerungskrise herauf.

Auch war die Langlebigkeitsbehandlung selbst weder einfach noch angenehm. Es handelte sich um eine tiefgreifende zelluläre Rekonstruktion. Ein Cocktail aus im Labor erzeugten viralen und bakteriellen Einheiten wurde in den Körper injiziert. Maßgeschneiderte Viren nahmen eine Art System-Update vor, überarbeiteten DNA-Sequenzen, restaurierten Telomere und stellten die genetische Uhr neu, während bakterielle Phagen giftige Metalle und Plaques ausschwemmten und Schäden reparierten.

Das Immunsystem wehrte sich. Die Behandlung glich im günstigsten Fall einer sechswöchigen schweren Grippe, mit Fieber, Gelenk- und Muskelschmerzen und körperlicher Schwäche. Bestimmte Organe verfielen in einen regenerativen Overdrive, Hautzellen starben ab und wurden in rasender Folge ersetzt, Nervengewebe bildete sich spontan und blitzschnell neu.

Es war ein schmerzhafter, erschöpfender Prozess, und mitunter traten negative Nebenwirkungen auf. Die meisten Probanden vermeldeten einen zumindest mittelfristigen Gedächtnisverlust, in einigen wenigen Fällen kam es sogar zu Demenzerscheinungen und irreversibler Amnesie. Das wiederhergestellte, neu verkabelte Gehirn war, kaum merklich, zu einem anderen Organ geworden — und sein Besitzer zu einer anderen Person.

»Sie haben den Tod bezwungen«, sagte Ina.

»Nicht ganz.«

»Allerdings sollte man meinen, dass sie, mit all ihrer Weisheit, imstande gewesen sein müssten, die Sache weniger unangenehm zu gestalten.«

Mit Sicherheit hätten sie die oberflächlichen Beschwerden des Übergangs ins Vierte Alter lindern können. Aber sie hatten sich entschieden, es nicht zu tun. Die marsianische Kultur hatte das Vierte Alter zum Teil ihrer Tradition gemacht, mit allen Konsequenzen: der Schmerz war eine einschränkende Bedingung, eine schützende, vorbeugende Unannehmlichkeit. Nicht jeder wollte ein Vierter werden. Nicht nur, dass der Übergang schwierig war, auch hatten die Marsianer der Langlebigkeit per Gesetz einen gravierenden sozialen Preis abverlangt: Jeder marsianische Bürger hatte das Recht, sich der Behandlung zu unterziehen, kostenfrei und ohne Ansehen der Person, aber es war den Vierten verwehrt, sich fortzupflanzen — die Fortpflanzung war ein den Erwachsenen vorbehaltenes Privileg (seit zweihundert Jahren enthielt der Langlebigkeitscocktail Präparate, die eine irreversible Sterilisation für beide Geschlechter bewirkten). Als Vierter verlor man außerdem das aktive und passive Wahlrecht — niemand wünschte sich einen Planeten, der von ehrwürdigen Greisen zu eigenem Nutzen regiert wurde. Allerdings besaßen alle Fünf Republiken ein Rechtsprüfungsorgan — eine Art Supreme Court —, das ausschließlich von Vierten gewählt wurde. Vierte waren mehr und gleichzeitig weniger als Erwachsene, wie auch Erwachsene mehr und gleichzeitig weniger sind als Kinder: mächtiger und stärker, aber weniger spielerisch; freier, aber eingeschränkter.

Freilich konnte ich nicht alle Codes und Totems dechiffrieren, in die die Marsianer ihre medizinische Technologie eingewickelt hatten, weder für Ina noch für mich. Anthropologen hatten sich, auf Grundlage der von Wun Ngo Wen mitgebrachten Archive, jahrelang damit beschäftigt. Bis jede weitere Forschung in dieser Richtung verboten worden war.

»Und jetzt haben wir die gleiche Technologie«, sagte Ina.

»Einige von uns. Aber ich hoffe, dass sie irgendwann allen zur Verfügung stehen wird.«

»Ich frage mich, ob wir sie genauso weise gebrauchen würden.«

»Warum nicht. Die Marsianer haben es getan, und sie sind Menschen wie wir.«

»Ich weiß. Möglich ist es, sicherlich. Aber was glauben Sie, Tyler — werden wir weise sein?«

Ich sah En an. Er schlief noch immer. Seine Augen schossen unter den geschlossenen Lidern umher wie Fische unter Wasser, seine Nasenflügel blähten sich beim Atmen, und das Rütteln des Krankenwagens ließ ihn von einer Seite zur anderen schaukeln.

»Nicht auf diesem Planeten«, sagte ich.


Fünfzehn Kilometer hinter Bukik Tinggi klopfte Nijon heftig gegen die Trennscheibe zwischen uns und dem Fahrersitz. Das war das abgesprochene Zeichen: Straßensperre voraus. Der Krankenwagen fuhr langsamer. Ina stand hastig auf, stülpte eine neongelbe Sauerstoffmaske über Ens Gesicht — der, wieder aufgewacht, den Reiz des Abenteuers jetzt doch in einem etwas anderen Licht zu betrachten schien — und legte sich selbst einen Mundschutz aus Papier an. »Machen Sie schnell«, flüsterte sie mir zu.

Also zwängte ich mich in den Ausrüstungsschrank. Der Deckel schlug gegen die Keilstücke, die ein wenig Luft ins Innere strömen ließen, ein halber Zentimeter zwischen mir und dem Erstickungstod.

Der Wagen bremste, und mein Kopf schlug heftig gegen die Schmalseite des Schranks.

»Still jetzt«, sagte Ina — ob zu mir oder zu En, wusste ich nicht genau.

Ich wartete im Dunkeln.

Minuten vergingen. Aus der Ferne ertönte ein rumpelnder Wortwechsel, unmöglich zu verstehen, selbst wenn ich die Sprache gesprochen hätte. Nijon und ein Unbekannter. Eine dünne, übellaunige, barsche Stimme. Die Stimme eines Polizisten.

Sie haben den Tod bezwungen, hatte Ina gesagt.

Nein, dachte ich.

Der Schrank heizte sich schnell auf. Schweiß schmierte mein Gesicht ein, durchnässte mein Hemd, brannte in den Augen. Ich konnte meinen Atem hören. Es kam mir vor, als könne die ganze Welt meinen Atem hören.

Nijon antwortete dem Polizisten mit respektvollem Murmeln. Der Polizist bellte daraufhin neue Fragen.

»Bleib einfach still liegen«, flüsterte Ina. En hatte mit den Füßen gegen die dünne Matratze der Rollbahre geschlagen, ein nervöser Tick. Zu viel Energie für einen KVES-Kranken.

Dann gingen die Hecktüren des Krankenwagens knarrend auf, ich roch Auspuffgase und den strengen Duft der Vegetation. Wenn ich — vorsichtig, ganz vorsichtig — meinen Kopf reckte, konnte ich einen dünnen Lichtstreifen und zwei Schatten sehen, bei denen es sich um Nijon und den Polizisten, vielleicht aber auch um Bäume oder Wolken handeln mochte.

Der Polizist wollte etwas von Ina wissen. Er sprach mit kehliger, monotoner Stimme, gelangweilt und drohend, und das machte mich wütend. Ich stellte mir vor, wie sie vor diesem bewaffneten Mann und dem, was er repräsentierte, kuschte oder zu kuschen vorgab. Um meinetwillen. Ina sprach eindrücklich, aber nicht provozierend in ihrer Muttersprache. KVES… unverständlich… unverständlich… KVES. Sie spielte ihre ärztliche Autorität aus, testete die Empfänglichkeit des Polizisten, versuchte Furcht vor der Krankheit gegen die Furcht vor der staatlichen Repression zu setzen.

Die Antwort des Polizisten war schroff, offenbar wollte er den Krankenwagen durchsuchen oder ihre Papiere sehen. Ina sagte etwas Nachdrücklicheres oder Verzweifelteres. Wieder KVES.

Ich wollte mich schützen, aber noch mehr wollte ich Ina und En schützen. Bevor ich zuließ, dass ihnen übel mitgespielt wurde, wollte ich mich stellen. Mich stellen oder kämpfen. Kämpfen oder fliehen. Falls nötig, all die Jahre drangeben, die das marsianische Pharmazeutikum in meinen Körper gepumpt hatte. Vielleicht war das der Mut der Vierten, dieser ganz besondere Mut, von dem Wun Ngo Wen gesprochen hatte.

Sie haben den Tod bezwungen… Nein, als Spezies, ob terrestrisch oder marsianisch, hatten wir in der langen Zeit, die uns auf beiden Planeten zur Verfügung stand, lediglich Aufschübe, Gnadenfristen bewerkstelligt. Es war nichts gewiss.

Schritte, Stiefel auf Metall. Der Polizist kletterte in den Krankenwagen. Das Fahrzeug schaukelte auf seinen Stoßdämpfern wie ein Schiff bei leichtem Seegang. Ich stützte mich gegen die Schrankabdeckung. Ina stand auf, erhob schrille Einwände.

Ich holte Luft und machte mich sprungbereit.

Plötzlich kam neuer Lärm von der Straße her. Ein anderes Fahrzeug fuhr dröhnend an uns vorbei. Dem Aufheulen seines gequälten Motors nach zu urteilen, war es mit hoher Geschwindigkeit unterwegs — mit provozierender Scheiß-auf-die-Polizei-Geschwindigkeit.

Der Polizist stieß einen empörten Fluch aus. Der Krankenwagen geriet erneut ins Schaukeln.

Eilige Schritte, kurze Stille, das Zuknallen einer Tür und dann der Motor des Streifenwagens (so meine Vermutung), auf Hochtouren gebracht, knirschende Auroreifen, wütendes Kiesgestöber.

Ina hob den Deckel meines Sarkophages.

Im Gestank meines Schweißes setzte ich mich auf. »Was ist passiert?«

»Das war Aji. Aus unserem Dorf. Ein Vetter von mir. Hat die Straßensperre durchbrochen, um die Polizei abzulenken.« Sie war blass, aber erleichtert. »Er fährt wie ein Betrunkener.«

»Er hat das getan, um uns zu helfen?«

»Ja. Wir sind schließlich ein Konvoi. Andere Autos, Funktelefone, er wird gewusst haben, dass wir angehalten wurden. Er riskiert eine Geldstrafe oder eine Verwarnung, nichts Ernsteres.«

Ich atmete die Luft ein, die lieblich und kühl war, und sah En an. Er schenkte mir ein wackliges Lächeln.

»Bitte, stellen Sie mich Aji vor, wenn wir nach Padang kommen«, sagte ich. »Ich möchte ihm dafür danken, dass er den Betrunkenen gespielt hat.«

Ina verdrehte die Augen. »Unseligerweise hat Aji nicht gespielt — er ist betrunken. Ein ernstes Vergehen in den Augen des Propheten.«

Nijon blickte zu uns hinein, zwinkerte, schloss die Türen.

Ina legte eine Hand auf meinen Arm. »Nun, das war beängstigend.«

Ich entschuldigte mich dafür, dass ich sie das Risiko hatte auf sich nehmen lassen.

»Unsinn«, erwiderte sie. »Wir sind jetzt Freunde. Und das Risiko ist nicht so groß, wie Sie denken. Die Polizei kann schwierig sein, aber zumindest sind es Leute von hier, an gewisse Regeln gebunden — nicht wie die Männer aus Jakarta, die New Reformasi oder wie sie sich nennen, die Männer, die meine Klinik niedergebrannt haben. Und ich vermute, Sie würden, falls nötig, auch für uns Risiken eingehen. Nicht wahr, Pak Tyler?«

»Ja, das würde ich.«

Ihre Hand zitterte. Sie sah mir in die Augen. »Ich glaube Ihnen.«

Nein, wir hatten den Tod keineswegs bezwungen, nur Aufschübe erreicht — die Pille, das Pulver, die Gefäßplastik, das Vierte Alter —, hatten unserer unbeirrbaren Überzeugung gemäß gehandelt, wonach mehr Leben, und sei es nur ein klein bisschen mehr, vielleicht doch noch die Freuden oder die Weisheit abwerfen würde, die wir uns wünschten oder im bisherigen Leben vermisst hatten. Niemand, der sich einer dreifachen Bypass-OP oder einer Langlebigkeitsbehandlung unterzog, erwartete, dass er ewig leben würde. Sogar Lazarus stieg aus seinem Grab in dem Wissen, dass er ein zweites Mal sterben würde.

Aber er kam heraus. Er kam heraus und war dankbar. Auch ich war dankbar.

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