Ars moriendi

Die Marsianer, so Jason, entsprachen nicht unserem Bild eines einfachen, friedlichen, pastoralen Volkes; ein Bild, dem Wuns Berichte zumindest Vorschub geleistet hatten.

Es traf zu, dass sie nicht besonders kriegerisch waren — die Fünf Republiken hatten ihre politischen Differenzen vor beinahe einem Jahrtausend beigelegt —, und »pastoral« waren sie zumindest in dem Sinne, dass sie den Großteil ihrer Ressourcen landwirtschaftlich nutzten. Aber »einfach« waren sie nicht, in keiner Weise. Sie waren Meister in der Kunst der synthetischen Biologie, ihre ganze Zivilisation war darauf gegründet. Wir hatten ihnen mit biotechnischen Mitteln einen bewohnbaren Planeten gebaut, und so war es nicht verwunderlich, dass sie von Beginn an ein profundes Verständnis für die Funktion und die potenziellen Verwendungsmöglichkeiten der DNA besaßen, das sie von Generation zu Generation weiterreichten.

Wenn ihre Großtechnologie mitunter recht plump anmutete — Wuns Raumschiff etwa war fast primitiv gewesen, eine Newtonsche Kanonenkugel —, so war dies der radikalen Beschränktheit ihrer natürlichen Ressourcen geschuldet. Der Mars war eine Welt ohne Öl und Kohle, die ein fragiles, wasser- und stickstoffarmes Ökosystem trug. Eine so üppige, ja verschwenderische industrielle Basis wie die auf der Erde hätte auf Wuns Planeten niemals existieren können. Auf dem Mars war jede Anstrengung darauf gerichtet, ausreichend Nahrungsmittel für eine streng zu begrenzende Bevölkerung zu produzieren — und die Biotechnologie diente diesem Zweck ganz ausgezeichnet.

»Hat Wun dir das erzählt?«, fragte ich Jason, während der Regen ununterbrochen weiterfiel und der Nachmittag zur Neige ging.

»Er hat sich mir anvertraut, ja. Allerdings ließ sich das meiste von dem, was er erzählte, auch aus den Archiven erschließen.« Rostfarbenes Licht, das durchs Fenster fiel, spiegelte sich in Jasons blinden Augen.

»Aber es könnte auch sein, dass er gelogen hat.« »Ich wüsste nicht, dass er je gelogen hätte, Tyler. Er war nur etwas knausrig mit der Wahrheit.«

Die mikroskopisch kleinen Replikatoren, die Wun zur Erde gebracht hatte, waren avancierte synthetische Biologie. Sie besaßen alle Fähigkeiten, die Wun ihnen zugeschrieben hatte. Und noch weitaus mehr: Zu den uns nicht bekannten Funktionen der Replikatoren gehörte ein verborgener zweiter Subkanal, der es ihnen ermöglichte, untereinander sowie mit ihrem Ursprungsort zu kommunizieren. Wun hatte nicht verraten, ob es sich um ein konventionelles Schmalband oder um etwas Exotischeres handelte — Letzteres, vermutete Jason —, jedenfalls erforderte es einen Empfänger, der fortgeschrittener war als alles, was wir auf der Erde bauen konnten. Es erforderte, so Wun, einen biologischen Empfänger. Ein modifiziertes menschliches Nervensystem.


»Du hast dich freiwillig zur Verfügung gestellt?«

»Hätte ich gemacht — wenn ich gefragt worden wäre. Aber Wun hat sich mir nur aus einem einzigen Grund anvertraut: Weil er seit seiner Ankunft auf der Erde um sein Leben fürchtete. Er hegte keinerlei Illusionen in Bezug auf menschliche Korruptheit oder Machtpolitik. Er brauchte vor allem jemanden, dem er seinen Medikamentenbestand anvertrauen konnte für den Fall, dass ihm etwas zustoßen würde. Jemand, der dessen Möglichkeiten und Zwecke begriff. Er hat mir nie nahe gelegt, ein Empfänger zu werden. Die Modifikation funktioniert nur bei Vierten. Weißt du noch, was ich gesagt habe? Die Langlebigkeitsbehandlung ist eine Plattform, ein Sprungbrett. Sie unterstützt andere Anwendungen. Dies ist eine davon.« »Also hast du dir das hier mit Absicht zugefügt?« »Ja, ich habe mir die Substanz injiziert, nachdem er gestorben war. Es war nicht traumatisch und hatte keine unmittelbare Wirkung. Es bestand ja gar nicht die Möglichkeit, dass Nachrichten der Replikatoren die Spinmembran durchdrangen, solange diese voll funktionsfähig war. Es war eine rein latente Fähigkeit, die ich mir da verschaffte.«

»Warum hast du es dann gemacht?«

»Weil ich nicht in einem Zustand der Unwissenheit sterben wollte. Wir alle haben angenommen, dass wir, wenn der Spin zu Ende ist, innerhalb von Tagen oder gar Stunden sterben würden. Der einzige Sinn von Wuns Modifikation lag für mich darin, dass ich in diesen letzten Stunden in Kontakt mit einer Datenbasis treten würde, die fast so groß ist wie die Galaxis selbst. Ich würde erfahren — so weit man das als Erdling überhaupt erfahren kann —, wer die Hypothetischen sind und warum sie das alles mit uns angestellt haben.«

Ich dachte: Ja und, weißt du das jetzt? Und vielleicht wusste er es ja wirklich. Vielleicht war es das, was er noch unbedingt mitteilen wollte, bevor ihn die Fähigkeit zu sprechen verließ; vielleicht wollte er deshalb, dass ich einen Mitschnitt davon machte. »Wusste Wun, dass du so etwas tun würdest?«

»Nein, und ich bezweifle, dass er es gebilligt hätte… obwohl er dieselbe Anwendung laufen hatte.«

»Tatsächlich? Das hat man gar nicht gemerkt.«

»Konnte man auch nicht. Du musst dir eins klar machen: Was mit mir passiert — mit meinem Körper, meinem Gehirn —, das ist nicht die Anwendung.« Er wandte mir seine blicklosen Augen zu. »Das ist eine Funktionsstörung.«


Die Replikatoren waren von der Erde aus ins äußere Sonnensystem geschickt worden, und dort, weit von der Sonne entfernt, gediehen sie prächtig. (Hatten die Hypothetischen das bemerkt, und machten sie die Erde verantwortlich für etwas, das im Grunde ein marsianisches Projekt war? War es das, was die Marsianer, wie E. D. unterstellte, von Beginn an geplant hatten? Jason äußerte sich nicht darüber — ich vermute, dass er es nicht wusste.) Nach und nach verbreiteten sich die Replikatoren zu den nächsten Sternen und darüber hinaus — weit darüber hinaus. Die Kolonien waren auf astronomische Entfernungen nicht zu sehen, aber hätte man sie auf einem Raster unserer eigenen stellaren Umgebung abgebildet, würde man sie als sich stetig ausdehnende Wolke wahrgenommen haben, als eine zeitlupenhafte Explosion künstlichen Lebens.

Die Replikatoren waren nicht unsterblich; sie lebten, vermehrten sich und starben schließlich. Was jedoch über sie hinaus Bestand hatte, war das Netzwerk, das sie bauten: ein Korallenriff von modulierten, miteinander verbundenen Knotenpunkten, in dem sich Daten ansammelten und zum Ausgangspunkt des Netzes wanderten.

»Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben«, rief ich Jason in Erinnerung, »sagtest du, es gebe ein Problem. Du sagtest, die Replikatorenpopulation bilde sich zurück.«

»Ja, sie wurden mit etwas konfrontiert, das niemand auf der Rechnung gehabt hatte.«

»Und was?«

Er schwieg einige Zeit, wie um seine Gedanken zu sammeln. »Wir nahmen an, dass wir mit den Replikatoren etwas Neues in das Universum einführen würden, eine völlig neue Form von künstlichem Leben. Diese Annahme war naiv. Wir — die Menschen, ob auf der Erde oder auf dem Mars — waren nicht die erste intelligente Spezies, die sich in unserer Galaxis entwickelt hat. Bei weitem nicht. Tatsächlich ist an uns nichts Ungewöhnliches, praktisch alles, was wir in unserer kurzen Geschichte getan haben, ist vorher schon getan worden, irgendwo, von irgendjemand.«

»Du willst sagen, die Replikatoren sind auf andere Replikatoren getroffen?«

»Eine Ökologie von Replikatoren. Die Sterne sind ein Dschungel, Tyler. Es gibt dort mehr Leben, als wir uns je vorgestellt haben.«

Ich versuchte mir den Prozess, den Jason beschrieb, vor Augen zu führen: Weit entfernt von der spinisolierten Erde, weit jenseits des Sonnensystems, so tief im Weltraum, dass selbst die Sonne nur ein Stern unter vielen ist, lässt sich ein Replikatorensame auf einem staubigen Eissplitter nieder und beginnt sich zu vermehren. Er setzt den gleichen Zyklus von Wachstum, Beobachtung, Kommunikation und Reproduktion in Gang, der schon unzählige Male im Verlauf der langsamen Wanderung seiner Vorfahren stattgefunden hat. Vielleicht erlangt er das Reifestadium, vielleicht beginnt er sogar kleine Datenexplosionen zu erzeugen… doch mit einem Mal wird der Zyklus unterbrochen.

Da ist etwas, das die Anwesenheit des Replikators wahrnimmt. Und das immer hungrig ist.

Dieses räuberische Wesen (erläuterte Jason) ist ebenfalls ein halborganisches, autokatalytisches Rückkopplungssystem; es ist an sein eigenes Netzwerk angeschlossen, und dieses Netzwerk ist älter und weitaus größer als das, was die terrestrischen Replikatoren in der vergleichsweise kurzen Zeit seit ihrem Start von der Erde errichten konnten. Der Räuber ist höher entwickelt als seine Beute, seine für Nahrungssuche und Ressourcennutzung zuständigen Subroutinen haben sich über Milliarden von Jahren verfeinert. Die terrestrische Replikatorenkolonie, blind und ohne Fluchtmöglichkeit, wird aufgefressen.

»Gefressen« trägt hier allerdings eine spezielle Bedeutung: So nützlich sie ihm auch sein mögen, der Räuber will mehr als die kohlenstoffhaltigen Moleküle, aus denen die Replikatoren bestehen. Viel interessanter für ihn ist ihre Bedeutung, die in ihre Reproduktionsmuster eingeschriebenen Funktionen und Strategien. Von diesen übernimmt er, was ihm potenziell wertvoll erscheint, dann reorganisiert und nutzt er die Replikatorenkolonie für seine eigenen Zwecke. Die Kolonie stirbt nicht, sie wird absorbiert, ontologisch verschlungen, sie wird, zusammen mit ihren Geschwistern, einer größeren, komplexeren und sehr viel älteren interstellaren Hierarchie unterstellt.

Und sie ist weder das erste noch das letzte derartige Konstrukt, das auf diese Weise »gefressen« wird.

»Replikatorennetzwerke«, sagte Jason, »gehören zu den Dingen, deren Erzeugung sich für intelligente Zivilisationen sozusagen aufdrängt. Angesichts der Grenzen, die das Reisen bei Sublichtgeschwindigkeit der Erforschung der Galaxis setzt, begnügen sich die meisten technologischen Kulturen mit einem Netz von Von-Neumann-Maschinen — Replikatoren —, das einen steten Fluss von wissenschaftlichen Informationen erzeugt, der sich im Laufe der Zeit exponentiell ausdehnt.«

»Okay, das verstehe ich so weit. Die marsianischen Replikatoren sind nicht einzigartig. Sie sind auf etwas gestoßen, das du eine Ökologie nennst…«

»Eine Von-Neumann-Ökologie.« (Nach dem im zwanzigsten Jahrhundert lebenden Mathematiker John von Neumann, der als Erster von der Möglichkeit selbstreproduzierender Maschinen gesprochen hatte.)

»Eine Von-Neumann-Ökologie. Und von der wurden sie also absorbiert. Aber das verrät uns nichts über die Hypothetischen oder den Spin, oder.«

Jason schürzte ungeduldig die Lippen. »Die Hypothetischen sind die Von-Neumann-Ökologie, Tyler. Es ist ein und dasselbe.«


An diesem Punkt musste ich kurz Abstand nehmen und mir darüber klarwerden, wer das eigentlich war, der da zu mir sprach. Er sah aus wie Jason. Aber alles, was er sagte, zog seine Identität in Zweifel.

»Kommunizierst du mit dieser… Wesenheit? Jetzt, meine ich? In diesem Moment?«

»Ich weiß nicht, ob man es Kommunikation nennen kann. Kommunikation wirkt in zwei Richtungen. Das ist hier nicht der Fall, nicht in dem Sinne, den du unterstellst. Und wirkliche Kommunikation wäre auch nicht ganz so überwältigend wie das hier. Vor allem nachts — bei Tageslicht ist der Input reduziert, vermutlich weil die Sonnenstrahlung das Signal schluckt.«

»Nachts ist das Signal stärker?«

»Vielleicht ist auch das Wort ›Signal‹ irreführend. Ein Signal ist das, was die ursprünglichen Replikatoren übermitteln sollten. Was ich empfange, kommt über die gleiche Trägerwelle und übermittelt Information, aber es ist aktiv, nicht passiv. Es versucht, das mit mir zu machen, was es mit allen anderen Knotenpunkten im Netzwerk gemacht hat. Es versucht, mein Nervensystem zu übernehmen und neu zu programmieren.«

Dann war also tatsächlich ein drittes Wesen mit im Zimmer. Ich, Jase — und die Hypothetischen, die ihn bei lebendigem Leibe auffraßen. »Können sie das? Dein Nervensystem umprogrammieren?«

»Nicht erfolgreich, nein. Für sie wirke ich wie eine beliebige Schnittstelle im Replikatorennetzwerk. Die Biotechnologie, die ich mir gespritzt habe, ist empfänglich für ihren Eingriff, doch auf andere Weise, als sie erwarten. Und weil sie mich nicht als biologisches Wesen wahrnehmen, können sie nichts anderes tun, als mich zu töten.«

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, dieses Signal abzublocken, dich davor zu schützen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Falls die Marsianer über eine solche Technik verfügen, haben sie es unterlassen, dies in ihren Archiven zu dokumentieren.«

Das Fenster in Jasons Zimmer ging nach Westen. Der rosenfarbene Schimmer, der jetzt zu uns hereindrang, kam von der untergehenden, hinter Wolken versteckten Sonne. »Und sie sind jetzt bei dir. Sprechen zu dir.«

»Sie. Es. Wir brauchten ein besseres Pronomen. Die ganze Von-Neumann-Ökologie ist ein einzelnes Wesen. Es denkt seine eigenen langsamen Gedanken, macht seine eigenen Pläne. Aber viele von seinen Billionen Teilen sind ebenfalls autonome Individuen, die miteinander wetteifern, die schneller agieren als das Netzwerk im Ganzen und die sehr viel intelligenter sind als jedes menschliche Einzelwesen. Die Spinmembran zum Beispiel…«

»Die Spinmembran ist ein Individuum!«

»In jedem wesentlichen Sinne, ja. Seine Ziele und Zwecke empfängt es aus dem Netzwerk, aber es wertet Ereignisse aus und trifft autonome Entscheidungen. Es ist komplexer, als wir es uns im Traum hätten vorstellen können, Tyler. Wir haben angenommen, die Membran sei entweder an oder aus, wie ein Lichtschalter, wie ein binärer Kode. Aber mitnichten. Sie kennt viele Zustände, viele Zwecke. Viele Stufen der Durchlässigkeit beispielsweise. Wir wussten, dass sie ein Raumschiff passieren lassen und einen Asteroiden abwehren kann, aber sie besitzt noch weitaus subtilere Fähigkeiten. Das ist der Grund, warum wir in den letzten Tagen nicht von der Sonnenstrahlung überwältigt wurden — die Membran gewährt uns noch immer einen gewissen Schutz.«

»Ich weiß nicht, wie groß die Zahl der Todesopfer ist, Jase, aber es muss allein in dieser Stadt tausende von Menschen geben, die Angehörige verloren haben, seit der Spin zu Ende ist. Ich würde mich doch sehr schwer tun, diesen Leuten zu sagen, dass sie ›beschützt‹ werden.«

»Aber das werden sie. Die Spinmembran ist nicht Gott — sie sieht nicht den Spatzen vom Dach fallen. Doch sie kann verhindern, dass der Spatz an tödlichem ultraviolettem Licht verbrennt.«

»Und wofür das alles?«

Jason runzelte die Stirn. »Ich… bekomme es nicht recht zu fassen. Oder vielleicht kann ich es auch nicht übersetzen…«

Es klopfte an der Tür. Carol trat mit einem Arm voll Bettwäsche ins Zimmer.

Ich schaltete den Rekorder ab. »Saubere Laken?«

»Zum Festbinden.« Die Laken waren in Streifen geschnitten. »Wenn die Krämpfe anfangen.« Sie deutete zum Fenster, auf das schwindende Tageslicht.

»Danke«, sagte Jason sanft. »Tyler, wenn du eine Pause brauchst, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt. Aber bleib nicht zu lange.«


Ich ging, um nach Diane zu sehen, die sich in einem entspannten Zwischenstadium befand. Sie schlief. Ich dachte über das marsianische Mittel nach, das ich ihr verabreicht hatte, die »Basisvier«, in Jasons Worten, die halbintelligenten Moleküle, die zum Kampf gegen die KVES-Bakterien in ihrem Körper antraten, winzig kleine Bataillone, ausgehoben, um sie zu reparieren und umzubauen, sofern ihr Körper noch nicht zu geschwächt war, um diese Belastungen zu überstehen.

Ich küsste sie auf die Stirn und sprach sanfte Worte, die sie vermutlich nicht hörte. Dann ging ich die Treppe hinunter und hinaus auf den Rasen des Großen Hauses.

Der Regen hatte endlich aufgehört — abrupt und vollständig —, und die Luft war so frisch wie den ganzen Tag nicht. Der Himmel war am Zenit tiefblau. Ein paar Wolkenfetzen umspielten die monströse Sonne, die sich anschickte, den westlichen Horizont zu küssen. Regentropfen standen auf jedem einzelnen Grashalm, winzige, bernsteinfarbene Perlen.

Jason hatte gesagt, dass er sterben werde. Jetzt begann ich es mir selbst einzugestehen.

Als Arzt hatte ich den Tod besser kennen gelernt, als es die meisten Leute je tun. Ich wusste, wie Menschen sterben. Ich wusste, dass das gängige Bild unserer Einstellung zum Tod — als Abfolge von Verleugnung, Wut, Hinnahme — bestenfalls eine grobe Verallgemeinerung war. Diese Emotionen mögen sich innerhalb von Sekunden entwickeln oder auch gar nicht; der Tod kann sie jederzeit übertrumpfen. Für viele Menschen stellt sich die Frage gar nicht, wie man seinem Tod begegnet — ihr Tod kommt unangekündigt, als Folge einer gerissenen Aorta oder einer falschen Entscheidung an einer vielbefahrenen Kreuzung.

Doch Jason wusste, dass er im Sterben lag. Und ich konnte es nicht fassen, dass er das mit einer so gespenstischen Gelassenheit hinnahm, bis ich begriff, dass in seinem Tod auch eine Erfüllung lag. Er stand im Begriff, dem auf die Spur zu kommen, dessen Erforschung er sein ganzes Leben gewidmet hatte: der Bedeutung des Spins und der Stellung der Menschheit darin — seiner Stellung darin, denn er war maßgeblich an der Ausschickung der Replikatoren beteiligt gewesen.

Es war, als habe er die Hand ausgestreckt und die Sterne berührt.

Und die Sterne hatten ihn berührt. Die Sterne brachten ihn um. Aber er starb im Zustand der Gnade.


»Wir müssen uns beeilen. Es ist fast dunkel, nicht wahr?«

»Fast.«

»Und der Regen hat aufgehört. Oder ich höre ihn jedenfalls nicht mehr.«

»Die Temperaturen sind auch runtergegangen. Möchtest du, dass ich das Fenster aufmache?«

»Ja, bitte. Den Audiorekorder, hast du ihn wieder eingeschaltet?«

»Er läuft.« Ich schob das alte Holzfenster einige Zentimeter nach oben, kühle Luft strömte in das Zimmer.

»Wir hatten über die Hypothetischen gesprochen…«

»Ja.«

Schweigen.

»Jase? Hörst du mich?«

»Ich höre den Wind. Ich höre deine Stimme. Ich höre…«

»Jason?«

»Tut mir Leid, Ty. Ich werde im Moment abgelenkt. Ich… uh!« Seine Arme und Beine zuckten heftig gegen die Leinenfesseln, die Carol über das Bett gebunden hatte. Sein Kopf bohrte sich ins Kissen. Es sah aus, als erleide er einen epileptischen Anfall, einen kurzen allerdings: Er war schon vorbei, noch bevor ich ans Bett getreten war. Er schnappte nach Luft, atmete tief ein. »Entschuldige, tut mir Leid…«

»Du musst dich nicht entschuldigen.«

»Ich kann nichts dagegen machen.«

»Ich weiß. Ist schon gut, Jase.«

»Gib ihnen keine Schuld dafür, was mit mir passiert.«

»Wem? Den Hypothetischen?«

Er versuchte zu lächeln, obwohl er offensichtlich Schmerzen hatte. »Wir sollten einen neuen Namen für sie finden, meinst du nicht? Sie sind nicht mehr so hypothetisch, wie sie mal waren. Aber mach sie nicht verantwortlich. Sie wissen nicht, was mit mir passiert. Ich befinde mich unterhalb ihrer Abstraktionsschwelle.«

»Was soll das heißen?«

Er sprach schnell und eifrig, als wäre unsere Unterhaltung eine willkommene Ablenkung von der körperlichen Qual. Vielleicht war es aber auch ein weiteres Symptom seines Zustands. »Du und ich, Tyler, wir sind Gemeinschaften von lebenden Zellen. Wenn du eine ausreichende Anzahl meiner Zellen beschädigst, dann sterbe ich, dann hast du mich ermordet. Wenn wir uns aber die Hände schütteln und ich dabei ein paar Hautzellen verliere, dann wird keiner von uns beiden den Verlust bemerken. Er bleibt unsichtbar. Wir leben auf einem gewissen Abstraktionsniveau, wir interagieren als Körper, nicht als Zellkolonien. Das Gleiche gilt für die Hypothetischen. Sie bewohnen ein größeres Universum als wir.«

»Und das gibt ihnen das Recht, Menschen zu töten?«

»Ich spreche über ihre Wahrnehmung, nicht über ihre Moral. Der Tod eines einzelnen Menschen — mein Tod — würde ihnen vielleicht etwas bedeuten, wenn sie ihn im richtigen Kontext wahrnehmen könnten. Aber das können sie nicht.«

»Sie haben das aber schon öfter gemacht, andere Spinwelten geschaffen — haben die Replikatoren das nicht entdeckt, bevor die Hypothetischen ihnen den Garaus machten?«

»Andere Spinwelten, ja. Viele. Das Netzwerk der Hypothetischen ist so weit gewachsen, dass es die bewohnbare Zone der Galaxis zum größten Teil umfasst. Und das ist es, was sie eben tun, wenn sie einem Planeten begegnen, der eine intelligente, Werkzeuge gebrauchende Spezies von einem gewissen Reifegrad beherbergt: Sie hüllen ihn in eine Spinmembran.«

Ich stellte mir Spinnen vor, die ihre Opfer in Seide wickeln. »Wozu?«

Die Tür ging auf. Carol war wieder da, ein Teelicht auf einer Porzellanuntertasse in der Hand. Sie stellte die Untertasse auf die Kommode und zündete die Kerze mit einem Streichholz an. Die Flamme tanzte, hatte Mühe, sich gegen die hereinwehende Brise zu behaupten.

»Um ihn zu schützen«, sagte Jason.

»Wogegen zu schützen?«

»Gegen das Altern, gegen den Tod. Technologische Kulturen sind sterblich, wie alles andere auch. Sie blühen so lange, bis sie ihre Ressourcen erschöpft haben, dann sterben sie.«

Es sei denn, sie machen es anders, dachte ich. Es sei denn, sie setzen ihre Blüte fort, indem sie sich ausdehnen, in ihr Sonnensystem, in ihre Galaxis…

Jason nahm meinen Einwand vorweg: »Für Wesen mit einer Lebensdauer wie der unsrigen ist selbst die Raumfahrt in der näheren Umgebung langsam und ineffizient. Wer weiß, vielleicht wären wir die Ausnahme von der Regel gewesen. Doch die Hypothetischen treiben sich schon sehr, sehr lange da draußen nun. Bevor sie die Spinmembran entwickelten, haben sie unzählige Zivilisationen dabei beobachtet, wie sie in ihrem eigenen Ausfluss ertrunken sind.« Er holte Luft, hustete, würgte.

Carol drehte sich zu ihm um. Die Maske der Professionalität fiel von ihr ab, und in dem Augenblick, den er brauchte, um sich wieder zu erholen, war sie einfach nur von Angst ergriffen, keine Ärztin mehr, sondern eine Mutter, deren Kind stirbt.

Jason konnte es — zum Glück — nicht sehen. Er schluckte schwer und begann langsam wieder normal zu atmen.

»Aber wozu der Spin, Jase? Er stößt uns in die Zukunft, doch er ändert überhaupt nichts.«

»Im Gegenteil«, sagte er. »Er ändert alles.«


Jasons letzte Nacht war insofern paradox, als seine Ausdrucksweise immer unbeholfener und stockender wurde, während das Wissen, das ihm zufloss, exponentiell zu wachsen schien. Ich glaube, er erfuhr in diesen wenigen Stunden mehr, als er auch nur ansatzweise mitteilen konnte, und selbst das, was er mitteilte, war überwältigend, war ungeheuerlich in dem, was es über das Schicksal der Menschheit andeutete.

Lassen wir das Trauma beiseite, das gequälte Tasten nach den richtigen Worten; was er sagte, war… Nun, es begann mit dem Satz: »Versuch es aus ihrer Warte zu betrachten.«

Ihre Warte: die der Hypothetischen.

Die Hypothetischen — ob als ein einzelner Organismus oder als Vielheit von Organismen betrachtet — hatten sich aus schlichten Von-Neumann-Apparaturen entwickelt und allmählich über unsere Galaxis verbreitet. Der Ursprung dieser ersten selbstreproduzierenden Maschinen lag im Dunkeln; ihre Nachkommen hatten keine direkte Erinnerung daran, so wenig, wie Sie oder ich uns an die menschliche Evolution »erinnern« können. Vielleicht waren sie das Produkt einer früh entstandenen biologischen Kultur, von der es keine Spuren mehr gab; vielleicht waren sie auch aus einer anderen, älteren Galaxis eingewandert. Jedenfalls gehörten die Hypothetischen von heute einem fast unvorstellbar alten Geschlecht an. Unzählige Male hatten sie mit angesehen, wie intelligente biologische Spezies sich auf Planeten wie dem unseren entwickelten und dann ausstarben. (Durch passives Übertragen organischen Materials von Stern zu Stern mögen sie sogar dazu beigetragen haben, den Prozess der Evolution in Gang zu setzen.) Und sie hatten beobachtet, wie biologische Kulturen als Nebenprodukt ihrer rasch wachsenden Komplexität primitive Von-Neumann-Netzwerke hervorbrachten — nicht einmal, sondern viele Male. Für die Hypothetischen sahen wir alle mehr oder weniger aus wie Replikatorenbrutstätten: seltsam, fruchtbar, fragil. Aus ihrer Warte war dieses stotternde Schwangergehen mit einfachen Von-Neumann-Netzwerken, gefolgt vom raschen ökologischen Kollaps des Ursprungsplaneten, sowohl ein Rätsel als auch eine Tragödie. Ein Rätsel, weil flüchtige Ereignisse auf einer rein biologischen Zeitskala für sie schwer zu begreifen oder auch nur wahrzunehmen waren. Eine Tragödie, weil sie die Vorläuferkulturen als gescheiterte biologische Netzwerke zu begreifen begonnen hatten, die — ähnlich wie sie selbst — wachsender Komplexität zustrebten, aber vorzeitig der Endlichkeit ihrer planetarischen Ökosysteme zum Opfer fielen. Für die Hypothetischen hatte der Spin also den Sinn, uns — und dutzende von ähnlichen Zivilisationen, die zuvor und seither auf anderen Planeten entstanden waren — im Zustand unserer technologischen Blüte zu erhalten. Doch wir waren keine Museumsstücke, eingefroren zur öffentlichen Zurschaustellung — vielmehr bastelten die Hypothetischen uns ein neues Schicksal. Während sie uns in den extremen Langsammodus gestellt hatten, trugen sie die Teile eines Experiments zusammen, eines über Milliarden von Jahren konzipierten und jetzt seiner Vollendung zustrebenden Experiments: eine erweiterte biologische Umwelt zu erzeugen, in die hinein sich diese ansonsten zum Untergang verurteilten Kulturen ausdehnen konnten, in der sie sich schließlich begegnen und miteinander vermischen würden.


Ich begriff die Bedeutung dieser Formulierung nicht. »Eine erweiterte biologische Umwelt? Größer als die Erde selbst?«

Inzwischen war es dunkel. Jasons Worte wurden von krampfartigen Bewegungen und unwillkürlichen Lauten unterbrochen. Von Zeit zu Zeit überprüfte ich seinen Puls, der recht schnell ging und schwächer wurde. »Die Hypothetischen«, sagte er, »können Zeit und Raum manipulieren, den Beweis dafür sehen wir rings um uns. Aber damit, eine Zeitmembran zu erschaffen, sind ihre Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft. Mit Hilfe von räumlichen Schleifen können sie unseren Planeten mit anderen, ähnlichen Planeten verbinden… neuen Planeten, einige davon künstlich geschaffen, zu denen wir reisen können, direkt und ganz leicht… über Verbindungsstücke, Brücken, was auch immer, Konstruktionen, von den Hypothetischen zusammengefügt aus der Materie toter Sterne… Konstruktionen, die buchstäblich durch den Weltraum geschleppt wurden, geduldig, sehr geduldig, im Verlauf vieler Millionen Jahre…«

Carol saß auf der einen Seite des Bettes, ich auf der anderen. Ich hielt Jasons Schultern fest, wenn sein Körper in Zuckungen verfiel, und sie streichelte seinen Kopf während der Phasen, in denen er nicht sprechen konnte. Seine Augen funkelten im Kerzenlicht, er starrte angestrengt ins Nichts.

»Die Spinmembran ist immer noch da, sie arbeitet, denkt, aber ihre zeitliche Funktion besteht nicht mehr, ist abgeschlossen… Das ist es, was es mit dem Flackern auf sich hatte, eine Begleiterscheinung des allmählichen Herunterfahrens… Und jetzt ist die Membran durchlässig, sodass etwas in die Atmosphäre eintreten kann, etwas Großes…«

Später dann wurde klar, was er meinte. Doch zunächst dachte ich, er würde allmählich in den Zustand der Demenz übergehen, wäre einer Art metaphorischen Überlast erlegen, ausgelöst durch das Wort »Netzwerk«. Aber ich irrte mich.

Ars moriendi ars vivendi est: Die Kunst des Sterbens ist die Kunst des Lebens. Das hatte ich irgendwann während meines Studiums gelesen, und das fiel mir jetzt wieder ein, als ich bei ihm saß. Jason starb, wie er gelebt hatte — im heroischen Streben nach Erkenntnis. Und sein Geschenk an die Welt sollte in den Früchten dieser Erkenntnis bestehen, den nicht gehorteten, sondern frei verteilten, allen zugänglichen Früchten.

Die andere Erinnerung, die sich einstellte, während Jasons Nervensystem von den Hypothetischen umgewandelt und zerfressen wurde, ohne dass diese ahnten, dass es für ihn tödlich enden würde, ging zu jenem Nachmittag vor langer Zeit zurück, als er auf meinem Billigfahrrad den Abhang der Bantam Hill Road hinuntergerast war. Ich dachte daran, wie geschickt, mit fast balletthafter Eleganz, er das auseinanderfallende Gefährt kontrolliert hatte, bis von diesem nichts mehr blieb als Ballistik und Geschwindigkeit, der unvermeidliche Übergang von Ordnung in Chaos.

Jasons Körper — und man bedenke, dass er ein Vierter war — war eine fein eingestellte Maschine. Er starb nicht leicht. Irgendwann vor Mitternacht verlor er die Fähigkeit zu sprechen. Carol hielt seine Hand und sagte ihm, er sei sicher, er sei zu Hause. Ich weiß nicht, ob dieser Trost ihn noch erreichte in den seltsamen und verschlungenen Gefilden, die sein Bewusstsein nun betreten hatte. Ich hoffe es.

Nicht lange danach verdrehten sich seine Augen, seine Muskeln entspannten sich. Sein Körper kämpfte noch weiter, rang sich krampfhafte Atemzüge ab, fast bis in den Morgen hinein. Dann ließ ich ihn mit Carol allein, die ihm mit unendlicher Zärtlichkeit über den Kopf strich und ihm weiter zuflüsterte. Ich bemerkte nicht, dass die Sonne, als sie aufging, nicht mehr aufgedunsen und rot war, sondern so hell und strahlend und vollkommen wie vor dem Ende des Spins.

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