Gastfreundschaft

»Hast du das gesehen?«

Molly Seagram deutete, als ich die Ambulanz betrat, auf eine Zeitschrift auf dem Empfangstisch. Ihr Gesichtsausdruck sagte: schlechtes Juju, böse Vorzeichen. Ein monatlich erscheinendes Nachrichtenmagazin, auf dem Titel ein Bild von Jason. Überschrift: DIE SEHR PRIVATE PERSÖNLICHKEIT HINTER DEM ÖFFENTLICHEN GESICHT DES PERIHELION-PROJEKTS. »Nichts Gutes, wenn ich dich recht verstehe?« Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht unbedingt schmeichelhaft. Lies selbst. Wir können uns beim Essen darüber unterhalten.« Ich hatte bereits versprochen, sie abends zum Essen auszuführen. »Oh, und Mrs. Tuckman ist schon bereit und wartet in Box drei.«

Ich hatte Molly schon oft gebeten, die Wartezimmer nicht als »Boxen« zu bezeichnen, aber es lohnte sich nicht, darüber einen Streit anzufangen. Ich schob die Zeitschrift in meine Postablage. Es war ein träger, regnerischer Aprilmorgen, Mrs. Tuckman war meine einzige angemeldete Patientin vor der Mittagspause.

Sie war die Frau eines bei Perihelion angestellten Ingenieurs und war schon dreimal im letzten Monat bei mir gewesen, sie klagte über Angstzustände und Erschöpfung. Die Ursache ihres Problems war nicht schwer zu erahnen: Zwei Jahre waren seit der Umhüllung des Mars vergangen, und es gingen Gerüchte über Entlassungen bei Perihelion um. Die finanzielle Situation ihres Mannes war ungewiss, und ihre eigenen Versuche, Arbeit zu finden, waren ergebnislos geblieben. Sie verbrauchte ihr Xanax mit erschreckender Geschwindigkeit und verlangte Nachschub, und zwar dringend.

»Vielleicht sollten wir ein anderes Medikament ins Auge fassen«, sagte ich.

»Ich möchte kein Antidepressivum nehmen, falls Sie das meinen.« Sie war eine kleine Frau, ihr ansonsten angenehmes Gesicht schien in einem habituellen Stirnrunzeln erstarrt. Ihr Blick flackerte unruhig durchs Sprechzimmer, verharrte eine Weile auf dem regennassen Fenster, das auf den Südrasen hinausging. »Im Ernst. Ich hab mal sechs Monate lang Paraloft genommen und bin gar nicht mehr von der Toilette runtergekommen.«

»Wann war das?«

»Bevor Sie gekommen sind. Dr. Koenig hatte es verschrieben. Da war natürlich noch alles anders, ich habe Carl kaum gesehen, so viel musste er arbeiten. Aber wenigstens sah es damals nach einer guten, festen Anstellung aus, nach etwas Dauerhaftem. Ich hätte wahrscheinlich dankbar sein sollen für das, was wir hatten. Ist das nicht in meiner, äh, Krankenakte oder wie das heißt?«

Ihre Patientengeschichte lag aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch. Dr. Koenigs Aufzeichnungen waren oft schwer zu entziffern, aber immerhin hatte er einen roten Stift benutzt, um wichtige Sachverhalte hervorzuheben: Allergien, chronische Befindlichkeiten. Die Einträge in Mrs. Tuckmans Akte waren kurz und bündig und eher kleinlich. Hier sah ich eine Notiz über Paraloft, abgesetzt (Datum nicht zu entziffern) auf Wunsch der Patientin, »Patientin klagt weiterhin über Nervosität, Zukunftsängste«. Zukunftsängste — hatten wir die nicht alle?

»Jetzt können wir nicht mal mehr auf Carls Job zählen. Mein Herz hat so geklopft letzte Nacht — ich meine, so schnell, ungewöhnlich schnell. Ich dachte, es wäre vielleicht, na ja, Sie wissen schon.«

»Nein, was?«

»Na ja. KVES.«

KVES — kardiovaskuläres Erschöpfungssyndrom — war in den letzten Monaten durch die Nachrichten gegangen. In Ägypten und im Sudan hatte es tausende von Todesfällen gegeben, und zuletzt waren Fälle in Griechenland, Spanien und im Süden der USA gemeldet worden. Es war eine sich langsam entwickelnde bakterielle Infektion, ein potenzielles Problem für tropische Drittweltländer, aber mit modernen Medikamenten gut behandelbar. Mrs. Tuckman hatte von KVES nichts zu befürchten, und das sagte ich ihr.

»Es heißt, sie hätten es über uns abgeworfen.«

»Wer hat was abgeworfen, Mrs. Tuckman?«

»Diese Krankheit. Die Hypothetischen. Die haben sie über uns abgeworfen.«

»Alles, was ich gelesen habe, spricht dafür, dass KVES von Rindern übertragen wurde.« Nach wie vor war es eine Krankheit, von der überwiegend Huftiere befallen wurden, sie führte regelmäßig zu einer Dezimierung der Viehbestände in Nordafrika.

»Rinder. Hm. Aber sie würden einem das nicht unbedingt erzählen, nicht wahr? Ich meine, sie würden nicht hergehen und es in den Nachrichten verkünden.«

»KVES ist eine akute Erkrankung. Falls Sie sich infiziert hätten, würden Sie schon längst im Krankenhaus liegen. Ihr Puls ist normal und Ihr Kardiogramm völlig in Ordnung.«

Sie schien nicht überzeugt. Schließlich verschrieb ich ihr ein alternatives Anxiolytikum — im Grunde haargenau das Gleiche wie Xanax, nur mit einem anderen molekularen Seitenstrang —, in der Hoffnung, dass der neue Markenname, wenn schon nicht das Medikament selbst, etwas Nützliches bewirken würde. Mrs. Tuckman verließ die Praxis beschwichtigt, sie trug das Rezept in der Hand wie eine heilige Schriftrolle.

Ich fühlte mich nutzlos und ein bisschen wie ein Betrüger.

Aber mit ihrer Befindlichkeit stand Mrs. Tuckman alles andere als allein: Die ganze Welt schwebte in Angst. Was einst als unsere beste Chance auf Überleben gegolten hatte, nämlich die Terraformung und Kolonisierung des Mars, war in Ohnmacht und Ungewissheit gemündet. Womit uns keine Zukunft mehr blieb als die des Spins. Die globale Wirtschaft war ins Trudeln geraten, denn Konsumenten wie Staaten häuften Schulden auf in der Erwartung, sie nie begleichen zu müssen, während Kreditgeber Geldmittel horteten und die Zinsen in die Höhe schossen. Religiöser Fanatismus und brutale Kriminalität stiegen rasant an, hier ebenso wie im Ausland. Die Folgen waren besonders verheerend in den Ländern der Dritten Welt, wo der Zusammenbruch der Währungen und wiederholte Hungerkatastrophen zur Wiederbelebung lange schlummernder marxististischer und militant islamischer Bewegungen beitrugen.

Der psychologische Umschwung war nicht schwer zu verstehen. Ebenso die Gewalt. Viele Menschen hegen irgendeinen Groll, aber nur jemandem, der jeden Glauben an die Zukunft verloren hat, traut man zu, dass er eines Tages mit einer Maschinenpistole und einer Abschussliste bei der Arbeit aufkreuzt. Die Hypothetischen hatten, ob willentlich oder nicht, genau diese Art von tödlicher Verzweiflung ausgelöst. Die potenziellen Amokläufer waren Legion, und zu ihren Feinden gehörten Amerikaner, Briten, Kanadier, Dänen etc., oder, umgekehrt, alle Muslime, Dunkelhäutigen, nicht Englischsprachigen, alle Katholiken, Fundamentalisten, Atheisten, alle Liberalen, alle Konservativen. Für solche Leute lag das vollkommene Zeugnis moralischer Klarheit in einem Lynchmord oder einem Selbstmordattentat, einer Fatwa oder einem Pogrom. Und sie waren im Aufsteigen begriffen, wie Sterne über einer Totenlandschaft.

Wir lebten in gefährlichen Zeiten. Mrs. Tuckman wusste das, und alle Xanax-Bestände der Welt würden sie nicht vom Gegenteil überzeugen.


Beim Mittagessen sicherte ich mir einen Tisch im hinteren Bereich der Cafeteria, wo ich bei einer Tasse Kaffee den auf den Parkplatz prasselnden Regen beobachtete und in der Zeitschrift las, auf die mich Molly hingewiesen hatte.


Gäbe es eine Wissenschaft der Spinologie, begann der Artikel, dann wäre Jason Lawton ihr Newton, ihr Einstein, ihr Stephen Hawking.


Genau das, was E. D. der Presse von jeher in den Mund gelegt hatte und was Jason nur mit Grausen hörte.


Ob radiologische Untersuchungen oder Durchlässigkeitsstudien, ob reine Wissenschaft oder philosophische Debatten, es gibt kaum einen Bereich der Spin-Forschung, den seine Ideen nicht befruchtet und durchdrungen hätten. Seine Veröffentlichungen sind zahlreich und oft zitiert, seine Teilnahme verwandelt verschlafene akademische Konferenzen schlagartig in Medienereignisse. Und als stellvertretender Vorsitzender der Perihelion-Stiftung hat er starken Einfluss auf die amerikanische und weltweite Raumfahrtpolitik in der Spin-Ära genommen.

Aber bei allen mit dem Namen Jason Lawton verbundenen unzweifelhaften Erfolgen — und dem gelegentlichen Hype — sollte man nicht vergessen, dass Perihelion von seinem Vater gegründet wurde, Edward Dean (E. D.) Lawton, der nach wie vor eine herausragende Stellung im Lenkungsausschuss und als persönlicher Berater des Präsidenten einnimmt. Und auch das öffentliche Bild des Sohnes, so behauptet manch einer, ist eine Schöpfung des ebenso einflussreichen und in der Öffentlichkeit weitaus weniger bekannten älteren Lawtons.


Im Folgenden ließ sich der Artikel näher über E. D.s Werdegang aus: der gewaltige Erfolg seiner Aerostat-Telekommunikation in der Folge des Spins, seine Quasiadoption durch drei hintereinander folgende Regierungen, die Gründung der Perihelion-Stiftung.


Ursprünglich als Expertenkommission und Industrielobbygruppe konzipiert, erfand Perihelion sich schließlich gewissermaßen neu als eine Regierungsbehörde, die spinbezogene Raumfahrtprojekte entwarf und die Arbeit von Dutzenden von Universitäten, Forschungseinrichtungen und NASA-Zentren koordinierte. Der Niedergang der NASA in ihrer alten Form war gleichbedeutend mit dem Aufstieg Perihelions. Vor zehn Jahren hat man das Verhältnis dann formalisiert, und Perihelion wurde, nach einer subtilen Neustrukturierung, der NASA offiziell als beratendes Organ angegliedert. In Wirklichkeit, so die Meinung von Insidern, wurde die NASA an Perihelion angegliedert. Und während das Junggenie Jason Lawton die Presse in seinen Bann schlug, zog sein Vater weiter ungestört die Fäden.


Es folgte eine kritische Beleuchtung von E. D.s langjähriger Beziehung zur Regierung Garland, mit der Andeutung eines möglichen Skandals: gewisse technische Vorrichtungen seien zum Stückpreis von mehreren Millionen Dollar von einer kleinen Firma aus Pasadena gefertigt worden, obwohl Ball Aerospace ein kostengünstigeres Angebot gemacht habe. Inhaber der begünstigten Firma sei einer von E. D.s alten Kumpanen.

Wir befanden uns gerade mitten in einem Wahlkampf, in dessen Verlauf beide großen Parteien radikale Flügel ausgegliedert hatten. Garland, ein Reformrepublikaner, dessen Politik von dieser Zeitschrift beständig kritisiert wurde, war für zwei Amtsperioden gewählt worden, und Preston Lomax, Vizepräsident und designierter Nachfolger, führte in den letzten Umfragen deutlich vor seinem Konkurrenten. Der »Skandal« war in Wirklichkeit keiner: Balls Angebot hatte zwar niedriger gelegen, aber das von ihnen entworfene Produkt war weniger effektiv; die Ingenieure aus Pasadena hatten einfach mehr Instrumente in einem entsprechenden Nutzlastgewicht untergebracht.

Das sagte ich auch zu Molly beim Abendessen im Champs, anderthalb Kilometer von Perihelion entfernt an derselben Straße gelegen. Der Artikel brachte im Grunde nichts Neues, die Unterstellungen waren eher politisch als sachlich motiviert.

»Spielt es eine Rolle«, fragte Molly, »ob sie Recht haben oder nicht? Das Entscheidende ist doch, wie sie uns behandeln. Plötzlich ist es möglich, dass ein großes Presseerzeugnis sich auf Perihelion einschießt.«

An anderer Stelle in der gleichen Ausgabe wurde das Mars-Projekt als »die größte und sinnloseste Verschwendung aller Zeiten« charakterisiert, »bezahlt nicht nur mit unvorstellbar viel Geld, sondern auch mit Menschenleben, ein Zeugnis der menschlichen Fähigkeit, aus einer globalen Katastrophe Profit zu schlagen.«

Der Autor des Kommentars war Redenschreiber für die Christian Conservative Party. »Dieses Schmierblatt gehört der CCP, Molly. Das weiß doch jeder.«

»Die wollen unseren Laden dichtmachen.«

»Das wird ihnen aber nicht gelingen. Selbst wenn Lomax die Wahl verliert. Selbst wenn sie uns auf Beobachtungsmissionen zurückstutzen — wir sind das einzige Auge, das die Nation auf den Spin werfen kann.«

»Was nicht bedeutet, dass wir nicht alle gefeuert und ersetzt werden könnten.«

»So dramatisch ist es nicht.«

Sie schien nicht überzeugt.

Ich hatte Molly als Sprechstundenhilfe von Dr. Koenig geerbt. Fast fünf Jahre lang war sie ein höflicher, tüchtiger und effizienter Bestandteil des Praxismobiliars gewesen. Unsere Unterhaltung war nicht über den üblichen Austausch freundlicher Floskeln hinausgegangen, wobei ich immerhin erfahren hatte, dass sie allein lebte, drei Jahre jünger war als ich und in einem vom Meer abgewandten Appartement in einem Haus ohne Aufzug wohnte. Da sie auf mich keinen besonders gesprächigen Eindruck machte, hatte ich angenommen, dass dieses höflich distanzierte Verhältnis in ihrem Sinne war.

Dann, an einem Donnerstagabend vor knapp einem Monat, hatte Molly, während sie ihre Sachen zusammenpackte, sich mir plötzlich zugewandt und mich gefragt, ob ich mit ihr zu Abend essen wolle. Warum? »Weil ich keine Lust mehr habe zu warten, dass Sie mich mal fragen. Also, ja oder nein?«

Ja.

Molly erwies sich als eine kluge, verschmitzte und zu Spott aufgelegte Frau, kurzum, eine angenehmere Gesellschaft, als ich gedacht hatte. Seit drei Wochen aßen wir jetzt zusammen im Champs. Uns gefiel die Speisekarte (unprätenziös) und die Atmosphäre (kollegial). Ich dachte oft, dass Molly wirklich am allerbesten in dieser Kunststofftischecke im Champs zur Geltung kam, die sie mit ihrer Anwesenheit schmückte, ja der sie sogar eine gewisse Würde verlieh. Ihr blondes Haar war lang und hing etwas schlaff in der hohen Luftfeuchtigkeit des Abends.

»Hast du die Hintergrundinfo zu dem Artikel gelesen?«, fragte sie.

»Überflogen.« In einem Hintergrundporträt hatte die Zeitschrift Jasons beruflichen Erfolg einem Privatleben gegenübergestellt, das sich entweder vollkommen im Verborgenen abspielte oder gar nicht existierte. Bekannte sagen, seine Wohnung sei ebenso karg eingerichtet wie sein Liebesleben. Niemals hat es auch nur Gerüchte gegeben über eine Verlobte, Freundin oder sonst eine intime Bekanntschaft, welchen Geschlechts auch immer. Es drängt sich unvermeidlich das Bild eines Mannes auf der mit seinen Ideen nicht nur verheiratet, sondern ihnen auf fast pathologische Weise ergeben ist. Und in vielerlei Hinsicht bleibt Jason Lawton, wie die Perihelion-Stifiung insgesamt, unter dem erdrückenden Einfluss seines Vaters…

»Wenigstens dieser Teil klingt korrekt.«

»Findest du? Zugegeben, Jason kann manchmal ein bisschen selbstbezogen wirken, aber…«

»Er geht durch die Rezeption, als würde ich gar nicht existieren. Sicher, das ist trivial, aber es zeugt nicht gerade von großer Wärme. Wie läuft seine Behandlung?«

»Er ist nicht in Behandlung, Moll.« Sie hatte zwar Jasons Krankenblätter gesehen, aber ich hatte dort keine Einträge über seine AMS gemacht. »Er kommt, um sich zu unterhalten.«

»Aha. Und manchmal, wenn er reinkommt, um sich zu unterhalten, humpelt er zum Gotterbarmen. Nein, du brauchst nichts zu sagen. Aber ich bin nicht blind — nur zu deiner Information. Wie auch immer, er ist gerade in Washington, stimmt’s?«

Häufiger dort als in Florida. »Jede Menge Gespräche zu führen. Alle Welt positioniert sich für die Zeit nach der Wahl.«

»Da läuft also irgendetwas.«

»Irgendetwas läuft immer.«

»Ich meine, mit Perihelion. Die Kollegen von der Technischen Abteilung haben einige Hinweise. Weißt du, was zum Beispiel seltsam ist? Wir haben gerade noch mal wieder 50 Hektar Fläche westlich vom Zaun erworben. Das hab ich von Tim Chesley gehört, dem Datenverarbeitungstypen in der Personalabteilung. Angeblich kommen nächste Woche irgendwelche Landvermesser ins Haus.«

»Wozu?«

»Weiß keiner. Vielleicht expandieren wir. Oder vielleicht werden wir in eine Mall umgewandelt.«

Das war das erste Mal, dass ich davon hörte.

»Du bist nicht auf dem Laufenden«, sagte Molly lächelnd. »Du brauchst Kontakte. So wie mich.«


Nach dem Essen gingen wir zu Molly nach Hause, wo ich die Nacht verbrachte.

Ich werde hier nicht die Gesten, Blicke und Berührungen beschreiben, mit denen wir unsere Intimitäten ins Werk setzten. Nicht weil ich prüde bin, sondern weil ich offenbar keine Erinnerung mehr daran habe. Sie ist der Zeit zum Opfer gefallen, meiner Neuerschaffung. Ja sicher, mir ist die Ironie bewusst, die darin liegt. Ich kann den Artikel zitieren, über den wir sprachen, und ich kann Ihnen sagen, was sie im Champs gegessen hat — aber alles, was vom Sex geblieben ist, ist ein verblasstes Erinnerungsbild: ein abgedunkeltes Zimmer, eine feuchte Brise, in der sich die Vorhangspindeln drehten, und ihre grünen Augen vor meinem Gesicht.


Nach einem Monat war Jason wieder bei Perihelion und fegte durch die Gänge, als habe er sich Infusionen eines bisher unbekannten Aufputschmittels verabreichen lassen.

Er brachte eine Armee von Sicherheitspersonal mit, ganz in Schwarz gekleidet, niemand wusste genau, wo sie herkamen, man vermutete aber, dass sie das Finanzministerium repräsentierten. Ihnen folgten wiederum kleine Bataillone von Bürokraten und Landvermessern, die die Flure bevölkerten und sich weigerten, mit irgendjemandem aus der Belegschaft zu sprechen. Molly gab die umlaufenden Gerüchte an mich weiter: Die Anlage solle dem Erdboden gleichgemacht werden; die Anlage solle erweitert werden; wir sollten alle entlassen werden; wir sollten alle Gehaltserhöhungen bekommen. Kurzum, irgendetwas war im Busch.

Fast eine Woche lang hörte ich nichts von Jason. An einem Donnerstagnachmittag dann, als wenig Betrieb herrschte, piepte er mich in meiner Praxis an und bat mich, in den zweiten Stock zu kommen: »Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.«

Noch bevor ich das inzwischen schwer bewachte Treppenhaus erreichte, hatte sich mir bereits eine Eskorte bewaffneter Wärter beigesellt, die laut Abzeichen überall unbeschränkten Zugang hatten und mich nach oben zu einem Konferenzzimmer führten. Offenbar also kein beiläufiges Beisammensein, dies war eine schwerwiegende Perihelion-Angelegenheit, zu der ich gar keinen Zugang hätte haben dürfen. Offenbar hatte Jason mal wieder beschlossen, Geheimnisse mit mir zu teilen. Niemals ein ganz unzweifelhaftes Vergnügen. Ich holte tief Luft und schob mich durch die Tür.

In dem Raum befanden sich ein Mahagonitisch, ein halbes Dutzend Plüschsessel und, von mir abgesehen, zwei Männer.

Einer der Männer war Jason.

Den zweiten Mann hätte man mit einem Kind verwechseln können. Ein entsetzlich verbranntes Kind, das dringend eine Hauttransplantation benötigte — das war mein erster Eindruck. Dieses Individuum, etwa eins fünfundfünfzig groß, stand in einer Ecke des Zimmers. Es trug eine blaue Jeans und ein schlichtes weißes Baumwollshirt. Seine Schultern waren breit, die Augen groß und blutunterlaufen, und die Arme schienen ein bisschen zu lang für den verkürzten Torso.

Aber das Auffallendste an ihm war die Haut. Die Haut war ohne Glanz, aschschwarz und vollkommen haarlos. Sie war nicht faltig im herkömmlichen Sinne — nicht lose, wie etwa die eines Bluthundes —, sondern extrem strukturiert, runzelig wie die Schale einer Honigmelone.

Der kleine Mann kam auf mich zu und streckte die Hand aus. Eine kleine faltige Hand am Ende eines langen faltigen Arms. Ich ergriff sie zögerlich. Mumienfinger, dachte ich. Aber fleischig, dick, wie die Blätter einer Wüstenpflanze; es war, als würde man eine Hand voll Aloe vera drücken und diese drückten zurück. Das Geschöpf grinste.

»Das ist Wun«, sagte Jason.

»Was ist wund?«

Wun lachte. Seine Zahne waren groß, stumpf und makellos. »Ich kann mich immer wieder an diesem köstlichen Witz erfreuen.«

Sein voller Name lautete Wun Ngo Wen, und er kam vom Mars.


Der Mann vom Mars.

Was eigentlich eine irreführende Bezeichnung war. Die Marsianer haben eine lange literarische Geschichte, von H. G. Wells bis Kim Stanley Robinson, aber in Wirklichkeit war der Mars natürlich ein toter Planet. Bis wir das änderten. Bis wir unsere eigenen Marsianer gebaren.

Und hier stand offenbar ein lebendes Exemplar vor mir. 99,9% menschlich, wenn auch etwas seltsam gestaltet. Eine marsianische Person, Nachkomme — über Jahrtausende einer am Spin hängenden Zeit — der Kolonisten, die wir erst zwei Jahre zuvor auf ihre Mission geschickt hatten. Er sprach ein geradezu penibles Englisch, der Akzent klang halb nach Oxford, halb nach Neu Delhi. Er lief auf und ab. Er nahm eine Flasche Mineralwasser vom Tisch, schraubte den Verschluss ab und trank ausgiebig. Er wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab. Kleine Tröpfchen perlten auf der zerfurchten Haut.

Ich setzte mich und versuchte ihn nicht anzustarren, während Jason mir alles erklärte.

Hier folgt, was er sagte, ein bisschen vereinfacht und mit einigen Details angereichert, die ich später erfuhr.


Der Marsianer hatte seinen Planeten verlassen, kurz bevor sich die Spinmembran um diesen gelegt hatte.

Wun Ngo Wen war Historiker und Linguist, relativ jung für marsianische Verhältnisse — fünfundfünfzig terrestrische Jahre — und körperlich gut in Schuss. Er war Gelehrter von Beruf, leistete zudem zwischen zwei Aufträgen freiwillige Arbeit für landwirtschaftliche Kooperativen und hatte gerade einen Monat am Delta des Kirioloj verbracht, in der Gegend, die wir als das Argyre-Planitia-Einschlagbecken bezeichneten und von den Marsianern die Baryalische Ebene (Epu Baryal) genannt wurde, als der Einsatzbefehl ihn ereilte.

Wie tausende von anderen Männern und Frauen seines Alters und seiner Klasse, hatte Wun seine Zeugnisse den Ausschüssen überantwortet, die eine projektierte Reise zur Erde planten und koordinierten, ohne aber im Ernst damit zu rechnen, dass er dafür ausgewählt werden würde. Er war eigentlich sogar von Natur aus eher zurückhaltend und hatte sich bisher, abgesehen von Dienstreisen und Familientreffen, kaum aus seiner eigenen Präfektur herausgewagt. Er war überaus bestürzt, als sein Name aufgerufen wurde, und wäre er nicht erst kürzlich in sein Viertes Lebensalter eingetreten, hätte er sich dem Ansinnen möglicherweise verweigert. Mit Sicherheit wären doch wohl andere für diese Aufgabe besser geeignet? Aber nein, offenbar nicht; seine Begabungen und sein Lebensweg entsprächen den Anforderungen in einzigartiger Weise, versicherten die Behörden, und so regelte er seine Angelegenheiten (sofern es etwas zu regeln gab) und bestieg einen Zug zum Startkomplex in Basalt-Trocken (auf unseren Karten: Tharsis), wo er in die Aufgabe eingewiesen wurde, die Fünf Republiken auf einer diplomatischen Mission zur Erde zu repräsentieren.

Die marsianische Technologie hatte sich erst seit kurzem dem Projekt der bemannten Raumfahrt zugewandt. In der Vergangenheit hatten die regierenden Räte darin ein ausgesprochen riskantes Abenteuer gesehen, mit dem man nur Gefahr lief, die Aufmerksamkeit der Hypothetischen zu erregen und wichtige Ressourcen zu vergeuden, denn es würde einen aufwendigen Produktionsprozess erfordern, der zudem nicht vorgesehene Substanzen in eine akribisch regulierte und sehr empfindliche Biosphäre entlassen würde. Die Marsianer waren von Natur aus Konservierende, Hortende. Ihre kleinteilige, biologisch ausgerichtete Technologie war alt und ausgereift, der industrielle Sektor jedoch schmal und durch die unbemannten Forschungsflüge zu den winzigen, völlig nutzlosen Monden des Planeten schon gehörig strapaziert.

Aber seit Jahrhunderten hatten sie die spinumhüllte Erde beobachtet und allerlei Spekulationen angestellt. Sie wussten, dass der dunkle Planet die Wiege der Menschheit war, und Teleskop-Bilder sowie die aus einem verspätet angekommenen NEP-Schiff geborgenen Daten lehrten sie, dass die umgebende Membran durchlässig war. Sie begriffen die temporale Natur des Spins, nicht aber die Mechanismen, die ihn erzeugten. Eine Reise vom Mars zur Erde, so ihre Überlegung, wäre zwar physisch möglich, aber schwierig und unpraktisch. Schließlich befand sich die Erde in einem praktisch statischen Zustand; ein in die terrestrische Dunkelheit geworfener Kundschafter würde dort für Jahrtausende festgehalten, auch wenn er, nach eigener Zeitrechnung, schon am Tag darauf wieder aufbräche.

Nun war es aber so, dass aufmerksame Astronomen kürzlich kastenartige Strukturen entdeckt hatten, die sich in aller Stille hunderte von Kilometern über den marsianischen Polen bildeten — Artefakte der Hypothetischen, nahezu identisch mit denen, die man von der Erde her kannte. Nach einhunderttausend Jahren der Abgeschiedenheit hatte der Mars schließlich doch die Aufmerksamkeit der gesichtslosen, omnipotenten Wesen erregt, mit denen er sich das Sonnensystem teilte, und die Schlussfolgerung — dass der Mars bald eine eigene Spinmembran bekommen würde — war unausweichlich. Starke gesellschaftliche Kräfte plädierten für eine Kontaktaufnahme mit der verhüllten Erde. Die knappen Ressourcen wurden auf dieses Ziel hin konzentriert. Ein Raumschiff wurde entworfen und montiert. Und Wun Ngo Wen, ein Gelehrter, der umfassende Kenntnisse von den noch vorhandenen Bruchstücken der terrestrischen Geschichte und Sprache besaß, wurde verpflichtet, die Reise anzutreten — zu seinem Kummer.

Wun Ngo Wen fand sich, während er seinen Körper auf die Beengtheit und die Entkräftigung der langen Reise durch den Raum und die Härten der hohen Schwerkraft auf der Erde vorbereitete, mit der Wahrscheinlichkeit des eigenen Todes ab. Er hatte seine Familie fast vollständig beim Kirioloj-Hochwasser vor drei Sommern verloren — ein Grund, warum er sich überhaupt als Freiwilliger hatte registrieren lassen, und ein Grund, warum er ausgewählt worden war; für ihn war das Risiko des Todes leichter zu tragen als für die meisten anderen. Trotzdem konnte man nicht behaupten, dass er dem Tod freudig entgegensah, vielmehr hoffte er, ihm ein Schnippchen schlagen zu können. Er trainierte hart. Er machte sich mit den Feinheiten und Eigenarten seines Schiffes vertraut. Und falls die Hypothetischen den Mars tatsächlich in ihre Arme schlossen — nicht dass er sich so etwas erhofft hätte —, bedeutete das, dass sich ihm sogar die Chance auf eine Rückkehr eröffnete, und zwar nicht auf einen Planeten, der ihm in Millionen von Jahren fremd geworden war, sondern in sein vertrautes, gegen die Erosion der Zeit konserviertes Zuhause mit allen Erinnerungen und Verlusten.

Obwohl natürlich nicht mit einer Rückkehr gerechnet wurde. Wuns Schiff war auf eine Einzelfahrt ausgerichtet. Falls er tatsächlich je zum Mars zurückkehren sollte, dann nur mit Hilfe der Erdbewohner, die, so glaubte Wun jedenfalls, extrem großzügig würden sein müssen, um ihn mit einer Rückfahrkarte auszustatten.

Und so hatte er seinen, wie zu vermuten stand, letzten Blick auf den Mars — das windgepeitschte Flachland von Basalt-Trocken, Odos on Epu-Epia — ordentlich ausgekostet, bevor er in die Flugkammer der vergleichsweise primitiven vielstufigen Eisen-und-Keramik-Rakete eingeschlossen wurde, die ihn ins All hinaustrug.

Den Großteil der Reise verbrachte er in einem Zustand medikamentös herbeigeführter Stoffwechselträgheit, dennoch war es eine aufreibende Geduldsprobe. Die marsianische Spinmembran wurde in Stellung gebracht, während er unterwegs war, und so war Wun für den Rest des Fluges isoliert, durch die zeitliche Diskontinuität von beiden menschlichen Welten abgeschnitten: der vor ihm und der hinter ihm. Der Tod mochte schrecklich sein, aber konnte er sich wesentlich von diesem Ruhiggestelltsein unterscheiden, dieser drückenden Verwahrung in einer winzigen Maschine, die endlos durch ein unmenschliches Vakuum stürzte?

Die Stunden geistiger Klarheit nahmen ab. Er suchte Zuflucht in Tagträumen und erzwungenem Schlaf.

Sein Schiff, in vielerlei Hinsicht primitiv, aber mit ausgefeilten und halbintelligenten Steuerungsgeräten ausgestattet, verbrauchte den Großteil seiner Treibstoffreserven beim Eintritt in die hohe Umlaufbahn um die Erde. Der Planet unter ihm war ein schwarzes Nichts, sein Mond eine große Scheibe. Mikroskopische Sonden nahmen Proben aus der Erdatmosphäre, generierten rotverschobene Entfernungsmessungen, bevor sie im Spin verschwanden, gerade genug Daten, um einen Eintrittswinkel zu errechnen. Das Schiff war mit einer stattlichen Reihe von aerodynamischen Bremsen und gezielt einsetzbaren Fallschirmen ausgerüstet, und mit ein bisschen Glück würde es ihn durch die dichte und turbulente Luft zur Oberfläche des gewaltigen Planeten tragen, ohne dass er geröstet wurde oder es ihn zerschmetterte. Aber es kam eben sehr viel aufs Glück an. Zu viel, wie Wun fand. Er stieg in ein Fass mit schützendem Gel und leitete den endgültigen Abstieg ein, ganz und gar darauf gefasst, zu sterben.

Als er wieder aufwachte, lag sein nur leicht verkohltes Schiff friedlich in einem Rapsfeld, umgeben von merkwürdig blassen und glatthäutigen Menschen, einige davon in einem Aufzug, den er als biologische Schutzkleidung identifizierte. Wun Ngo Wen stieg mit klopfendem Herzen aus, die Muskeln bleiern und schmerzend in der furchtbaren Schwerkraft, die Lunge bedrängt von der schweren und isolierenden Luft, und wurde in Gewahrsam genommen.

Den nächsten Monat verbrachte er in einer Plastikblase in einem Raum des zum Landwirtschaftsministerium gehörenden Zentrums für Tierkrankheiten auf Plum Island, vor der Küste von Long Island, New York, gelegen. Während dieser Zeit lernte er eine Sprache zu sprechen, die er bisher lediglich aus uralten Aufzeichnungen gekannt hatte, gewöhnte seine Lippen und die Zunge an die vielfältigen Modulationen der Vokale, verfeinerte sein Vokabular, indem er versuchte, sich grimmigen oder eingeschüchterten Fremdlingen verständlich zu machen. Es war eine schwierige Zeit. Die Erdlinge waren blasse, hoch aufgeschossene Geschöpfe, nicht annähernd das, was er sich beim Entziffern der alten Dokumente vorgestellt hatte. Viele waren bleich wie Geister und erinnerten ihn an die Glutmond-Geschichten, bei denen er sich als Kind so gegruselt hatte: halb rechnete er immer damit, dass einer von ihnen neben seinem Bett auftauchen würde wie Huld von Phraya, um seinen Arm oder sein Bein als Tribut zu fordern. Seine Träume waren unruhig und wenig angenehm.

Glücklicherweise war er noch immer im Besitz seiner linguistischen Fertigkeiten, und nach einiger Zeit machte man ihn mit Männern und Frauen von Ansehen und Macht bekannt, die ihm weitaus freundlicher begegneten als die Leute, die ihn ursprünglich aufgegriffen hatten. Wun Ngo Wen pflegte diese nützlichen Freundschaften, bemühte sich, die gesellschaftlichen Gepflogenheiten einer alten, verwirrenden Kultur zu begreifen, und wartete geduldig auf den geeigneten Augenblick, um den Vorschlag zu unterbreiten, den er unter so großem persönlichem und öffentlichem Kostenaufwand von einer menschlichen Welt zur anderen getragen hatte.


»Jason«, sagte ich, als er an diesem Punkt seiner Erzählung angelangt war. »Stop. Bitte.«

Er räusperte sich. »Hast du eine Frage, Tyler?« »Nein, keine Frage. Es ist nur… so viel zu verarbeiten.« »Aber es ist so weit in Ordnung? Du kannst mir folgen? Ich werde diese Geschichte mehr als einmal erzählen. Ich möchte, dass sie sich flüssig anhört. Tut sie das?«

»Hört sich sehr gut an. Wem willst du sie erzählen?« »Allen. Den Medien. Wir gehen an die Öffentlichkeit.« »Ich möchte kein Geheimnis mehr sein«, sagte Wun Ngo Wen. »Ich bin nicht hergekommen, um mich zu verstecken. Ich habe etwas zu sagen.« Er schraubte eine weitere Mineralwasserflasche auf. »Möchten Sie etwas hiervon, Tyler Dupree? Sie sehen so aus, als könnten Sie einen Schluck gebrauchen.«

Ich nahm ihm die Flasche aus den plumpen, faltigen Fingern und trank ausgiebig. »Sind wir jetzt Wasserbrüder?«, fragte ich dann.

Wun Ngo Wen blickte verwirrt. Jason lachte laut.

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