4. x 109 n. Chr.

Hinter Diane kamen En und zwei Dutzend seiner Cousins und Cousinen sowie noch einmal die gleiche Anzahl von Fremden, alle unterwegs in die neue Welt. Jala trieb sie hinein, dann schob er die gewellte Stahltür des Lagerhauses zu. Gleich wurde es wieder dunkler. Diane legte einen Arm um mich, und ich führte sie zu einem halbwegs sauberen Platz unter einer der Halogenidlampen. Ibu Ina entrollte einen leeren Jutesack, auf den sie sich legen konnte.

»Der Lärm«, sagte Ina.

Diane legte sich hin und schloss die Augen, sie war sichtlich erschöpft. Ich knöpfte ihre Bluse auf und begann, mit aller Vorsicht, sie von der Wunde zu lösen. »Mein Arztkoffer…«

»Ja, natürlich.« Ina schickte En die Treppe hinauf, damit er uns beide Taschen brachte, ihre und meine. »Der Lärm…«

Diane zuckte zusammen, als ich den verfilzten Stoff von dem geronnenen Blut der Wunde zog, aber ich wollte ihr kein Medikament verabreichen, bevor ich nicht das Ausmaß der Verletzung gesehen hatte. »Welcher Lärm?«

»Auf den Docks müsste um diese Zeit ein gewaltiger Lärm herrschen. Aber es ist ruhig, Man hört nichts.«

Ich hob den Kopf. Ina hatte Recht. Es waren keinerlei Geräusche zu hören außer den nervösen Unterhaltungen der Minang-Dorfbewohner und einem leisen Trommeln, das der Regen auf dem hohen Metalldach veranstaltete. Aber das war nicht der Augenblick, sich darüber Gedanken zu machen. »Am besten fragen Sie Jala. Vielleicht weiß er, was los ist.«

Dann wandte ich mich wieder Diane zu.


»Es ist nur äußerlich«, sagte Diane. Sie holte tief Luft, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen. »Nur ein Kratzer. Glaub ich jedenfalls.«

»Das sieht nach einer Schusswunde aus.«

»Ja. Die Reformasi haben Jalas Unterschlupf in Padang aufgespürt. Zum Glück waren wir gerade dabei, uns aus dem Staub zu machen. Uh!«

Sie hatte Recht. Es war nur eine Fleischwunde, die allerdings genäht werden musste. Die Kugel war durch das Gewebe knapp oberhalb des Hüftknochens gedrungen, der Einschlag hatte, wo die Haut nicht aufgerissen war, böse Prellungen verursacht, und es bestand die Möglichkeit, dass der Bluterguss sehr tief reichte, dass durch die Erschütterung eins der inneren Organe geschädigt worden war. Sie habe kein Blut im Urin gehabt, sagte sie, und sowohl Blutdruck als auch Puls bewegten sich in einem den Umständen entsprechenden Bereich.

»Ich werde dir etwas gegen die Schmerzen geben. Und das hier müssen wir zunähen.«

»Näh es zu, wenn du musst, aber ich will keine Medikamente. Wir müssen hier weg.«

»Du willst doch nicht, dass ich dich ohne Betäubung zusammenflicke.«

»Dann eben was Örtliches.«

»Wir sind hier nicht im Krankenhaus. Für eine örtliche Betäubung habe ich nichts dabei.«

»Dann näh einfach los, Tyler. Ich halte das schon aus.«

Ja, aber konnte ich es auch? Ich sah meine Hände an. Sie waren sauber — es gab fließendes Wasser im Waschraum der Lagerhalle —, und Ina half mir, die Latexhandschuhe überzustülpen, bevor ich Diane verarztete. Sauber waren sie also. Aber nicht gerade ruhig.

Ich war nie zimperlich gewesen, was meine Arbeit betraf. Schon als Medizinstudent und selbst beim Sezieren war ich imstande gewesen, das Gefühl auszuschalten, das uns den Schmerz eines anderen mitempfinden lässt, als sei es unser eigener. So zu tun, als sei die gerissene Arterie, die meiner Behandlung bedurfte, nicht mit einem lebendigen Menschen verbunden. So zu tun — und es während der erforderlichen Minuten auch wirklich zu glauben.

Doch jetzt zitterte meine Hand, und die Vorstellung, eine Nadel durch diese blutigen Fleischränder zu stoßen, erschien mir brutal, von nicht zu rechtfertigender Grausamkeit.

Diane umfasste mein Handgelenk. »Es ist eine Viertensache«, sagte sie.

»Was?«

»Du hast das Gefühl, die Kugel hätte dich getroffen statt mich. Stimmt’s?«

Ich nickte erstaunt.

»Das ist typisch für Vierte. Ich glaube, es soll uns zu besseren Menschen machen. Aber du bist immer noch Arzt. Du musst da durch.«

»Falls ich es nicht kann, übergebe ich an Ina.«

Aber irgendwie ging es. Ich konnte es und ich tat es.


Nach einiger Zeit kehrte Ina von ihrer Besprechung mit Jala zurück. »Heute sollten Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden. Die Polizei und die Reformasi stehen vor den Toren und beabsichtigen, den Hafen unter ihre Kontrolle zu bringen. Man rechnet mit Zusammenstößen.« Sie sah Diane an. »Wie sieht’s aus bei Ihnen, meine Liebe?«

»Ich bin in guten Händen«, flüsterte Diane mit brüchiger Stimme.

Ina begutachtete meine Arbeit. »Kompetent«, erklärte sie.

»Danke«, erwiderte ich.

»Wenn man die Umstände bedenkt. Aber hört zu, ihr beiden. Wir müssen dringend weg. Das Einzige, was im Moment zwischen uns und dem Gefängnis steht, ist der Arbeiteraufstand. Wir müssen umgehend auf die Capetown Maru.«

»Die Polizei sucht nach uns?«

»Ich glaube, nicht nach Ihnen speziell. Jakarta hat irgendeine Art von Vereinbarung mit den Amerikanern getroffen, das Emigrationsgewerbe zu bekämpfen. Also wurden die Docks immer mal wieder durchsucht, hier und anderswo, unter viel öffentlichem Getöse, damit die Leute vom US-Konsulat auch ordentlich beeindruckt sind. Natürlich ist das nicht von Dauer. Es geht zu viel Geld durch zu viele Hände, als dass das Geschäft ernsthaft unterdrückt werden würde. Aber für den äußeren Schein gibt es nichts Besseres, als wenn uniformierte Polizei ein paar Menschen aus den Laderäumen von Frachtschiffen zerrt.«

»Sie sind zu Jalas Unterschlupf gekommen«, sagte Diane.

»Ja, sie wissen über Sie und Dr. Dupree Bescheid, sie würden Sie auch gern in Gewahrsam nehmen, aber das ist nicht der Grund, warum dort draußen Polizei steht. Es laufen nach wie vor Schiffe aus dem Hafen aus, doch nicht mehr lange. Die Gewerkschaft ist ziemlich stark hier in Teluk Bayur. Sie werden kämpfen.«

Jala rief etwas von der Tür her, Worte, die ich nicht verstand.

»Jetzt müssen wir wirklich los«, sagte Ina.

»Helfen Sie mir, eine Trage für Diane zu machen.«

Diane versuchte sich aufzusetzen. »Ich kann gehen.«

»Nein«, sagte Ina. »In diesem Punkt muss ich Tyler Recht geben. Bewegen Sie sich möglichst nicht.«

Wir legten weitere vernähte Jutestücke übereinander und bildeten daraus eine Art Hängematte. Ich nahm das eine Ende, und Ina wies einen der stämmigeren Minang-Männer an, am anderen Ende anzupacken.

»Beeilung jetzt!«, rief Jala und winkte uns in den Regen hinaus.


Monsunzeit. War dies ein Monsun? Der Morgen sah aus wie die Abenddämmerung. Wolken zogen wie nasse Wollknäuel über das graue Wasser von Teluk Bayur, schnitten die Türme und Radarschirme der großen Doppelrumpftanker ab. Die Luft war heiß und roch übel. Der Regen durchnässte uns schon in der kurzen Zeit, die wir brauchten, Diane in den wartenden Wagen zu laden. Jala hatte für seine Emigrantentruppe einen kleinen Konvoi organisiert: drei Autos und ein paar kleine Transporter mit offenem Verdeck und harten Gummireifen.

Die Capetown Maru hatte am Ende eines hohen Betonpiers festgemacht, etwa einen halben Kilometer entfernt. In entgegengesetzter Richtung — reihenweise Lagerhallen, aufgetürmte Industriewaren und fette rotweiße Avigas-Behälter lagen dazwischen — hatte sich eine dichte Menge von Dockarbeitern am Tor versammelt. Über das Trommeln des Regens hinweg konnte ich jemanden durch ein Megaphon sprechen hören. Dann Geräusche, die wie Schüsse klangen.

»Steigen Sie ein.« Jala drängte mich auf den Rücksitz des Autos, wo sich Diane über ihre Wunde beugte, als würde sie beten. »Schnell, schnell.« Er klemmte sich hinters Steuer.

Ich warf einen letzten Blick auf die vom Regen verwischte Menschenmenge. Ein Gegenstand von der Größe eines Footballs stieg über ihr auf, zog Spiralen von weißem Rauch hinter sich her. Tränengas.

Der Wagen schoss vorwärts.


»Das da ist nicht nur Polizei«, sagte Jala, als wir auf den schmalen Streifen des Kais bogen. »Die Polizei würde sich nicht so töricht anstellen. Das sind New Reformasi. Schlägertypen, die sie in den Slums von Jakarta von der Straße weg engagiert und in Regierungsuniformen gesteckt haben.«

Uniformen und Gewehre. Und noch mehr Tränengas, aufgerührte Wolken, die im regnerischen Dunst verschwammen. Die Menge begann sich an den Rändern aufzulösen.

Ein fernes Krachen ertönte, und ein Feuerball stieg ein paar Meter hoch in den Himmel.

Jala sah es im Rückspiegel. »Mein Gott, wie idiotisch! Da muss jemand auf ein Ölfass gefeuert haben. Die Docks…«

Sirenen heulten über das Wasser, während wir den Kai entlang fuhren. Die Menschenmenge war inzwischen in Panik geraten. Jetzt konnte ich die Polizisten sehen, die in einer Linie durch das Tor drängten. Einige von ihnen trugen schwere Waffen und Masken mit schwarzen Schnauzen. Ein Feuerwehrwagen rollte aus einem Schuppen und fuhr kreischend auf das Tor zu.

Wir fuhren über eine Reihe von Rampen und hielten dort, wo der Pier sich auf einer Höhe mit dem Hauptdeck der Capetown Maru befand, ein alter, unter Billigflagge fahrender Frachter, weiß und rostorange gestrichen. Eine stählerne Gangway war zwischen Hauptdeck und Pier ausgelegt worden, und die ersten Minang hatten sie bereits bestiegen.

Jala sprang aus dem Auto, und als ich Diane auf den Kai bugsiert hatte — auf ihren eigenen Füßen, an mich gelehnt, die Jutebahre hatten wir zurückgelassen —, war er bereits in eine hitzige, auf Englisch geführte Diskussion mit einem Mann am Ende der Gangway verwickelt: der Kapitän oder Steuermann des Schiffes vielleicht, jedenfalls jemand, der mit entsprechender Autorität ausgestattet war, ein untersetzter Mann mit einem Sikh-Turban und zusammengebissenen Zähnen.

»Es war schon vor Monaten vereinbart«, sagte Jala.

»… aber dieses Wetter…«

»… bei jedem Wetter…«

»… ohne Genehmigung der Hafenbehörde…«

»… ja, aber es ist keine Hafenbehörde da… Sehen Sie!«

Es sollte eine rhetorische Geste sein. Doch Jalas ausladende Handbewegung richtete sich gerade in dem Moment auf die Benzin- und Gasbunker nahe des Haupttors, als einer der großen Behälter explodierte.

Ich sah es nicht. Die Erschütterung drückte mich in den Beton, und ich fühlte die Hitze im Nacken. Der Krach war gewaltig. Ich rollte mich auf den Rücken, das Dröhnen noch in den Ohren. Das Avigas, dachte ich. Oder was immer hier gelagert wurde. Benzol. Kerosin. Heizöl oder sogar rohes Palmöl. Das Feuer musste sich ausgebreitet haben, oder die schlecht ausgebildeten Polizisten hatten in die falsche Richtung geschossen. Ich drehte den Kopf und fand Diane neben mir, mehr verwirrt als ängstlich. Ich dachte: Ich kann den Regen gar nicht hören. Aber da war ein anderes, erschreckenderes Geräusch: das Klirren herabstürzender Metallsplitter. Brennend schlugen sie auf den Pier und das Deck der Capetown Maru.

»Kopf einziehen«, rief Jala mit gurgelnder Stimme, wie unter Wasser. »Alle Mann runter mit den Köpfen!«

Ich versuchte Diane mit meinem Körper abzudecken. Brennendes Metall fiel etliche Sekunden lang wie Hagel um uns herum zu Boden oder klatschte in das dunkle Wasser hinter dem Schiff. Dann hörte es plötzlich auf. Nur noch der Regen fiel, sanft wie Flüstern.

Wir rappelten uns hoch. Jala war schon wieder dabei, Leute auf die Gangway zu schieben, wobei er ängstliche Blicke zurück auf die Flammen warf. »Das muss nicht der Letzte gewesen sein! Kommt an Bord, los, los!« Er lotste die Dorfbewohner an der Capetown-Mannschaft vorbei, die damit beschäftigt war, Brände an Deck zu löschen und die Leinen zu werfen.

Rauch trieb auf uns zu, verdeckte die Sicht auf das Geschehen an Land. Ich zog Diane mit mir. Sie zuckte bei jedem Schritt zusammen, und Blut aus ihrer Wunde sickerte in den Verband. Wir waren die Letzten auf der Gangway. Einige Matrosen schickten sich schon an, die Metallkonstruktion hinter uns einzuziehen, die Hände an den Winden, die Augen auf die Feuersäulen im Hafen gerichtet.

Die Maschinen der Capetown Maru dröhnten unter Deck. Jala sah mich und lief herbei, um Dianes anderen Arm zu nehmen. Diane registrierte seine Anwesenheit. »Sind wir sicher?«, fragte sie.

»Nicht, bevor wir aus dem Hafen raus sind.«

Auf dem grüngrauen Wasser ertönten Hörner und Pfeifen. Jegliches Schiff, dem das möglich war, setzte sich jetzt in Bewegung. Jala blickte zum Kai zurück und erstarrte. »Ihr Gepäck.«

Es war auf einen der kleinen Transporter geladen worden. Zwei ramponierte Hartschalenkoffer voller Papiere, Pharmazeutika und digitaler Speichermedien. Sie lagen noch da, einsam und verlassen.

»Fahrt die Gangway wieder aus«, rief Jala den Matrosen zu.

Sie blinzelten ihn an, waren sich nicht sicher, ob er hier irgendetwas zu bestimmen hatte. Der Erste Offizier war schon zur Brücke gegangen. Jala warf sich in die Brust und reif etwas Heftiges in einer Sprache, die ich nicht kannte. Die Matrosen zuckten mit den Achseln und ließen die Gangway auf den Kai zurückrasseln.

Die Schiffsmotoren liefen warm, gaben einen satten Ton von sich.

Ich rannte über die Gangway, das gewellte Aluminium dröhnte unter meinen Füßen. Ich schnappte mir die Koffer, warf einen letzten Blick zurück: Etwa ein Dutzend uniformierter New Reformasi kam auf die Capetown Maru zugelaufen. »Legt ab«, rief Jala, als kommandiere er das Schiff. »Schnell, legt ab!« Die Gangway wurde eingezogen. Ich warf das Gepäck an Bord und sprang hinterher. Erreichte das Deck, bevor sich das Schiff in Bewegung setzte.

Dann explodierte ein weiterer Avigas-Tank, und wir wurden von der Erschütterung zu Boden geworfen.

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