Ich erfuhr eine Menge mehr über Perihelion von meinen Patienten: den Wissenschaftlern, die gerne redeten (anders als die Verwaltungsbeamten, die generell eher verschlossen waren), aber auch von den Familien der Belegschaft, die immer häufiger ihre eigenen, zunehmend leistungsschwächeren Krankenversicherungen kündigten, um sich der firmeninternen Versorgung anzuschließen. Plötzlich betrieb ich eine richtige Familienpraxis, und die meisten meiner Patienten waren Menschen, die der Realität des Spins tief ins Auge geblickt hatten, die ihm mit Mut und Entschlossenheit begegneten. »Der Zynismus wird am Eingangstor abgegeben«, sagte einmal ein Programmierer zu mir. »Wir wissen, dass es wichtig ist, was wir tun.« Das war bewundernswert. Und ansteckend. Nicht lange, und ich begann mich als einer von ihnen zu betrachten, als Teil der kollektiven Anstrengung, den menschlichen Einfluss in den tosenden Strudel der außerirdischen Zeit hineinwirken zu lassen.
Manchmal fuhr ich am Wochenende die Küste hinauf, um die Raketen abheben zu sehen — modernisierte Atlasse und Deltas, die von einer riesigen Anzahl neu errichteter Startrampen aus in den Himmel schossen —, und gelegentlich kam es in diesem Spätherbst oder Frühwinter vor, dass Jason seine Arbeit liegen ließ und mich begleitete. Die Nutzlasten waren einfache ARVs, Wiedereintrittsfahrzeuge, vorprogrammierte Erkundungsgeräte, unbeholfene Aussichtsfenster auf die Sterne. Ihre Bergungsmodule würden — sofern die Mission nicht scheiterte — im Atlantik oder in den Salzpfannen der westlichen Wüste niedergehen, gefüttert mit neuen Informationen über die Welt jenseits der Welt.
Mir gefiel die Erhabenheit, die das Ganze an sich hatte. Was Jase, nach eigenem Bekunden, faszinierte, war die »relativistische Zeitkluft«. Diese kleinen Nutzlastpakete verbrachten Wochen oder gar Monate hinter der Spin-Barriere, maßen die Entfernung zum sich zurückziehenden Mond oder das Volumen der expandierenden Sonne, würden aber (in unserem Bezugssystem) noch am selben Nachmittag zur Erde zurückfallen, Zauberflaschen, die mit mehr Zeit gefüllt waren, als sie schlechterdings enthalten konnten.
Und wenn dieser Wein dekantiert wurde, schossen auf den Fluren von Perihelion unvermeidlich die Gerüchte ins Kraut: Gammastrahlung angestiegen, wohl ein Hinweis auf irgendeine Katastrophe in der stellaren Nachbarschaft; neue Streifenbildung um den Jupiter, weil die Sonne mehr Hitze in seine stürmische Atmosphäre pumpt; ein riesiger neuer Krater auf dem Mond, der der Erde nicht mehr nur ein Gesicht zukehrte, sondern — in langsamer Rotation — jetzt auch seine dunkle Seite zeigte.
An einem Morgen im Dezember nahm Jason mich über den Campus mit zu einer Konstruktionsstätte, wo man die originalgetreue Nachbildung eines marsianischen Nutzlastträgers aufgebaut hatte. Er stand auf einer Aluminiumplattform in einer Ecke des in Sektoren unterteilten Raums, in dem ringsum weitere Prototypen zusammengesetzt wurden, um von Männern und Frauen in weißen Tyvek-Anzügen getestet zu werden. Das Gerät war erschreckend klein, fand ich, eine knubblige kleine Kiste mit einer Düse an einem Ende, nicht größer als eine Hundehütte, völlig unspektakulär unter dem erbarmungslosen Licht der Deckenlampen. Aber Jason präsentierte es mit elterlichem Stolz.
»Im Wesentlichen«, sagte er, »besteht es aus drei Teilen: Ionenantrieb und Reaktionsmasse, Bordnavigationssystem, Nutzlast. Der Großteil der Masse ist Motor. Keine Kommunikation — es kann nicht mit der Erde sprechen und braucht es auch nicht. Die Navigationsprogramme sind vielfach redundant, aber die Hardware selbst ist nicht größer als ein Handy und wird von Solarkollektoren gespeist.« Die Kollektoren waren noch nicht montiert, doch an der Wand hing die Skizze des fertig gestellten Vehikels, auf der die Hundehütte sich in eine Libelle à la Picasso verwandelt hatte.
»Sieht irgendwie nicht antriebsstark genug aus, um zum Mars zu kommen.«
»Die Antriebsleistung ist nicht das Problem. Ionenmotoren sind langsam, aber hartnäckig. Und das ist genau das, was wir wollen — einfache, robuste, haltbare Technologie. Der heikle Teil ist das Navigationssystem, das muss intelligent und autonom sein. Wenn ein Gegenstand die Spin-Barriere durchbricht, erfährt er das, was von manchen Leuten als ›zeitliche Beschleunigung‹ bezeichnet wird. Ein dummer Ausdruck, aber ganz anschaulich. Das Raumfahrzeug wird beschleunigt und erhitzt — nicht auf sich bezogen, sondern auf uns —, und das Gefälle ist extrem groß. Eine winzig kleine Veränderung der Geschwindigkeit oder der Flugbahn beim Start — etwas so Minimales wie ein Windstoß oder eine für Millisekunden aussetzende Treibstoffzufuhr an der Trägerrakete — macht es unmöglich, vorherzusagen, nicht wie, aber wann das Fahrzeug in den äußeren Weltraum eintritt.«
»Warum ist das wichtig?«
»Das ist wichtig, weil der Mars und die Erde sich beide in elliptischen Umlaufbahnen befinden und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit um die Sonne kreisen. Es gibt keine verlässliche Methode, die relativen Positionen der Planeten zu dem Zeitpunkt vorauszuberechnen, an dem das Fahrzeug die Umlaufbahn erreicht. Im Grunde ist es so, dass die Maschine den Mars in einem ziemlich überfüllten Himmel erst einmal finden und die Flugbahn dann selbst bestimmen muss. Also brauchen wir schlaue, flexible Software und einen robusten, haltbaren Antrieb. Zum Glück haben wir beides. Es ist eine tolle Maschine, Tyler. Von außen schlicht, aber unter der Haut blüht sie auf. Früher oder später, wenn sie sich selbst überlassen ist und nichts Entscheidendes schief geht, wird sie das tun, wofür sie gebaut wurde — und sich in einer Umlaufbahn um den Mars einrichten.«
»Und dann?«
Er lächelte. »Der Kern der Sache. Hier.« Er zog eine Reihe von Bolzen aus dem Modell und entfernte ein Stück Blech auf der Vorderseite; in der Öffnung erschien eine abgeschirmte Kammer, die in Sechsecke unterteilt war, wie eine Bienenwabe. In jedem der Sechsecke lag ein plumpes, schwarzes Oval. Ein Nest von Ebenholzeiern. Jason hob eines davon heraus. Es war so klein, dass man es in einer Hand halten konnte.
»Sieht aus wie ein schwangerer Dart-Pfeil.«
»Ist nur ein bisschen raffinierter als ein Dart-Pfeil. Wir streuen diese Dinger in die Marsatmosphäre. Wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht haben, klappen sie Propellerflügel aus und trudeln dann den restlichen Weg nach unten. Wo man sie verstreut — an den Polen, dem Äquator —, hängt von der jeweiligen Nutzlast ab, davon, ob wir unter der Oberfläche nach Soleschlamm oder rohem Eis suchen, aber grundsätzlich ist der Vorgang immer der gleiche. Stell sie dir als Subkutannadeln vor, die dem Planeten Leben einimpfen.«
Dieses »Leben«, erfuhr ich, würde aus künstlichen Mikroben bestehen, deren genetisches Material aus Bakterien zusammengesetzt war, die man in den trockenen Tälern der Antarktis im Innern von Felsgestein entdeckt hatte, aus Anaerobiern, die fähig waren, in den Ausflussrohren von Atomreaktoren zu überleben, und aus Einzellern aus dem eisigen Schlamm am Grund der Barentsee. Diese Organismen sollten als Bodenaufbereiter dienen, man hoffte, sie würden gut gedeihen, während gleichzeitig die alternde Sonne die Marsoberfläche erwärmte und bislang eingeschlossenen Wasserdampf und andere Gase freisetzte. Als Nächstes würden komplett im Labor entstandene Sorten blaugrüner Algen folgen, einfache Photosynthetisierer, und dann schließlich komplexere Lebensformen, imstande, sich die Umweltbedingungen zunutze zu machen, die unter dem Einfluss der früheren Sendungen entstanden waren. Der Mars würde auch im besten Falle immer eine Wüste sein — alles freigesetzte Wasser würde nicht mehr als ein paar seichte, salzige und unstabile Seen ergeben —, aber das würde unter Umständen ausreichen, um einen halbwegs bewohnbaren Ort jenseits der Erde zu schaffen. Ein Ort, zu dem Menschen hinfliegen konnten, um dort zu leben, eine Million Jahrhunderte für jedes unserer Jahre. Ein Ort, an dem unsere marsianischen Vettern vielleicht die Zeit fanden, Rätsel zu lösen, an die wir uns allenfalls herantasten konnten.
Ein Ort, an dem wir — oder die Evolution in unserem Auftrag — ein Volk von Rettern erschaffen würden.
»Es ist schwer zu glauben, dass wir das tatsächlich vollbringen können…«
»Falls wir es können. Das ist keineswegs ausgemacht.«
»Aber davon abgesehen, als Mittel betrachtet, ein Problem zu lösen…«
»Es ist ein Akt der zielgerichteten Verzweiflung. Du hast völlig Recht, sprich es nur nicht zu laut aus. Allerdings haben wir einen mächtigen Faktor auf unserer Seite.«
»Die Zeit?«
»Nein. Die Zeit ist ein nützlicher Hebel. Aber das aktive Ingrediens ist das Leben. Leben im abstrakten Sinne, meine ich: Replikation, Evolution, Komplexifikation. Die Eigenart des Lebens, Ritzen und Spalten zu besetzen, zu überleben, indem es das Unerwartete tut. Ich glaube an diesen Prozess — er ist robust, er ist hartnäckig. Kann er uns retten? Ich weiß es nicht. Aber es besteht eine reale Möglichkeit.« Er lächelte. »Wärst du der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, würde ich mich weniger zurückhaltend ausdrücken.«
Er reichte mir den Pfeil, der überraschend leicht war, nicht mehr als ein Profi-Baseball wog. Ich versuchte mir vorzustellen, wie hunderte davon aus einem wolkenlosen Marshimmel regneten, um den Boden mit dem Schicksal der Menschheit zu befruchten. Mit dem, was uns noch an Schicksal blieb.
E. D. Lawton besuchte das Gelände in Florida im darauf folgenden März, zur gleichen Zeit, als Jasons Krankheitssymptome wieder auftraten. Sie hatten sich mehrere Monate lang zurückgebildet.
Als Jason im letzten Jahr zu mir gekommen war, hatte er seinen Zustand zurückhaltend, aber systematisch beschrieben. Vorübergehende Schwäche und Taubheit in Armen und Beinen. Verschwommene Sicht. Gleichgewichtsstörungen. Gelegentliche Inkontinenz. Keines der Symptome stellte eine dauerhafte Behinderung dar, aber inzwischen traten sie zu häufig auf, als dass man sie ignorieren konnte.
Könne alles Mögliche sein, sagte ich zu ihm, obwohl er genauso gut wusste wie ich, dass es sich vermutlich um ein neurologisches Problem handelte.
Wir waren beide erleichtert, als die Bluttests den Verdacht auf multiple Sklerose bestätigten. Seit der Einführung chemischer Sklerostatine vor zehn Jahren war MS zu einer heilbaren (oder jedenfalls kontrollierbaren) Krankheit geworden. Eine der kleinen Ironien des Spins bestand darin, dass er für eine Reihe von medizinischen Durchbrüchen sorgte, die der Proteomforschung zu verdanken waren. Unsere Generation — Jasons und meine — mochte dem Untergang geweiht sein, aber sie würde jedenfalls nicht mehr an MS, Parkinson, Diabetes, Lungenkrebs, Arteriosklerose oder Alzheimer sterben. Die letzte Generation der Industriegesellschaft würde vermutlich die gesündeste von allen sein.
Aber ganz so einfach war es natürlich auch nicht. Nach wie vor sprachen fast fünf Prozent der diagnostizierten MS-Fälle nicht auf Sklerostatine oder andere Therapien an. Kliniker gingen dazu über, solche Fälle als »polimedikationsresistente MS« zu bezeichnen, ja in ihr sogar eine gesonderte Krankheit mit gleicher Symptomatik zu sehen.
Jasons Erstbehandlung allerdings war wie erwartet verlaufen. Ich hatte ihm eine minimale Dosis Tremex verordnet, und seither befand er sich in vollständiger Remission. Jedenfalls bis zu der Woche, in der E. D. mit der Subtilität eines Tropensturms eintraf und parlamentarische Berater und Presseattachés wie zerfleddertes Altpapier durch die Flure wehte.
E. D. war Washington, wir waren Florida; er war Geschäftsführung, wir waren Wissenschaft und Technik. Jason balancierte ein wenig heikel zwischen den beiden Polen. Grundsätzlich war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Vorgaben des Lenkungsausschusses umgesetzt wurden, aber er war den Bürokraten oft genug auch entgegengetreten, sodass die Wissenschaftsleute aufgehört hatten, von Nepotismus zu sprechen, und dazu übergegangen waren, ihm Drinks zu spendieren. Das Problem bestand laut Jason darin, dass E. D. sich nicht damit zufrieden gab, das Mars-Projekt auf den Weg zu bringen, nein, er wollte es auch in allen Einzelheiten steuern, oft aus politischen Gründen, wenn er etwa Aufträge an zweifelhafte Anbieter vergab, um sich auf diese Weise die Unterstützung des Kongresses zu kaufen. Die Belegschaft spottete gern über ihn, schüttelte ihm aber auch ebenso gern die Hand, wenn er vor Ort war. Die diesjährige Stippvisite gipfelte in einer Ansprache im Perihelion-Auditorium. Wir fanden uns alle ein, folgsam wie Schulkinder, aber mit größerer, durchaus plausibler Begeisterung, und sobald das Publikum seine Plätze eingenommen hatte, erhob sich Jason, um seinen Vater vorzustellen. Ich sah genau hin, als er die Stufen zur Bühne erklomm und vor das Mikrofon trat. Ich beobachtete, wie er die linke Hand schlaff auf Taillenhöhe hielt, wie er sich, etwas unbeholfen auf dem Absatz drehend, seinem Vater zuwandte und ihm die Hand schüttelte. Er führte seinen Vater kurz, aber liebenswürdig ein, dann mischte er sich unter die Schar der Würdenträger, die am hinteren Ende der Bühne saßen. E. D. trat nach vorn. Er war in der Woche vor Weihnachten sechzig geworden, ging aber ohne Weiteres als vitaler Fünfziger durch: der Bauch unter dem dreiteiligen Anzug war flach, das schüttere Haar zu einem schneidigen Militärschnitt gestutzt. Was er vortrug, konnte man durchaus als Wahlkampfrede verstehen: Er pries die Regierung Clayton für ihren Weitblick, die versammelte Belegschaft für das Engagement, mit der sie die »Perihelion-Vision« verfolgte, seinen Sohn für seine »inspirierende Leitungstätigkeit« und die Ingenieure und Techniker dafür, dass sie »einen Traum zum Leben« erweckten und, »wenn es uns gelingt«, das Leben auf einen sterilen Planeten trugen, damit »neue Hoffnung für diese Welt, die wir noch immer als unsere Heimat bezeichnen«, sprießen ließen. Beifall, Winken, ein wildes Grinsen, und dann war er wieder verschwunden, weggezaubert von der Horde seiner Leibwächter.
Ich erwischte Jason eine Stunde später in der Managerkantine, wo er an einem kleinen Tisch saß und vorgab, in einem Sonderdruck der Astrophysics Review zu lesen.
Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Wie schlimm ist es denn?«
Er lächelte schwach. »Du meinst nicht etwa den Wirbelwindbesuch meines Vaters?«
»Du weißt, was ich meine.«
Er senkte die Stimme. »Ich habe die Medikamente brav genommen. Regelmäßig, jeden Morgen, jeden Abend. Aber es ist wieder da. Seit heute Morgen. Kribbeln im linken Arm, im linken Bein. Und es wird schlimmer. Fast stündlich. Schlimmer als je zuvor. Es ist, als würde Strom durch eine Seite meines Körpers laufen.«
»Hast du Zeit, in die Ambulanz zu kommen?«
»Zeit hab ich, aber…« Seine Augen glitzerten. »Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin. Ich will dich nicht erschrecken, aber ich bin froh, dass du hergekommen bist. Im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt laufen kann. Nach E. D.s Rede hab ich es noch bis hierher geschafft. Doch ich glaube, ich würde umfallen, wenn ich jetzt versuche aufzustehen. Gehen kann ich bestimmt nicht. Ty — ich kann nicht gehen.«
»Ich hol Hilfe.«
Er straffte sich. »Das tust du auf keinen Fall. Falls nötig, kann ich hier sitzen, bis niemand mehr da ist außer dem Nachtwächter.«
»Das ist doch absurd.«
»Oder du kannst mir diskret helfen, aufzustehen. Wie weit ist die Ambulanz weg, zwanzig, dreißig Meter? Wenn du mich am Arm nimmst und ein heiter freundliches Gesicht machst, schaffen wir es vielleicht bis dahin, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen.«
Letzten Endes erklärte ich mich damit einverstanden, nicht, weil ich die Scharade guthieß, sondern weil es offenbar die einzige Möglichkeit war, ihn in mein Büro zu bekommen. Ich ergriff seinen linken Arm, er stützte seine rechte Hand auf die Tischkante und stemmte sich hoch. Es gelang uns, ohne größeres Schwanken durch die Cafeteria zu kommen, obwohl Jason den linken Fuß auf kaum zu übersehende Weise nachzog — zum Glück blickte niemand genauer hin. Im Korridor gingen wir dicht an der Wand entlang, wo das Schlurfen weniger auffällig war. Als plötzlich einer der Manager auftauchte, flüsterte Jason »Stopp!«, und wir stellten uns wie in beiläufiger Unterhaltung auf; Jason lehnte gegen einen Schaukasten, klammerte sich mit der rechten Hand so krampfhaft an dem Stahlregal fest, dass das Blut aus seinen Fingerknöcheln wich und ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Der Manager ging mit einem stummen Kopfnicken an uns vorbei.
Als wir schließlich den Eingang der Ambulanz erreichten, musste ich ihn bereits mehr oder weniger tragen. Zum Glück war Molly Seagram nicht am Platz — sobald ich die Tür geschlossen hatte, waren wir allein. Ich half Jason auf eine Liege in einem der Untersuchungszimmer, dann ging ich noch mal zum Empfang und hinterließ eine Notiz für Molly, damit gewährleistet war, dass wir ungestört blieben.
Als ich ins Untersuchungszimmer zurückkehrte, weinte Jason. Nicht laut heraus, aber ihm waren Tränen übers Gesicht gelaufen und hingen jetzt an seinem Kinn. »Es ist so furchtbar.« Er wollte mir nicht in die Augen sehen. »Ich konnte nichts machen. Tut mir so Leid, aber ich konnte nichts dagegen machen.«
Er hatte die Kontrolle über seine Blase eingebüßt.
Nachdem ich ihm in einen Krankenhauskittel geholfen hatte, spülte ich seine Kleidung im Waschbecken des Sprechzimmers aus und legte sie zum Trocknen an ein sonniges Fenster im nur selten benutzten Lagerraum hinter den Arzneischränken. Da heute kein großer Betrieb herrschte, hatte ich eine passende Begründung, um Molly für den Rest des Nachmittags frei zu geben.
Jason gewann seine Fassung halbwegs zurück, wenn er in dem Papierkittel auch einigermaßen kläglich aussah. »Du hast gesagt, es sei eine heilbare Krankheit. Was ist falsch gelaufen?«
»Man kann die Krankheit behandeln. Meistens, bei der Mehrzahl der Patienten. Aber es gibt Ausnahmen.«
»Wie, und ich bin eine davon? Ich habe in der Arschkartenlotterie gewonnen?«
»Du hast einen Rückfall. Das ist typisch für die Krankheit — Phasen starker Behinderung, gefolgt von Abschnitten der Remission. Vielleicht sprichst du nur langsam auf die Behandlung an. In einigen Fällen muss das Medikament erst einen gewissen Pegel im Körper erreicht haben, bevor es richtig wirken kann.«
»Es ist sechs Monate her, seit du das Rezept ausgeschrieben hast. Und es geht mir schlechter, nicht besser.«
»Wir können dich auf ein anderes Sklerostatin setzen und sehen, ob das besser wirkt. Die sind aber chemisch alle sehr ähnlich.«
»Das Medikament zu wechseln, würde also nichts bringen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir werden es versuchen.«
»Und wenn es nicht hilft?«
»Dann reden wir nicht mehr darüber, die Krankheit zu heilen, sondern darüber, sie zu managen. Selbst unbehandelt ist MS kein Todesurteil. Viele Leute erleben zwischen den Anfällen eine vollständige Remission und können ein relativ normales Leben führen.« Wenn auch, hütete ich mich hinzuzufügen, diese Fälle selten einen so aggressiven Verlauf aufwiesen, wie es bei Jason der Fall war. »Die übliche Rückfallbehandlung arbeitet mit einem Cocktail aus entzündungshemmenden Mitteln: selektive Proteininhibitoren und zielgerichtete CNS-Stimulanzien. Das kann sehr wirkungsvoll sein, um die Symptome zu unterdrücken und das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen.«
»Gut«, sagte Jason. »Großartig. Schreib mir ein Rezept auf.«
»So einfach ist das nicht. Du könntest es mit Nebenwirkungen zu tun bekommen.«
»Welchen?«
»Vielleicht gar keinen. Vielleicht psychologischen Problemen — leichte Depressionen oder auch manische Phasen. Allgemeine körperliche Schwäche.«
»Ich wirke aber normal?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach.« Fürs Erste und vermutlich für weitere zehn oder fünfzehn Jahre, vielleicht sogar mehr. »Aber es ist eine Steuerungsmaßnahme, keine Heilung — ein Abbremsen, kein Anhalten. Die Krankheit wird zurückkehren, wenn du lange genug lebst.«
»Ein Jahrzehnt könntest du mir aber mit Sicherheit geben?«
»Soweit man sich in meinem Beruf überhaupt sicher sein kann.«
»Ein Jahrzehnt«, sagte er nachdenklich. »Oder eine Milliarde Jahre. Je nach Blickwinkel. Vielleicht reicht das. Es müsste reichen, glaubst du nicht?«
Ich fragte nicht: wofür reichen? »Aber inzwischen…«
»Kein ›Inzwischen‹, Tyler. Ich kann es mir nicht erlauben, mich von meiner Arbeit zu entfernen, und ich möchte nicht, dass irgendjemand davon weiß.«
»Es ist nichts, wofür man sich schämen müsste.«
»Ich schäme mich nicht dafür.« Er deutete auf den Papierkittel. »Es ist scheißdemütigend, aber nicht beschämend. Es geht nicht um psychologische Probleme, es geht darum, was ich hier bei Perihelion mache. Was ich machen darf. E. D. hasst Krankheit, Tyler, er hasst jede Form von Schwäche. Er hat Carol von dem Tag an gehasst, als ihre Trinkerei zum Problem wurde.«
»Du glaubst also nicht, dass er Verständnis hätte?«
»Ich liebe meinen Vater, aber ich bin nicht blind für seine Fehler. Nein, er hätte kein Verständnis. Der ganze Einfluss, den ich bei Perihelion habe, hängt an ihm. Und das ist momentan ein bisschen heikel. Wir hatten in letzter Zeit einige Meinungsverschiedenheiten. Falls ich zur Belastung für ihn würde, würde er mich binnen einer Woche in irgendeine teure Klinik in der Schweiz oder auf Bali abschieben und sich sagen, dass es nur zu meinem Besten geschehe. Schlimmer noch, er würde es sogar glauben.«
»Was und wie viel du an die Öffentlichkeit dringen lässt, ist deine Sache. Aber du musst dich von einem Neurologen behandeln lassen, nicht von einem praktischen Arzt.«
»Nein.«
»Ich kann dich nicht guten Gewissens weiter behandeln, Jason, wenn du dich nicht zusätzlich einem Spezialisten anvertraust. Es war schon prekär genug, dich auf Tremex zu setzen, ohne vorher einen Hirnfachmann zu konsultieren.«
»Du hast die magnetische Resonanzspektroskopie und die Bluttests. Was brauchst du noch?«
»Am besten ein perfekt ausgestattetes Krankenhauslabor und einen Abschluss in Neurologie.«
»Blödsinn. Du hast selber gesagt, dass MS heutzutage keine so große Sache mehr ist.«
»Es sei denn, sie spricht nicht auf die Behandlung an.«
»Ich kann nicht…« Er wollte weiter diskutieren, aber er war offensichtlich völlig erschöpft. Ermüdung konnte auch eines der Symptome seines Rückfalls sein; er hatte sich wenig Erholung gegönnt in den Wochen vor E. D.s Besuch. »Ich schlage dir folgende Abmachung vor: Ich lasse mich von einem Spezialisten begutachten, wenn du es diskret arrangieren kannst und wenn es nicht in meiner Perihelion-Akte auftaucht. Aber ich muss funktionstüchtig sein. Und zwar morgen. Funktionstüchtig heißt, ich kann ohne Hilfe laufen und pinkel mich nicht voll. Der Medikamentencocktail, von dem du gesprochen hast, wirkt der schnell?«
»Normalerweise ja, aber ohne neurologische Diagnostik…«
»Tyler, hör zu, ich weiß wirklich zu schätzen, was du für mich getan hast, aber ich kann mir, wenn es nötig ist, auch einen kooperationswilligeren Arzt kaufen. Behandle mich jetzt, dann geh ich zu einem Spezialisten, dann tue ich alles, was du für richtig hältst. Aber wenn du glaubst, dass ich im Rollstuhl und mit einem Katheter im Schwanz zur Arbeit erscheine, dann liegst du total daneben.«
»Selbst wenn ich dir sofort etwas verschreibe, wird es dir nicht über Nacht besser gehen. Das dauert ein paar Tage.«
»Ich könnte vielleicht einige Tage frei machen.« Er dachte darüber nach. »Okay«, sagte er schließlich. »Ich möchte die Medikamente haben und ich möchte, dass du mich unauffällig hier rausschaffst. Wenn du das hinbekommst, begebe ich mich ganz in deine Obhut. Kein Widerspruch mehr.«
»Ärzte verhandeln nicht, Jase.«
»Akzeptier es so oder lass es bleiben, Hippokrates.«
Ich gab ihm nicht gleich den ganzen Cocktail — ich hatte nicht alle Medikamente vorrätig —, aber ich verabreichte ihm ein CNS-Stimulans, das ihm für die nächsten Tage zumindest die Kontrolle über seine Blase und die Fähigkeit, ohne Hilfe zu gehen, zurückgeben würde. Die Nebenwirkung war ein gereizter, eisiger Gemütszustand, vergleichbar, habe ich mir sagen lassen, mit dem Ende eines Kokainrausches. Es erhöhte den Blutdruck und ließ dunkle Taschen unter den Augen wachsen.
Wir warteten, bis der Großteil der Belegschaft nach Hause gegangen und nur noch die Nachtschicht auf dem Gelände war. Jase bewegte sich steif, aber überzeugend am Empfang vorbei zum Parkplatz, winkte einigen spät Feierabend machenden Kollegen lächelnd zu und sank dann auf den Beifahrersitz meines Autos. Ich fuhr ihn nach Hause.
Er hatte mich mehrmals in meinem kleinen Haus besucht, aber ich war noch nie bei ihm gewesen. Ich hatte etwas erwartet, das seinem Status bei Perihelion entsprach, tatsächlich aber war seine Schlafstatt — denn viel mehr als schlafen tat er dort offenbar nicht — eine bescheidene Eigentumswohnung mit allenfalls einem Viertel Blick aufs Meer. Eingerichtet hatte er sie mit einem Sofa, einem Fernseher, einem Schreibtisch, einigen Bücherregalen und einem Breitband-Medien/Internet-Anschluss. Die Wände waren kahl, außer über dem Schreibtisch, wo ein handgezeichnetes Schaubild festgeklebt war, das die Geschichte des Sonnensystems von der Geburt der Sonne bis zu ihrem Zerfall in einen weißen Zwerg zeigte, wobei sich die menschliche Geschichte an einem mit DER SPIN markierten Punkt von der Zeitgeraden abtrennte. Die Bücherregale waren voll mit Zeitschriften und wissenschaftlichen Texten, dazwischen genau drei gerahmte Fotos: E. D. Lawton, Carol Lawton und eine ziemlich spröde Aufnahme von Diane, die etliche Jahre alt sein musste.
Jason legte sich aufs Sofa, der Inbegriff eines Paradoxons: der Körper im Ruhezustand, die Augen in medikamentöser Hyperaufmerksamkeit geradezu gleißend. Ich ging in die kleine Küche und schlug ein paar Eier in die Pfanne (wir hatten beide seit dem Frühstück nichts gegessen), während Jason redete. Und redete. Und nicht aufhörte zu reden. »Natürlich«, sagte er irgendwann, »bin ich viel zu gesprächig, das ist mir vollkommen bewusst, aber an Schlaf ist im Moment nicht einmal zu denken. Lässt das irgendwann nach?«
»Wenn wir dich langfristig auf den Medikamentencocktail setzen, ja, dann wird die stimulierende Wirkung verschwinden.« Ich brachte ihm einen Teller Rührei ans Sofa.
»Es putscht wirklich auf. Wie diese Pillen, die manche Leute nehmen, wenn sie für eine wichtige Prüfung pauken. Aber für den Körper ist es beruhigend. Ich fühle mich wie eine Neonreklame auf einem leeren Gebäude. Hell erleuchtet, aber im Grunde hohl. Hey, die Eier sind sehr gut. Danke.« Er stellte den Teller beiseite. Er hatte gerade mal einen Löffel davon gegessen.
Ich saß an seinem Schreibtisch und betrachtete erneut die Skizze an der Wand, die karge Darstellung der Geschichte unseres Sonnensystems. Er hatte sie mit Filzstift auf gewöhnliches braunes Packpapier gezeichnet.
Jason folgte meinem Blick. »Offensichtlich«, sagte er, »erwarten sie, dass wir irgendetwas tun.«
»Wer?«
»Die Hypothetischen. Wenn wir sie denn so nennen müssen. Und das müssen wir wohl — alle tun es. Sie erwarten etwas von uns. Ich weiß nicht, was. Ein Geschenk, ein Zeichen, ein annehmbares Opfer.«
»Woher weißt du das?«
»Nun, es ist keine besonders originelle Vermutung. Warum ist die Spin-Barriere durchlässig für menschliche Artefakte wie Satelliten, nicht aber für Meteore oder gar Brownlee-Partikel? Offensichtlich handelt es sich gar nicht um eine Barriere, das war von Anfang an nicht der richtige Ausdruck.« Unter dem Einfluss des Stimulans schien Jason eine besondere Neigung für das Wort offensichtlich gefasst zu haben. »Offensichtlich«, sagte er, »ist es ein selektiver Filter. Wir wissen, dass er die zur Erde gelangende Energie filtert. Die Hypothetischen wollen also uns — oder jedenfalls die terrestrische Ökosphäre — erhalten, am Leben lassen. Aber warum gewähren sie uns Zugang zum Weltraum? Sogar nachdem wir versucht haben, die einzigen zwei spinbezogenen Artefakte zu bombardieren, die je gesichtet wurden? Worauf warten sie, Tyler? Was ist der Preis?«
»Vielleicht ist es kein Preis. Vielleicht ist es ein Lösegeld. Zahlt und wir lassen euch in Ruhe.«
Er schüttelte den Kopf. »Dafür, uns in Ruhe zu lassen, ist es zu spät. Jetzt brauchen wir sie. Und wir können die Möglichkeit noch immer nicht ausschließen, dass sie uns wohlgesonnen sind, oder zumindest gutartig. Ich meine, mal angenommen, sie wären nicht zu diesem Zeitpunkt aufgekreuzt. Was hätte uns erwartet? Es gibt viele Leute, die glauben, wir hätten vor unserem letzten Jahrhundert als lebensfähige Zivilisation gestanden, vielleicht sogar als Gattung. Globale Erwärmung, Überbevölkerung, das Sterben der Meere, der Verlust von Ackerland, die starke Zunahme von Krankheiten, die Drohung atomarer oder biologischer Kriegsführung…«
»Wir hätten uns vielleicht selbst zerstört, aber es wäre wenigstens unsere eigene Schuld gewesen.«
»Stimmt das wirklich? Wessen Schuld denn genau? Deine? Meine? Nein, es wäre das Ergebnis relativ harmloser Entscheidungen von mehreren Milliarden Menschen gewesen: Kinder zu haben, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, den Job zu behalten, die kurzfristigen Probleme zuerst zu lösen. Wenn du an den Punkt gelangst, wo selbst deine trivialsten Handlungen womöglich mit dem Tod der Gattung bestraft werden, dann stehst du offensichtlich, ganz offensichtlich, an einem Scheideweg. Eine andere Art von kein Zurück mehr.«
»Ist es denn besser, von der Sonne vernichtet zu werden?«
»Das ist ja noch nicht geschehen. Und wir wären nicht der erste Stern, der ausbrennt. Die Galaxis ist übersät von weißen Zwergen, die womöglich aus einmal bewohnbaren Planeten entstanden sind. Hast du dich je gefragt, was mit denen passiert ist?«
»Sehr selten.« Ich stand auf und ging zum Bücherregal, zu den Familienfotos. Da war E. D., in die Kamera lächelnd — ein Mann, dessen Lächeln nie so ganz überzeugend war. Seine physische Ähnlichkeit mit Jason war markant (war offensichtlich, hätte Jason vielleicht gesagt). Die gleiche Maschine, anderer Geist.
»Wie könnte das Leben eine stellare Katastrophe überstehen? Offensichtlich hängt das davon ab, was ›Leben‹ ist. Sprechen wir von organischem Leben oder von einer beliebigen Form von autokatalytischer Feedbackschleife? Sind die Hypothetischen organisch? Was übrigens für sich schon eine interessante Frage ist…«
»Du solltest wirklich versuchen, ein bisschen zu schlafen.« Es war nach Mitternacht. Er verwendete Wörter, die ich nicht verstand. Ich betrachtete das Foto von Carol. Hier war die Ähnlichkeit subtiler. Der Fotograf hatte sie an einem guten Tag erwischt: ihre Augen waren richtig geöffnet, nicht auf Halbmast, und obwohl ihr Lächeln unwillig war — ein kaum wahrnehmbares Heben der dünnen Lippen —, wirkte es nicht völlig unecht.
»Vielleicht nutzen sie die Sonne als Bergwerk. Wir haben aufschlussreiche Daten über Sonnenflackern. Offensichtlich erfordert das, was sie mit der Erde gemacht haben, große Mengen von Energie. Es ist das Gleiche, wie wenn du eine planetengroße Masse auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt herunterkühlst. Aber wo kommt die Energie her? Höchstwahrscheinlich von der Sonne. Wir haben eine markante Abnahme großen Sonnenflackerns seit dem Spin beobachtet. Irgendetwas, irgendeine Kraft oder Tätigkeit, nimmt womöglich Hochenergiepartikel auf, bevor sie in der Heliosphäre aufwogen. Die Sonne anzapfen, Tyler! Das ist ein Akt technologischer Hybris, der fast so erstaunlich ist wie der Spin selbst.«
Ich nahm Dianes Foto in die Hand. Es war vor ihrer Hochzeit mit Simon Townsend aufgenommen worden. Gut zum Ausdruck kam eine bestimmte charakteristische Unruhe, als habe sie gerade, von einem verwirrenden Gedanken überrascht, die Augen zusammengekniffen. Sie war schön, ohne sich Mühe zu geben, aber auch nicht ganz entspannt, voller Anmut, doch leicht aus dem Gleichgewicht geraten.
Ich hatte so viele Erinnerungen an sie. Nur waren sie inzwischen etliche Jahre alt, verschwanden in der Vergangenheit mit fast spinartiger Beschleunigung. Jason sah, dass ich das Bild in der Hand hielt, und war für einige segensreiche Augenblicke still. Dann sagte er: »Also wirklich, Tyler, diese Fixierung ist deiner nicht würdig.«
»Von einer Fixierung kann man schwerlich sprechen, Jase.«
»Warum? Weil du über sie weg bist oder weil du Angst vor ihr hast? Aber ich könnte ihr die gleiche Frage stellen — falls sie sich mal melden würde. Simon führt sie an der kurzen Leine. Ich vermute, sie vermisst die alten NK-Zeiten, als die Bewegung noch voller nackter Unitarier und evangelikaler Hippies war. Der Preis der Frömmigkeit ist inzwischen ganz schön happig… Aber sie spricht hin und wieder mit Carol.«
»Ist sie wenigstens glücklich?«
»Diane lebt unter Fanatikern. Sie ist vielleicht selber eine. Glück ist bei denen nicht vorgesehen.«
»Glaubst du, dass sie in Gefahr ist?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, sie führt das Leben, das sie für sich gewählt hat. Sie hätte andere Entscheidungen treffen können. Sie hätte zum Beispiel dich heiraten können, Tyler, wenn sie nicht diese lächerliche Vorstellung im Kopf gehabt hätte.«
»Vorstellung?«
»Dass E. D. dein Vater ist. Und sie deine leibliche Schwester.«
Ich trat allzu hastig vom Bücherregal weg, warf dabei die Bilder zu Boden. »Das ist doch lächerlich.«
»Vollkommen lächerlich. Aber ich glaube, endgültig verabschiedet hat sie sich davon erst, als sie auf dem College war.«
»Aber wie um Himmels willen kam sie denn darauf?«
»Es war ein reines Fantasiegebilde, keine Theorie. Denk mal nach. Es gab nie sehr viel Zuneigung zwischen Diane und E. D. Sie fühlte sich unbeachtet. Und in gewissem Sinne hatte sie Recht. E. D. hat nie eine Tochter haben wollen, er wollte einen Erben, einen männlichen Erben. Er hatte hohe Erwartungen und zufällig habe ich ihnen entsprochen. Diane war für ihn nur eine unnütze Ablenkung. Er erwartete, dass Carol sie aufzieht, und Carol… Carol war dieser Aufgabe nicht gewachsen.«
»Und deshalb hat sie diese… Geschichte erfunden?«
»Sie hat es als eine Schlussfolgerung angesehen. Es lieferte eine Erklärung dafür, dass E. D. deine Mutter und dich auf dem Grundstück hat wohnen lassen. Und es erklärte, warum Carol immerzu unglücklich war. Und vor allem fühlte sie sich selbst besser dabei. Deine Mutter war netter und herzlicher zu ihr, als Carol es je war. Ihr gefiel die Vorstellung, mit der Familie Dupree blutsverwandt zu sein.«
Ich sah Jason an. Sein Gesicht war bleich, die Pupillen geweitet, der Blick distanziert und aufs Fenster gerichtet. Ich rief mir in Erinnerung, dass er mein Patient war, dass er eine psychologische Reaktion auf ein starkes Medikament zeigte, dass dies derselbe Mann war, der noch wenige Stunden zuvor angesichts seiner Inkontinenz in Tränen ausgebrochen war. »Ich sollte jetzt wirklich gehen, Jason.«
»Warum? Ist das alles so schockierend? Hast du gedacht, das Aufwachsen würde schmerzfrei verlaufen?« Dann plötzlich, noch bevor ich antworten konnte, wandte er den Kopf und blickte mir zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen. »O je, mir kommt langsam der Verdacht, dass ich mich schlecht benommen habe.«
»Die Medikation…«
»Ganz ungeheuerlich schlecht. Tyler, es tut mir Leid.«
»Du fühlst dich besser, wenn du eine Nacht geschlafen hast. Aber du solltest die nächsten paar Tage nicht zur Arbeit gehen.«
»Werde ich nicht. Kommst du morgen vorbei?«
»Ja.«
»Danke.«
Ich ging, ohne noch etwas zu sagen.