7. Kapitel

Ehe ich am nächsten Morgen das Bett verließ, faßte ich den Entschluß, Ellen und ihren Mann nicht von mir aus zu erwähnen, sondern abzuwarten, bis jemand anders darauf zu sprechen kam. Schließlich konnte ich mir eine Meinungsäußerung erst erlauben wenn ich alle Tatsachen kannte. Ganz unterdrücken wollte ich das Problem nicht, schließlich ist Ellen auch meine Tochter. Aber ich wollte nichts überstürzen. Anita sollte sich erst beruhigen.

Aber das Thema blieb tabu. Es folgten angenehme Tage der Faulheit, die ich nicht näher beschreiben will, da ich nicht annehme, daß Sie sich für Geburtstagsfeiern oder Familienausflüge interessieren — die mir lieb und teuer waren, einem Außenstehenden aber langweilig erscheinen mußten.

Vickie und ich fuhren über Nacht zum Einkaufen nach Auckland. Nachdem wir unser Zimmer im Hotel Tasman Palace bezogen hatten, fragte Vickie:

„Marj, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“

„Gewiß“, sagte ich. „Hoffentlich ist es etwas Pikantes. Hast du einen Freund? Oder etwa zwei?“

„Wenn ich auch nur einen Freund hätte, würde ich ihn natürlich mit dir teilen. Nein, die Sache ist komplizierter. Ich möchte mit Ellen sprechen und mich deswegen nicht mit Anita herumstreiten. Auf dieser Reise habe ich zum erstenmal Gelegenheit dazu.

Kannst du vergessen, daß ich das getan habe?“

„Nicht ganz, denn ich möchte ja selbst mit ihr sprechen. Aber ich werde Anita nicht erzählen, daß du mit Ellen gesprochen hast, wenn du es nicht willst.Was soll das alles, Vick? Ich weiß, daß sich Anita über Ellens Heirat geärgert hat — aber erwartet sie, daß wir anderen nun nie wieder mit Ellen reden? Mit unserer eigenen Tochter?“

„Ich fürchte, im Augenblick ist es einzig und allein ›ihre‹ Tochter. Sie reagiert nicht gerade logisch.“

„Hört sich ganz so an. Na, ich lasse es nicht zu, daß Anita mich von Ellen trennt. Ich hätte sie schon früher angerufen, aber ich wußte nicht, wie ich mich mit ihr in Verbindung setzen konnte.“

„Ich zeige es dir. Ich rufe an, und du kannst es aufschreiben. Es ist …“

„Moment!“ unterbrach ich sie. „Laß das Terminal in Ruhe! Anita soll doch nichts davon wissen.“

„Richtig. Deshalb rufe ich ja auch von hier aus an.“

„Und der Anruf wird auf unserer Hotelrechnung stehen, und diese Rechnung zahlst du mit deiner Davidson-Kreditkarte, und dann … Überprüft Anita noch immer jede Rechnung, die ins Haus kommt?“

„O ja. Ach, Marj, ich bin ein Dummkopf!“

„Nein, du bist nur ehrlich. Anita hätte sicher nichts gegen die Ausgabe, aber ihr fällt bestimmt jeder Kode auf, der auf einen Auslandsanruf hindeutet. Wir sollten lieber zur Post hinübergehen und von dort aus anrufen. Gegen bar. Oder, was noch einfacher ist, wir nehmen meine Kreditkarte, die nicht über Anita abgerechnet wird.“

„Natürlich! Marj, du gäbst eine gute Spionin ab.“

„O nein; das ist mir zu gefährlich. Ich habe nur Übung darin, meiner Mutter aus dem Weg zu gehen.

Legen wir die Ohren an und gehen wir zur Post hinüber. Vickie, was ist denn eigentlich mit Ellens Mann?

Hat er zwei Köpfe oder was?“

„Äh, er ist Tonganer. Oder wußtest du das schon?“

„Natürlich wußte ich das. Aber Tonganer zu sein ist doch keine ansteckende Krankheit. Außerdem geht das nur Ellen etwas an. Es ist ihr Problem — wenn es überhaupt eins ist. Aber ich wüßte nicht wie.“

„Äh … Anita hat ungeschickt darauf reagiert. Sobald es geschehen ist, muß man eben sehen, daß man gute Miene zum bösen Spiel macht. Aber eine Mischehe ist immer unschön, meine ich — besonders wenn es das Mädchen ist, das unter seinem Stande heiratet wie man es bei Ellen sehen muß.“

„›Unter ihrem Stande‹! Bisher hat man mir nur gesagt, daß er Tonganer ist. Tonganer sind groß und hübsch und gastfreundlich und etwa so braunhäutig wie ich. Vom Aussehen her sind sie von Maori nicht zu unterscheiden. Was wäre, wenn dieser junge Mann ein Maori gewesen wäre — aus einer guten Familie, die einst mit einem Kanu hier eingetroffen ist — und mit viel Land?“

„Ehrlich, ich glaube nicht, daß Anita das gefallen hätte, Marj — aber sie wäre zur Hochzeit gegangen und hätte die Feier ausgerichtet. Ehen mit Maori gibt es hier, viele; das muß man akzeptieren. Gefallen muß es einem aber nicht. Die Rassen zu vermischen ist immer schlecht.“

(Vickie, Vickie, weißt du einen besseren Weg, die Welt aus dem Chaos zu führen, in dem sie sich befindet?) „Na und? Vickie, meine eingebaute Sonnenbräune, weißt du, woher ich die habe?“

„Du hast es uns erzählt. Du bist Indianerin. Eine ›Cherokee‹, wie du gesagt hast. Marj! Habe ich dich irgendwie gekränkt? Du meine Güte! Das ist es dochgar nicht! Alle wissen, daß Indianer … na ja, genau wie Weiße sind. In keiner Weise minderwertiger.“

(Ja, ja, gewiß doch! Und „zu meinen besten Freunden gehören auch Juden“. Aber soweit ich weiß, bin ich kein Cherokee. Liebe kleine Vickie, was würdest du denken wenn ich dir erzählte, daß ich eine KP bin? Ich bin versucht, es dir zu offenbaren — aber ich darf dich nicht schokkieren.)

„Nein, du hast mich nicht gekränkt, denn ich muß mir klarmachen, woher diese Äußerungen kommen.

Du weißt es nicht besser. Du bist nie gereist und hast deine rassistische Einstellung vermutlich schon mit der Muttermilch in dich aufgesaugt.“

Vickies Gesicht rötete sich. „Das ist mehr als unfair!

Marj, als es um deine Mitgliedschaft in der Familie ging, habe ich mich für dich eingesetzt. Ich habe für dich gestimmt!“

„Ich hatte bisher den Eindruck, daß das jeder getan hätte. Sonst wäre ich nicht zu euch gekommen. Darf ich nun davon ausgehen, daß mein Cherokee-Blut bei euren Diskussionen eine Rolle gespielt hat?“

„Nun ja — es wurde davon gesprochen.“

„Von wem und in welcher Weise?“

„Ähh … Marjorie, es handelt sich da um Sitzungen des Exekutivausschusses, so muß es nun mal sein. Ich darf nicht darüber sprechen.“

„Hmm, das sehe ich ein. Hat es auch über Ellen eine solche Sitzung gegeben? Wenn ja, dann solltest du eigentlich rückhaltlos darüber sprechen, denn ich hätte das Recht gehabt dabeizusein und mitzustimmen.“

„In dem Fall hat es keine Sitzung gegeben. Anita sagte, das wäre überflüssig. Sie sagte, es läge ihr nichtdaran, Glücksjäger zu fördern. Da sie Ellen bereits gesagt hatte, sie dürfe Tom nicht zu einer Begegnung mit der Familie nach Hause bringen, konnte man wohl wenig machen.“

„Habt ihr euch nicht alle für Ellen eingesetzt? Hast du es getan, Vickie?“

Wieder errötete Vickie. „Anita hätte sich doch nur darüber aufgeregt.“

„Ich werde auch langsam aufgeregt. Nach den Regeln, die in unserer Familie herrschen, ist Ellen nicht mehr und nicht weniger deine und meine Tochter, als sie Anitas Tochter ist, und es ist falsch von Anita, Ellen zu verbieten, ihren jungen Ehemann mit nach Hause zu bringen, ohne das mit uns anderen abzustimmen.“

„Marj, so war es doch aber gar nicht. Ellen wollte Tom zu einem Besuch mitbringen. Damit wir ihn uns ansehen. Du weißt schon.“

„Oh. Da ich selbst schon unter diesem Mikroskop gelegen habe, weiß ich natürlich Bescheid.“

„Anita wollte Ellen davon abhalten, eine schlechte Ehe einzugehen. Als wir übrigen zum erstenmal davon erfuhren, war Ellen bereits verheiratet. Anscheinend vollzog Ellen in dem Augenblick die Ehe, da sie Anitas Brief mit der Ablehnung bekam.“

„Verdammt! Jetzt geht mir ein Licht auf! Ellen stach Anitas As, indem sie sofort heiratete — und das hatte zur Folge, daß Anita ohne Vorankündigung den Gegenwert eines ganzen Familienanteils auszahlen mußte. So etwas könnte Schwierigkeiten bringen. Das ist ein ziemlich großer Brocken. Immerhin brauche ich viele Jahre, um für meinen Anteil zu bezahlen.“

„Nein, das ist es nicht. Anita ist wütend, weil ihreTochter — ihr Liebling, das wissen wir alle — einen Mann geheiratet hat, den sie ablehnt. Anita hat nicht soviel Geld zusammenbringen müssen, weil sich das als unnötig erwies. Es besteht keine vertragliche Verpflichtung, einen Anteil auszuzahlen — und Anita hat klargestellt, daß sie auch keine moralische Verpflichtung, sieht, das Familienkapital zu schmälern nur damit sich ein Abenteurer bereichert.“

Kalte Wut überkam mich. „Vickie, ich traue meinen Ohren nicht! Was für rückgratlose Würmer seid ihr eigentlich, daß ihr Ellen so im Stich läßt?“ Ich atmete tief ein und versuchte meine Erregung in den Griff zu bekommen. „Ich verstehe euch nicht. Keinen von euch. Aber ich will versuchen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn wir nach Hause zurückkehren werde ich zweierlei tun. Erstens begebe ich mich an den Terminal im Familienzimmer, während alle anderen dabei sind, rufe Ellen an und lade sie und ihren Mann zu einem Besuch nach Hause ein — zum nächsten Wochenende, weil ich bald wieder arbeiten muß und es nicht versäumen möchte, meinen neuen Schwiegersohn kennenzulernen.“

„Anita wird an die Decke gehen.“

„Das werden wir sehen. Dann werde ich eine Familienzusammenkunft einberufen und vorschlagen daß Ellens Anteil ihr so schnell ausgezahlt wird, wie es mit der notwendigen Vorsorge für die Erhaltung des Familienvermögens möglich ist. Vermutlich wird sich Anita auch darüber aufregen.“

„Wahrscheinlich. Und es ist ganz sinnlos, denn du würdest die Abstimmung verlieren. Marj, warum mußt du das tun? Die Dinge sind schon schlimm genug.“

„Möglich. Aber es wäre doch denkbar, daß einige von euch nur darauf gewartet haben, daß jemand sich aktiv gegen Anitas Tyrannei auflehnt. Wenigstens werde ich feststellen, wie die Gewichte verteilt sind Vick. Aufgrund des von mir unterschriebenen Vertrages habe ich über siebzigtausend EnEs-Dollar in die Familie eingezahlt. Dazu sagte man mir, ich müsse mich in diese Ehe deswegen einkaufen, weil jedes der vielen Kinder beim Verlassen der Familie einen vollen Anteil ausbezahlt bekommen soll. Ich erhob dagegen keine Einwände, sondern leistete meine Unterschrift. Damit wurde eine Verpflichtung begründet, egal was Anita sagt. Wenn man Ellen nicht heute auszahlen kann, dann werde ich darauf bestehen, daß meine monatlichen Zahlungen an Ellen gehen, bis Anita den Rest eines Anteils lockermachen kann, um Ellen ganz auszuzahlen. Hört sich das vernünftig an?“

Sie antwortete nicht sofort. „Marj, ich weiß nicht.

Ich habe noch keine Zeit zum Nachdenken gehabt.“

„Dann nimm dir die Zeit! Denn etwa Mittwoch wirst du dich entscheiden müssen. Ich lasse es nicht länger zu, daß Ellen so stiefmütterlich behandelt wird.“ Lächelnd fügte ich hinzu: „Komm, schau nicht so ernst! Jetzt gehen wir zur Post hinüber und zeigen uns Ellen von unserer fröhlichen Seite.“

Aber wir gingen doch nicht zur Post; wir riefen Ellen auf unserem Ausflug nicht an. Statt dessen setzten wir unser Gespräch über einigen Drinks fort. Ich weiß nicht genau, wie die Sprache dann auf KPs kam — sicher bei einer der Gelegenheiten, da mir Vickie zum wiederholten Male „beweisen“ wollte, daß sie keinerlei rassische Vorurteile habe, während sie doch je-desmal, wenn sie den Mund aufmachte, dieser irrationalen Einstellung das Wort redete. Die Maori waren natürlich prima, und natürlich galt das auch für die amerikanischen Indianer und die Inder, und auch die Chinesen hatten ihren Anteil an Genies hervorgebracht, das wußte doch jeder; aber irgendwo mußte man doch einen Punkt machen …

Wir waren zu Bett gegangen, und ich versuchte das Gerede zu ignorieren, als mich einige Worte auffahren ließen. „Woher willst du das wissen?“

„Woher will ich was wissen?“

„Du hast eben gesagt: ›Natürlich würde niemand ein Artefakt heiraten.‹ Woher willst du wissen, daß eine Person ein Artefakt ist? Nicht alle tragen Seriennummern.“

„Wie bitte? Ach, Marjie, sei doch kein Dummkopf!

Ein künstlich hergestelltes Wesen kann man doch nicht mit einem Menschen verwechseln. Wenn du je eines gesehen hast …“

„Ich habe eins gesehen. Ich habe sogar viele gesehen!“

„Dann weißt du ja, was ich meine.“

„Was denn?“

„Daß du diese Ungeheuer sofort erkennst, wenn du sie nur anschaust.“

„Wie denn? Wie sehen die Stigmata aus, die eine Künstliche Person von jeder anderen unterscheiden.

Nenn mir eins!“

„Marjorie, du gibst dich schrecklich störrisch, nur um mich aufzuregen. So etwas sieht dir gar nicht ähnlich. Du vermiest uns richtig unseren kleinen Ausflug.“

„Nicht an mir liegt das, Vick, sondern an dir. In-dem du lächerliche, dumme, unangenehme Dinge sagst, ohne auch nur den geringsten Beweis dafür zu haben.“ (Dieser Ausbruch beweist deutlich, daß eine gesteigerte Person kein Supermensch ist, da es sich dabei um genau die Sorte wahrheitsgemäßer Äußerung handelt, die viel zu grausam ist, um bei einer Familiendiskussion zu fallen.)

„Oh, wie böse von dir! Wie lügnerisch!“

Was ich nun tat, läßt sich nicht als Loyalität gegenüber anderen Künstlichen Personen bezeichnen, denn für KPs gibt es kein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Dazu fehlt jede Grundlage. Ich habe sagen hören, daß Franzosen für La Belle France zu sterben bereit sind — aber können Sie sich vorstellen, daß jemand für die Firma Homunculi GmbH, Zweigstelle South Jersey zu kämpfen und zu sterben bereit wäre? Vermutlich handelte ich aus Eigeninteresse, obwohl ich wie bei vielen kritischen Entscheidungen meines Lebens später nicht analysieren konnte, warum ich so handelte. Der Chef meint, die wichtigen Aspekte meines Denkens spielten sich auf unterbewußter Ebene ab.

Da hat er vielleicht recht.

Ich sprang jedenfalls aus dem Bett, riß mir das Nachthemd herunter und baute mich vor ihr auf.

„Schau mich an!“ forderte ich. „Bin ich eine Künstliche Person? Oder nicht? Und wie willst du deine Meinung begründen?“

„Ach, Marjie, hör auf, dich hier zu produzieren!

Alle wissen doch, daß du die beste Figur in der Familie hast; du brauchst es mir nicht zu beweisen.“

„Antworte! Sag mir, was ich bin, und sag mir, woher du das wissen willst! Du kannst jede Probe machen, die dir einfällt. Nimm dir Gewebemuster zurLaboranalyse. Aber sag mir, was ich bin, und welche Hinweise für dich den Beweis dazu darstellen.“

„Du bist ein böses Mädchen, ja, das bist du!“

„Mag sein. Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Aber von welcher Art? Eine Naturgeborene? Oder eine Künstliche Person?“

„Ach, Unsinn! Naturgeboren, natürlich.“

„Falsch! Ich bin künstlich erzeugt …“

„Ach, hör mit dem Unsinn auf! Zieh dein Nachthemd an und komm wieder ins Bett!“

Aber ich ließ sie nicht in Ruhe. Ich bedrängte sie mit der Beschreibung des Labors, das mich entworfen hatte, dem Datum, an dem ich aus der künstlichen Gebärmutter genommen worden war — mein ›Geburtstag‹, obwohl wir AP ein wenig länger ›getragen‹ werden, um den Reifeprozeß zu beschleunigen —, ich zwang sie, sich eine Beschreibung des Lebens in der Krippe des Produktionslabors anzuhören. (Berichtigung: des Lebens in der Krippe, die mich aufzog; andere Produktionskrippen können anders organisiert sein.)

Ich vermittelte ihr eine Zusammenfassung meines Lebens nach Verlassen der Krippe — vorwiegend Lügen, da ich natürlich keine Geheimnisse meines Chefs preisgeben durfte; ich wiederholte lediglich, was ich schon der Familie gesagt hatte, daß ich Handelsreisende sei die vertrauliche Aufträge zu erledigen habe.

Ich brauche meinen Chef nicht zu erwähnen, weil Anita schon vor Jahren zu dem Schluß gekommen war, ich sei Abgesandter eines Multis, die Art Diplomat, die stets anonym reist — ein verständlicher Irrtum, den ich im Raum stehenließ.

„Marjie“, sagte Vickie, „ich wünschte, du würdestdas sein lassen. Eine solche Anhäufung von Lügen könnte deine unsterbliche Seele gefährden.“

„Ich habe keine Seele. Das sage ich dir doch die ganze Zeit!“

„Ach, hör auf! Du bist in Seattle geboren. Dein Vater war Elektroingenieur; deine Mutter Kinderärztin.

Beim großen Erdbeben hast du beide verloren. Du hast uns doch von ihnen erzählt — hast uns Bilder gezeigt.“

„›Meine Mutter war ein Reagenzglas, mein Vater ein Skalpell.‹ Vickie, es mag eine Million oder mehr Künstliche Personen geben, deren ›Geburtsunterlagen‹ beim Untergang Seattles ›vernichtet‹ wurden. Es gibt keine Möglichkeit, sie zu zählen, da man ihren Lügen niemals nachging. Nach den Ereignissen dieses Monats wird es bald eine Menge Leute geben, die in Acapulco ›geboren‹ wurden. Wir müssen auf solche Schlupflöcher zurückgreifen, um von den ewig gestrigen Ignoranten und Vorurteilsbeladenen nicht verfolgt zu werden.“

„Und damit willst du sagen, daß ich ignorant und voller Vorurteile bin!“

„Damit will ich sagen, daß du ein liebenswertes Mädchen bist, dem von seinen Eltern allerlei Lügenmärchen aufgetischt wurden. Ich versuche das richtigzustellen. Aber wenn dir der Schuh paßt, kannst du ihn ja anziehen!“

Dann hielt ich den Mund. Vickie gab mir keinen Gutenachtkuß. Es dauerte lange, bis wir einschlafen konnten.

Am nächsten Tag taten wir beide so, als hätte es den Streit nicht gegeben. Vickie erwähnte Ellen nicht; ichsprach nicht von KPs. Unser lustiger Ausflug aber war verdorben. Wir erledigten unsere Einkäufe und flogen mit dem Abend-Shuttle nach Hause. Ich machte meine Drohung nicht wahr: ich rief nach meiner Rückkehr Ellen nicht an. Allerdings vergaß ich sie auch nicht; ich hoffte nur, daß sich die Sache mit der Zeit etwas erträglicher gestalten würde. Vermutlich war das ein feiges Verhalten.

Anfang der folgenden Woche forderte Brian mich auf, ihn auf einer kleinen Reise zu begleiten: Er müsse für einen Kunden ein Grundstück begutachten. Es war eine lange, angenehme Fahrt, und wir aßen in einem Landhotel zu Mittag — ein Frikassee, das als Lamm verkauft wurde, obwohl es sich zweifellos um einen ausgewachsenen Hammel handelte, hinuntergespült mit reichlich mildem Bier. Wir aßen im Freien unter Bäumen.

Nach dem Nachtisch — ein Beerentörtchen, das recht gut schmeckte — sagte Brian: „Marjorie, Victoria ist da mit einer seltsamen Geschichte zu mir gekommen.“

„Ja. Und?“

„Meine Liebe, du mußt mir glauben, daß ich nicht davon sprechen würde, wenn Vickie nicht so beunruhigt wäre.“ Er schwieg.

Ich wartete ab. „Worüber ist sie beunruhigt, Brian?“

„Sie behauptet, du hättest ihr gesagt, du wärst ein LA, das sich als Mensch verstellt. Tut mir leid, aber genau das hat sie gesagt.“

„Ja, ich hab’ es ihr gesagt. Allerdings nicht mit diesen Worten.“

Ich fügte keine Erklärung hinzu. Nach einiger Zeitfragte Brian sanft: „Darf ich mich nach dem Grund erkundigen?“

„Brian, Vickie sagte einige dumme Dinge über Tonganer, und ich versuchte ihr begreiflich zu machen, daß ihre Worte dumm und falsch waren — und daß sie dadurch Ellen ins Unrecht setzte. Ellen macht mir große Sorgen. Als ich hier eintraf, hieltest du mich ihretwegen zum Schweigen an, und ich habe mich danach gerichtet. Aber ich kann nicht länger den Mund halten. Brian, was wollen wir im Hinblick auf Ellen unternehmen? Sie ist deine und meine Tochter; wir können nicht darüber hinweggehen, daß sie falsch behandelt wird. Was tun wir?“

„Ich bin nicht unbedingt der Überzeugung, daß etwas unternommen werden sollte. Bitte wechsle nicht das Thema! Vickie ist sehr bedrückt. Ich versuche das Mißverständnis aufzuklären.“

Ich antwortete: „Ich habe nicht das Thema gewechselt. Es geht um die Ungerechtigkeit, die Ellen widerfährt, und ich lasse nicht locker. Gibt es einen Grund warum Ellens Mann nicht akzeptiert werden kann?

Abgesehen von dem Vorurteil gegen ihn, weil er Tonganer ist?“

„Nicht daß ich wüßte. Obwohl es meiner Meinung nach von Ellen rücksichtslos war, einen Mann zu heiraten, der ihrer Familie nicht einmal vorgestellt worden war. Darin liegt kein angemessener Respekt gegenüber den Menschen, die sie ihr ganzes Leben lang geliebt und die für sie gesorgt haben.“

„Moment mal, Brian! Wie Vickie die Sache darstellt, äußerte Ellen den Wunsch, ihn zu Hause vorzuführen, so wie auch ich nach Hause gebracht wurde und Anita widersetzte sich. Woraufhin Ellen ihn hei-ratete. Stimmt das?“

„Nun, ja. Aber Ellen war halsstarrig und hat vorschnell gehandelt. Ich finde, Sie hätte das nicht tun dürfen, ohne vorher mit ihren anderen Eltern zu sprechen. Ich war ziemlich gekränkt.“

„Hat sie versucht, mit dir zu sprechen? Hast du dich bemüht, mit ihr zu sprechen?“

„Marjorie, als ich davon erfuhr, war alles gelaufen.“

„Das hat man mir auch gesagt. Brian, seit meiner Rückkehr in die Familie habe ich gehofft, daß mir jemand die Ereignisse erklären würde. Nach Vickies Aussage wurde dieses Problem zu keiner Zeit im Familienrat behandelt. Anita lehnte ab, als Ellen ihren Schatz zu Hause vorstellen wollte. Der Rest von Ellens Eltern wußte entweder nichts darüber oder unternahm nichts gegen Anitas … äh … Grausamkeit. Ja ›Grausamkeit‹. Woraufhin sich das Kind verheiratete.

Woraufhin Anita auf die Grausamkeit eine Ungerechtigkeit setzte: sie verwehrte Ellen ihr Geburtsrecht, ihren Anteil am Familienvermögen. Stimmt das?“

„Marjorie, du warst nicht hier. Wir übrigen — sechs von sieben — haben uns in dieser schwierigen Lage so vernünftig verhalten, wie wir konnten. Ich finde es von dir nicht richtig, jetzt im Nachhinein zu kommen und unser Tun zu kritisieren — mein Wort, das finde ich nicht richtig!“

„Mein Lieber, ich will dich nicht beleidigen. Aber es geht mir genau darum, daß sechs von euch nichts getan haben. Anita hat allein gehandelt und Dinge getan, die aus meiner Sicht grausam und ungerecht sind — und ihr übrigen hieltet euch zurück und ließetihr das durchgehen. Es handelt sich also nicht um eine Familienentscheidung, sondern um einen Entschluß Anitas. Wenn das stimmt, Brian — und stell bitte richtig, wenn ich falsch liege —, dann fühle ich mich bemüßigt, eine Sitzung aller Frauen und Männer zu verlangen, um diese Grausamkeit wiedergutzumachen. Wir müssen Ellen und ihren Mann zu einem Besuch nach Hause einladen und damit die begangene Grausamkeit aus der Welt schaffen. Und es gilt die Ungerechtigkeit zu tilgen, indem wir Ellen den angemessenen Anteil des Familienvermögens auszahlen oder zumindest die Schuld anerkennen wenn sich die Mittel nicht sofort flüssig machen lassen. Sagst du mir bitte dazu deine Meinung?“

Brian trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. „Marjorie, du siehst diese komplizierte Situation viel zu simpel. Du gestehst mir hoffentlich zu, daß ich Ellen liebe und mir ihr Wohlergehen ebenso am Herzen liegt wie dir?“

„Aber ja doch, Liebling!“

„Vielen Dank. Ich stimme dir zu, daß Anita es nicht hätte verbieten dürfen, daß Ellen den jungen Mann zu Hause vorstellte. O ja, hätte Ellen ihn vor dem Hintergrund ihres Zuhauses gesehen, angesichts der rücksichtsvollen Sitten und überlieferten Traditionen wäre sie womöglich zu dem Schluß gekommen, daß er doch nicht der richtige Partner für sie war. Anita hat Ellen in eine törichte Ehe getrieben — und das habe ich ihr auch klar gesagt. Die Sache kann aber nicht kurzfristig aus der Welt geschafft werden, indem man die beiden zu uns einlädt. Das siehst du sicher ein. Sagen wir, daß Anita die beiden freundlich und verzeihend empfangen müßte — aber es führt nun malkein Weg darum herum, daß sie es nicht tun wird und wenn wir sie dazu zwingen wollten!“

Er grinste mich an, und ich mußte das Lächeln erwidern. Anita kann charmant sein — aber auch unglaublich kalt und rücksichtslos, wenn es ihr in den Kram paßt.

Brian fuhr fort: „Statt dessen werde ich in einigen Wochen Anlaß zu einer Reise nach Tonga haben, eine Gelegenheit, mich mit dem Mann bekanntzumachen ohne Anita neben mir zu haben…“

„Großartig. Nimm mich doch bitte mit!“

„Darüber würde Anita sich ärgern.“

„Brian, Anita hat mich in dieser Sache auch sehr geärgert. Ich lasse mich aus diesem Grund nicht von einem Besuch bei Ellen abhalten.“

„Hmm — würdest du aber auf etwas verzichten, das unser aller Wohlergehen beeinträchtigen könnte?“

„Wenn man mich darauf hinwiese, ja. Natürlich würde ich eine Erklärung verlangen.“

„Die sollst du bekommen. Aber laß mich zuerst auf den zweiten Punkt zu sprechen kommen. Natürlich bekommt Ellen jeden Penny, der ihr zusteht. Aber du mußt doch zugeben, daß dazu keine Eile besteht.

Übereilt geschlossene Ehen halten oft nicht lange.

Außerdem könnte es doch sein — allerdings habe ich dafür keinen Beweis —, daß Ellen das Opfer eines Glücksjägers geworden ist. Warten wir ein wenig ab schauen wir uns an, wie sehr es der Bursche auf ihr Geld abgesehen hat. Wäre das nicht vorsichtig gedacht?“

Ich mußte zugeben, daß er recht hatte. Er fuhr fort:

„Marjorie, meine Liebe, du bist mir und allen anderen besonders lieb, weil wir dich viel zu selten bei unshaben. Dadurch ist jeder Besuch von dir wie neue Flitterwochen. Weil du aber die meiste Zeit fort bist verstehst du nicht, warum wir übrigen es immer darauf anlegen, Anita bei Laune zu halten.“

„Nun ja. Nein, ich weiß es nicht. Das müßte aber in beiden Richtungen funktionieren.“

„Im Umgang mit dem Gesetz und mit anderen Menschen habe ich festgestellt, daß ein großer Unterschied besteht zwischen dem ›Ist‹ und dem ›SollteSein‹. Ich lebe mit Anita am längsten zusammen; ich bin daran gewöhnt, ihre kleinen Eigenarten zu ertragen. Was dir nicht bewußt wird, ist der Umstand, daß sie der Leim ist, der die Familie zusammenhält.“

„Wie das, Brian?“

„Zunächst die auf der Hand liegende Frage ihrer Verwaltungsposition. Als Führer der Familienfinanzen und der Familienunternehmungen ist sie so gut wie unersetzbar. Vielleicht könnte der eine oder andere von uns in ihre Fußstapfen treten, aber es ist klar, daß sich niemand nach dem Posten sehnt, und ich glaube, daß niemand an ihr Können herankäme.

Aber auch abgesehen vom Geld ist sie eine entschlossene, fähige Führernatur. Ob es nun darum geht, einen Streit zwischen Kindern zu schlichten oder eine der tausend Fragen zu klären, die sich in einem großen Haushalt ergeben, Anita kommt stets zu einem Entschluß und hält die Dinge im Fluß. Eine Gruppenfamilie wie die unsere braucht einen starken, fähigen Anführer.“

(Einen starken, fähigen Tyrannen, sagte ich lautlos vor mich hin.)

„Liebe Marjorie, kannst du also noch ein wenig warten und dem guten alten Brian Zeit lassen, die Sa-che zu klären? Du mußt mir glauben, daß ich Ellen so sehr liebe wie du!“

Ich tätschelte ihm die Hand. „Natürlich glaube ich das.“ (Aber laß dir nicht zu lange Zeit!)

„Und wenn wir jetzt nach Hause kommen, gehst du dann zu Vickie und sagst ihr, daß du dir einen Scherz erlaubt hast und daß es dir leid tut, sie so aufgeregt zu haben? Ich bitte dich darum, meine Liebe.“

(Hoppla! Ich hatte so sehr an Ellen gedacht, daß mir ganz entfallen war, womit dieses Gespräch begonnen hatte.) „Einen Moment, Brian! Ich will gern abwarten und darauf verzichten, Anita weiter aufzuregen, weil du mir sagst, es wäre nötig. Aber ich werde Vickies Rassenvorurteilen keinen Vorschub leisten!“

„Das tätest du ja auch nicht. Unsere Familie ist in solchen Dingen nicht einer Meinung. Ich denke ja so wie du, und du wirst feststellen, daß das bei Liz auch der Fall ist. Vickie sitzt irgendwie auf dem Zaun; sie möchte einen Weg finden, Ellen in die Familie zurückzuholen, und nachdem ich inzwischen mit ihr gesprochen habe, räumt sie gern ein, daß Tonganer auch nicht anders sind als Maori und daß es einzig und allein auf die jeweilige Person ankommt. Sie regt sich im Grunde auch nur über den seltsamen Scherz auf, den du im Hinblick auf deine eigene Person gemacht hast.“

„Oh! Brian, du hast mir einmal gesagt, du hättest ein Biologiestudium so gut wie abgeschlossen, ehe du dich für Jura entschiedest.“

„Ja. ›So gut wie abgeschlossen‹ ist wohl ein bißchen übertrieben.“

„Dann weißt du, daß eine Künstliche Person von einem ganz normalen Menschen biologisch nicht zuunterscheiden ist. Das Fehlen der Seele zeigt sich nicht.“

„Wie bitte? Ich bin lediglich im Kirchenvorstand meine Liebe; um die Seelen sollen sich die Theologen kümmern. Es ist jedenfalls nicht schwierig, ein Lebendiges Artefakt auszumachen.“

„Ich habe nicht von einem Lebendigen Artefakt gesprochen. Dieser Begriff gilt sogar für einen sprechenden Hund wie Lord Nelson. Eine Künstliche Person aber beschränkt sich streng auf die menschliche Gestalt und ein entsprechendes Aussehen. Wie willst du sie also identifizieren? Und das ist der Unsinn den Vickie von sich gegeben hat — sie könne eine KP stets sofort erkennen. Nimm zum Beispiel mich! Brian, du kennst meinen Körper recht gründlich — und das freut mich. Bin ich ein normaler Mensch oder eine Künstliche Person?“

Brian grinste und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Süße Marjie, vor jedem Gericht würde ich neun Eide schwören, daß du durch und durch menschlich bist — außer an den Stellen, wo du göttlich bist. Soll ich auf die Einzelheiten eingehen?“

„Da ich deinen Geschmack kenne, mein Lieber, ist das wohl unnötig. Vielen Dank. Aber nun mal im Ernst! Nehmen wir einmal um der Diskussion willen an, ich sei eine Künstliche Person. Wie soll ein Mann der mit mir im Bett liegt — wie du es gestern nacht und viele Nächte zuvor getan hast — erkennen, daß ich ein künstliches Wesen bin?“

„Marjie, bitte hör damit auf! Das ist nicht mehr komisch.“

(Manchmal regen mich die Menschen wirklich auf!)

Barsch sagte ich: „Ich bin eine Künstliche Person!“

„Marjorie!“

„Glaubst du mir nicht? Muß ich es dir beweisen?“

„Hör auf, Witze zu machen! Sofort! Oder ich lege dich übers Knie, sobald wir nach Hause kommen, ich verspreche es dir. Marjorie, ich habe dich — oder eine andere meiner Frauen — nie grob behandelt. Aber du bist im Begriff, dir eine Zurechtweisung zu verdienen.“

„Ach? Siehst du das letzte Stück Kuchen auf deinem Teller? Ich werde es mir nehmen. Klatsch über dem Teller die Hände zusammen und hindere mich daran!“

„Sei doch kein Dummkopf!“

„Nun mach schon! Du kannst dich nicht schnell genug bewegen, um mich aufzuhalten.“

Wir sahen uns an. Plötzlich begann er die Hände zusammenzuschlagen. Ich ging auf das automatische Übertempo, schnappte mir meine Gabel, spießte das Stück Kuchen auf, zog die Gabel zwischen seinen sich schließenden Händen hindurch und bremste das Übertempo, ehe ich mir den Brocken in den Mund schob.

(Der Plastiklöffel, den ich in der Krippe bekam stellte keine Diskriminierung dar, sondern sollte mich schützen. Als ich das erstemal eine Gabel benutzte zerstach ich mir die Lippe, weil ich noch nicht wußte wie ich meine Bewegungen verlangsamen und denen ungesteigerter Personen anpassen sollte.)

Der Ausdruck, der sich auf Brians Gesicht breitmachte, mag ›unbeschreiblich‹ zu nennen sein.

„Genügt dir das?“ fragte ich ihn. „Nein, wahrscheinlich nicht. Mein Lieber, reich mir die Hand!“

Ich hielt ihm die rechte Hand hin.Er zögerte und griff zu. Ich überließ ihm die Kontrolle des Griffes, dann steigerte ich allmählich den Druck. „Tu dir nicht selbst weh, mein Lieber“, sagte ich warnend. „Sag mir, wenn ich aufhören soll!“

Brian ist kein Jammerlappen und vermag einiges an Schmerz auszuhalten. Ich wollte schon wieder loslassen, weil es mir nicht darum ging, ihm die Handknochen zu brechen, als er plötzlich sagte: „Es reicht!“

Sofort lockerte ich den Griff und begann seine Hand sanft zu massieren. „Es hat mir keinen Spaß gemacht, dir weh zu tun, Liebling, aber ich mußte dir beweisen, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Normalerweise gebe ich mir große Mühe, keine ungewöhnlichen Reflexe, keine übermäßigen Körperkräfte zu offenbaren. Aber bei der Arbeit, die ich tue, brauche ich sie. Bei mehreren Gelegenheiten haben mir gesteigerte Kräfte und Hypermotorik das Leben gerettet.

Ich achte sehr darauf, beides nur dann einzusetzen wenn es nicht anders geht. Also — brauchst du sonst noch einen Beweis dafür, daß ich wirklich das bin, als was ich mich bezeichne? Ich bin auch in anderer Hinsicht gesteigert, aber Geschwindigkeit und Muskelstärke lassen sich am einfachsten vorführen.“

„Es wird Zeit, daß wir nach Hause fahren“, sagte er und war ziemlich blaß.

Auf dem Heimweg wechselten wir kein Dutzend Worte. Ich fahre sehr gern mit Pferd und Wagen. An jenem Tag aber hätte ich lieber in einem lärmenden angetriebenen Fahrzeug gesessen, wenn es nur schnell gewesen wäre!

In den nächsten Tagen ging Brian mir aus dem Weg;ich sah ihn lediglich beim Abendessen. Dann kam ein Morgen, an dem Anita zu mir sagte: „Meine liebe Marjorie, ich will in der Stadt ein paar Besorgungen machen. Begleitest du mich und hilfst mir ein wenig?“ Natürlich sagte ich zu.

Sie tätigte mehrere Einkäufe in der Gegend Cloucester Street und Durham. Nichts, wozu sie meine Hilfe benötigt hätte. Ich kam zu dem Schluß, daß es ihr um meine Gesellschaft ging, worüber ich mich freute.

Anita ist eine sehr angenehme Person, solange man sich ihrem Willen nicht widersetzt.

Als wir fertig waren, schlenderten wir am Ufer des Avon die Camridge Terrace entlang, dann in den Hagley Park und die Botanischen Gärten. Anita wählte ein sonniges Fleckchen, von wo wir die Vögel beobachten konnten, und zog ihr Strickzeug aus der Tasche. Eine Weile unterhielten wir uns über Belanglosigkeiten oder schwiegen.

Etwa eine halbe Stunde war vergangen, als ihr Telefon summte. Sie nahm es aus der Stricktasche, hob das Knöpfchen ans Ohr. „Ja?“ Dann fügte sie hinzu:

„Danke. Ende.“ Sie verstaute das Telefon wieder, ohne mir zu sagen, wer angerufen hatte. Das war natürlich ihr Recht …

Indirekt jedoch sprach sie davon. „Sag mir eins Marjorie, hast du jemals etwas bedauert? Oder Schuldgefühle gehabt?“

„Ja, manchmal.“ Sollte ich welche haben? Weswegen? Ich zermarterte mir das Gehirn, da ich mir große Mühe gegeben hatte, Anita nicht zu verärgern.

„Wegen der Art und Weise, wie du uns getäuscht und betrogen hast.“

„Was?“

„Spiel nicht die Unschuldige!“ fuhr sie mich an.

„Ich hatte bisher noch nie mit einem Geschöpf zu tun das nicht Gottes Gesetz untersteht. Ich war mir nicht sicher, ob du Begriffe wie Sünde und Schuld überhaupt begreifen würdest. Nicht daß es darauf noch ankommt, nachdem nun deine Maske gefallen ist! Die Familie fordert sofortige Annullierung; Brian ist heute bei Richter Ridgley.“

Ich richtete mich auf. „Mit welcher Begründung?

Ich habe nichts Unrechtes getan!“

„O doch! Du vergißt, daß nach unseren Gesetzen ein Nichtmensch mit Menschen niemals einen Ehevertrag eingehen kann. Niemals!“

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