19. Kapitel

Vierzehn Stunden später befand ich mich nur fünfundzwanzig Kilometer weiter östlich von der Station an der ich das Tunnelbahnsystem hatte verlassen müssen. Eine Stunde dieser Zeit hatte ich mit Einkäufen verbracht, fast eine Stunde mit Essen, gut zwei Stunden in Konferenz mit einem Spezialisten, himmlische sechs Stunden mit Schlafen und beinahe vier Stunden mit einer vorsichtigen Wanderung parallel zum Grenzzaun, ohne ihm zu nahe zu kommen — und jetzt zog der Morgen herauf, und ich begab mich dicht an den Zaun und marschierte als gelangweilter Kontrolltechniker daran entlang.

Pembina ist nur ein Dorf; um den Spezialisten zu finden, hatte ich nach Fargo zurückkehren müssen — ein kurzer Ausflug mit der örtlichen Kapsel. Der Spezialist, den ich brauchte, war von der Sorte wie die Vicksburger Firma „Künstler Ltd.“, nur daß solche Unternehmungen im Imperium keine Reklame machen; es kostete mich Zeit und einige vorsichtig verteilte Schmiergelder, den Mann zu finden. Sein Büro lag im Zentrum nahe Main Avenue und University Drive, versteckte sich jedoch hinter der Fassade eines konventionelleren Geschäfts und fiel daher gar nicht auf.

Noch immer trug ich den ausgebleichten blauen Neojeans-Einteiler, mit dem ich schon von Bord der Skip To M’Lou gesprungen war; nicht, weil ich ihn besonders mochte, sondern weil ein solcher einteiliger Anzug aus rauhem Stoff einem international akzeptierten Unisex-Gewand am nächsten kommt. Manfällt darin nicht einmal auf L-5 oder in Luna City auf wo man eher auf Monokini eingestellt ist. Drapiert man ihn mit einem Halstuch, kann die flotte Hausfrau den Anzug beim Einkaufen tragen; mit Aktentasche wird man zum angesehenen Geschäftsmann hockt man sich darin hinter einen Hut voller Bleistifte, ist er ebensogut die Kleidung eines Bettlers. Da der Stoff nicht leicht verschmutzt, sich gut reinigen läßt keine Falten schlägt und beinahe unverwüstlich ist liefert er die ideale Bekleidung für einen Kurier, der mit dem Hintergrund verschmelzen muß und weder Zeit noch Kofferplatz für Kleidung hat.

Meinen Einteiler hatte ich durch eine schmutzige Mütze ergänzt, daran „meine“ Gewerkschaftsabzeichen, dazu einen abgetragenen Gürtel mit alten, aber noch brauchbaren Werkzeugen, eine Girlande aus Ersatzgliedern für den Zaun über einer Schulter und ein Laser-Schweißgerät über der anderen.

Die Sachen, die ich bei mir hatte, waren ausnahmslos gebraucht, einschließlich der Handschuhe.

In der rechten Hüfttasche befand sich eine alte Lederbrieftasche mit Ausweisen, die mich als Hannah Jensen aus Moorhead identifizierten. Ein abgegriffener Zeitungsausschnitt belegte, daß ich Leiterin der Akklamationsgarde der High School gewesen war; eine fleckige Rotkreuzkarte gab meine Blutgruppe mit 0

Rh pos sub 2 an (was der Wahrheit entsprach) und sprach mir eine Auszeichnung als Blutspenderin zu — die Daten zeigten allerdings, daß ich seit sechs Monaten nichts mehr gespendet hatte.

Andere weltliche Kleinigkeiten vertieften Hannahs Hintergrundgeschichte; sie besaß sogar eine VisaKarte, die von der Spar- und Kredit-Bank Moorheadausgestellt war — doch bei diesem Ausrüstungsgegenstand hatte ich meinem Chef gut tausend Kronen gespart: Da ich die Karte nicht benutzen wollte, verfügte sie nicht über jene unsichtbare magnetische Unterschrift, ohne die eine Kreditkarte ein einfaches Stück Plastik ist.

Es war inzwischen ganz hell geworden, und ich rechnete mir aus, daß ich maximal drei Stunden Zeit hatte, um durch den Zaun zu gelangen — das Limit ging darauf zurück, daß etwa um die Zeit die echten Zaunwärter mit ihrer Arbeit begannen und ich keine Lust hatte, auf einen dieser „Kollegen“ zu stoßen. Bevor es dazu kommen konnte, mußte Hannah Jensen verschwinden — um möglicherweise am Spätnachmittag zum letzten Durchbruch noch einmal zu erscheinen. Heute ging es um alles oder nichts; mein Bargeld in Kronen war aufgebraucht. Gewiß, ich hatte noch meine Imperium-Kreditkarte — aber ich bin auf der Hut vor elektronischen Fallstricken. Hatten meine gestrigen Versuche, den Chef anzurufen dreimal mit derselben Karte, ein Subprogramm ausgelöst, nach dem ich nun identifiziert werden konnte?

Es schien geklappt zu haben, da ich unmittelbar danach die Karte noch einmal für die TunnelbahnFahrkarte benutzt hatte — aber war ich wirklich durch alle elektronischen Fallen gerutscht? Ich wußte es nicht und wollte es auch nicht wissen — ich wollte nichts anderes als über den Zaun.

So schlenderte ich denn weiter und widerstand dem Drang, meiner Rolle nicht gerecht zu werden indem ich lostrabte. Ich suchte nach einer Stelle, an der ich den Zaun aufschneiden konnte, ohne dabei beobachtet zu werden — trotz der Tatsache, daß zubeiden Seiten des Zauns ein Streifen von etwa je fünfzig Metern freigebrannt worden war. Das mußte ich akzeptieren; mein Augenmerk richtete ich auf eine möglichst gute Deckung entlang des geschwärzten Niemandslandes: Bäume und Büsche oder Hecken wie es sie in der Normandie gab.

In Minnesota findet man allerdings keine Hecken wie in der Normandie.

Das nördliche Minnesota hat beinahe überhaupt keine Bäume — zumindest nicht an dem Grenzabschnitt, den ich hier beschritt. Ich beäugte gerade ein Stück Zaun und versuchte mir einzureden, daß ein weites, ungedecktes Feld im Grunde genausogut war wie die beste Deckung, solange einen nur niemand beobachtete, als plötzlich ein Polizei-AAF in Sicht kam — im langsamen Flug nach Westen über dem Zaun. Ich winkte freundschaftlich hinauf und trottete weiter nach Osten.

Die Patrouille beschrieb einen Kreis, kehrte zurück und ging etwa fünfzig Meter entfernt nieder. Ich machte kehrt und ging auf das Fahrzeug zu, das ich in dem Augenblick erreichte, als der Patrouillenführer ausstieg, gefolgt von seinem Fahrer. Die Uniformen verrieten mir (Hölle und Verdammnis!), daß es sich nicht um die Provinzpolizei Minnesota handelte sondern um Imperial-Polizisten.

Sagte der Wortführer zu mir: „Was machen Sie denn hier so früh?“

Seine Stimme klang aggressiv; ich paßte mich dem Ton an: „Ich habe gearbeitet — bis Sie mich unterbrachen.“

„Was Sie nicht sagen! Sie gehen doch erst um achthundert in Dienst.“

„Na, dann sollten Sie sich mal an die Entwicklung anpassen, mein Großer!“ antwortete ich. „Die erste Schicht beginnt bei erstem Tageslicht. Wechsel um zwölf Uhr mittags; die zweite Schicht hat Schluß wenn sie nichts mehr sehen kann.“

„Davon hat uns niemand etwas gesagt.“

„Soll der Superintendent Ihnen eine persönliche Einladung schreiben? Nennen Sie mir Ihre Nummer dann richte ich ihm aus, was Sie gesagt haben.“

„Nicht so frech, Schlampe! Ich brauche dich nicht nur anzugucken, genausogut kann ich dich einlochen.“

„Machen Sie nur! Dann kann ich mich mal einen Tag lang ausruhen — während Sie dafür einzustehen haben, daß dieser Abschnitt nicht gewartet wurde.“

„Schon gut!“ Die beiden kletterten wieder in ihr AAF.

„Hat einer von euch Knaben ’nen Paff?“ fragte ich.

„Wir kiffen nicht im Dienst“, sagte der Fahrer unfreundlich. „Und Sie sollten das auch sein lassen.“

„Schuljunge!“ antwortete ich höflich.

Der Fahrer wollte antworten, aber sein Kommandeur knallte das Luk zu, und gleich darauf startete die Maschine — direkt über meinen Kopf hinweg, so daß ich mich ducken mußte. Die beiden mochten mich wohl nicht sonderlich.

Ich kehrte zum Zaun zurück und überlegte mir dabei, daß Hannah Jensen wohl keine Dame war. Es gab keine Entschuldigung dafür, die beiden Grünen grob zu behandeln, nur weil sie unausstehlich waren.

Auch Gottesanbeterinnen, Läuse und Hyänen müssen leben, obwohl ich nie begriffen habe, warum.

Ich kam zu dem Schluß, daß meine Pläne nicht gutdurchdacht waren; der Chef wäre mit mir nicht zufrieden gewesen. Den Zaun bei hellem Tage durchzuschneiden war zu auffällig. Da war es schon besser mir ein Versteck zu suchen, bis zur Nacht den Kopf unten zu behalten und dann erst an den Zaun zurückzukehren. Oder die Nacht auf Plan Nummer zwei zu verwenden: Die Möglichkeit überprüfen, am Rouseau River unter dem Zaun hindurchzuschlüpfen.

Dieser zweite Plan behagte mir nicht sonderlich.

Am Unterlauf des Mississippi war es einigermaßen warm gewesen, in diesen nördlichen Flüssen aber würde es eiskalt sein. Ich hatte mich gestern abend in Pembina davon überzeugt. Brrr! Nur als allerletzte Möglichkeit …

Such dir also ein Stück Zaun aus, überleg dir genau, wie du ihn aufschneiden willst, dann versuch ein paar Bäume zu finden, kuschele dich in warmes Laub und warte auf die Dunkelheit! Überleg dir jeden Schritt mehrmals, so daß du durch den Zaun kommst wie ein dampfender Strahl Pisse durch Schnee!

In diesem Augenblick kam ich über eine leichte Anhöhe und befand mich Auge in Auge mit einem anderen Zaunwärter, einem Mann.

Im Zweifelsfall angreifen. „Was machst du denn hier, Mann?“

„Ich begehe den Zaun. Meinen Abschnitt. Ich muß fragen, was du hier machst, Schwester?“

„Ach, zum Teufel! Ich bin nicht Ihre Schwester!

Und Sie sind entweder am falschen Abschnitt oder in der falschen Schicht.“ Voller Unbehagen stellte ich fest, daß der gutgekleidete Zaunläufer ein WalkieTalkie bei sich hatte. Nun ja, ich war in diesem Berufnoch nicht lange tätig; ich lernte immer noch dazu.

„Da liegen Sie aber völlig falsch!“ gab er zurück.

„Nach dem neuen Dienstplan fange ich bei Beginn der Dämmerung an und werde mittags abgelöst.

Vielleicht von Ihnen, was? Ja, das muß es sein; Sie haben den Dienstplan nicht begriffen. Ich melde das mal.“

„Tun Sie das!“ sagte ich und trat auf ihn zu.

Er zögerte. „Andererseits könnte ich vielleicht …“

Ich zögerte nicht.

Ich töte nicht jeden, mit dem ich eine Meinungsverschiedenheit habe — niemand, der diese Memoiren liest, möge das bitte glauben. Ich tat ihm auch nur weh, soweit es sich nicht umgehen ließ — ganz kurz und nicht sehr kräftig. Ich legte ihn abrupt schlafen.

Von einer Rolle Klebstreifen, die ich am Gürtel trug, löste ich ein Stück, band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und sicherte seine Fußgelenke.

Wäre das Band breit genug gewesen, hätte ich ihm auch noch den Mund verschließen können, doch ich hatte nur das zwei Zoll breite rauhe Isolierband und war außerdem mehr daran interessiert, den Zaun aufzuschneiden, als ihn daran zu hindern, daß er die Kojoten und Kaninchen um Hilfe anbrüllte. Ich machte mich an die Arbeit.

Ein Schweißgerät, das zum Reparieren geeignet ist läßt sich auch dazu verwenden, einen Zaun aufzuschneiden — mein Gerät aber war noch ein bißchen besser geeignet; ich hatte es an der Hintertür von Fargos führendem Hehler gekauft. Äußerlich sah es wie ein Sauerstoff-Azetylen-Brenner aus, doch in Wirklichkeit handelte es sich um einen Laser, der Stahl auftrennen konnte. Nach Sekunden war dasLoch eben groß genug für Freitag. Ich bückte mich.

„He, nehmen Sie mich mit!“

Ich zögerte. Er bestätigte mir nachdrücklich, er sei ebenso begierig, von den gottverdammten Grünen wegzukommen wie ich — ich solle ihn losbinden!

Was ich dann tat, an diese Torheit kommt im Grunde nur die Handlungsweise von Lots Frau heran. Ich packte das Messer an meinem Gürtel, zerschnitt das Band, das Hände und Füße zusammenhielt — warf mich durch das enge Loch und begann zu laufen. Ich nahm mir nicht die Zeit zu schauen, ob er ebenfalls auf meine Seite herüberkam.

Etwa einen halben Kilometer weiter nördlich war eine seltene Baumgruppe auszumachen; mit Rekordgeschwindigkeit hielt ich darauf zu. Dabei behinderte mich der Werkzeuggurt, den ich abwarf, ohne aus dem Schritt zu kommen. Gleich darauf streifte ich die Mütze ab, und „Hannah Jensen“ verschwand wieder im Nirgendwo, da Handschuhe, Schweißgerät und Reparaturmaterialien im Imperium zurückgeblieben waren. Von Hannah existierte nur noch eine Brieftasche, die ich fortwerfen würde, sobald ich weniger beansprucht war.

Ich erreichte die schützenden Bäume und schlich mich im Bogen zurück zu einer Stelle, von der aus ich den Weg beobachten konnte, den ich gekommen war — der Gedanke, daß ich einen Verfolger hatte, belastete mich doch etwas.

Mein ehemaliger Gefangener hatte den Weg zwischen Zaun und Bäumen etwa zur Hälfte zurückgelegt — und zwei AAF hielten auf ihn zu. Das Fahrzeug das schon näher heran war, war mit dem großen Kastanienblatt Britisch-Kanadas geschmückt. Die Insi-gnien des anderen Fluggebildes konnte ich nicht erkennen, da es direkt auf mich zukam — allerdings flog es soeben über die internationale Grenze.

Das Brit-Kan-Polizeifahrzeug landete; mein Fluchtgast schien sich ohne Widerstand festnehmen zu lassen, was nur vernünftig war, denn schon landete das AAF aus dem Imperium, mindestens zweihundert Meter weit auf Britisch-Kanadischem Boden. Und ja es war Imperial-Polizei vermutlich das Fahrzeug, das mich schon vorhin angehalten hatte.

Ich bin kein Anwalt für internationales Recht trotzdem glaube ich, daß es schon wegen unwichtigerer Zwischenfälle zum Krieg gekommen ist. Ich hielt den Atem an, streckte mein Hörvermögen auf das Äußerste und lauschte.

Bei den beiden Patrouillen gab es keine Anwälte für internationales Recht; der Streit war laut, aber ziemlich sinnlos. Die Imperialen verlangten die Auslieferung des Flüchtlings und beriefen sich dabei auf das Recht des beinahe erfolgreichen Verfolgers, während der Corporal der Mounted Police* (nach meinem Dafürhalten zu Recht) darauf hinwies, daß so etwas nur für Verbrecher gelten könne, die auf frischer Tat ertappt worden seien; das einzige offenkundige „Verbrechen“, das hier begangen sei bestehe im Betreten Britisch-Kanadas abseits der dafür vorgesehenen Durchgänge — eine Angelegenheit, die nicht in den Bereich der Imperial-Polizei falle. „Und jetzt verziehen Sie sich schleunigst von Brit-Kan-Boden!“

Der Grüne gab eine einsilbige Antwort, die den

* Sie heißt auch im Zeitalter der Helikopter noch immer „Berittene Polizei“.Kanadier erzürnte. Er knallte sein Luk zu und äußerte sich durch den Lautsprecher: „Ich verhafte Sie wegen einer krassen Verletzung des Britisch-Kanadischen Luft- und Bodenraums. Steigen Sie aus, ergeben Sie sich! Versuchen Sie nicht zu starten!“

Woraufhin das Fahrzeug der Grünen augenblicklich startete und sich über die internationale Grenze zurückzog — um von dort im Hinterland zu verschwinden. Womöglich war das genau die Reaktion die der „Berittene“ auslösen wollte. Ich rührte mich nicht, denn nun hatten die Beamten Zeit, sich um mich zu kümmern.

Aus der weiteren Entwicklung läßt sich ziemlich sicher schließen, daß mein Mitflüchtling nun den Preis für seinen Freisprung über den Zaun bezahlte:

Die Suche nach mir fand nicht statt. Der Mann sah mich bestimmt im Wald verschwinden. Von den Beamten der Brit-Kan-Polizei nehme ich das nicht an.

Zweifellos löste das Durchschneiden des Zauns auf beiden Seiten Alarm aus; eine Routine-Installation für die Elektronikfachleute, die sogar anzeigen konnten wo sich das Loch befand. Aus diesem Grunde hatte ich ja so schnell handeln wollen.

Die Anzahl der warmen Körper zu zählen, die durch ein solches Loch schlüpfen, das war allerdings ein anderes elektronisches Problem — nicht unmöglich, aber ein zusätzlicher Kostenfaktor, der wohl nicht für lohnend gehalten wurde. Wie dem auch sei mein namenloser Komplize verpfiff mich nicht, denn niemand suchte mich. Nach einer Weile brachte ein Brit-Kan-Wagen eine Reparaturmannschaft; ich sah wie die Männer den von mir in der Nähe des Zauns fortgeworfenen Werkzeuggurt vom Boden aufnah-men. Als die Techniker fort waren, erschien auf der Seite des Imperiums ein zweiter Trupp; er inspizierte die bereits geleistete Arbeit und verschwand wieder.

Ich machte mir meine Gedanken über die Werkzeuggurte. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich mich nicht erinnern, bei meinem ehemaligen Gefangenen einen solchen Gurt wahrgenommen zu haben, als er sich ergab. Ich schloß daraus, daß er sich dieser Last entledigt hatte, um sich durch den Zaun zu zwängen; das Loch reichte knapp für Freitag; er mußte sich ganz schön angestrengt haben, um hindurchzukommen.

Rekonstruktion der Ereignisse: Die Brit-Kans entdeckten auf ihrer Seite einen Gürtel; die Grünen fanden auf ihrer Seite ebenfalls einen Gürtel. Keine der beiden Seiten hatte Grund zu der Annahme, daß da mehr als ein Flüchtling durch das Loch gekrochen war — solange der Gefangene den Mund hielt.

Ich finde das sehr anständig von ihm. Es gibt Männer, die hätten mir wegen des kleinen Schlages gegrollt, den ich ihm verpassen mußte.

Ich blieb bis zum Dunkelwerden in der Baumgruppe dreizehn endlose Stunden lang. Ich wollte niemandem auffallen, bis ich Janet (und — wenn ich Glück hatte — auch Ian) erreichte; ein illegaler Einwanderer strebt nicht nach Publicity. Es war ein langer Tag doch hatte mir mein geistiger Guru mit seinem Training immerhin beigebracht, mit Hunger, Durst und Langeweile fertigzuwerden, wenn man unbedingt still, wach und wachsam bleiben muß. Als die Dunkelheit sich verdichtet hatte, begann ich meinen Marsch. Ich kannte das Terrain, so gut das nach ei-nem Studium von Karten möglich ist, hatte ich mich doch vor knapp zwei Wochen in Janets Haus eingehend mit der Grenze beschäftigt. Das vor mir liegende Problem war weder kompliziert noch schwierig auszuräumen: Zu Fuß mußte ich bis zum Morgengrauen ungefähr hundertundzehn Kilometer zurücklegen und mich dabei von niemandem blicken lassen.

Der Weg war einfach. Zuerst ein wenig nach Osten bis ich die Straße von Lancaster (Imperium) nach La Rochelle (Britisch-Kanada) erreichte. Da gab es einen Grenzübergang, der leicht auszumachen war. Dann nach Norden bis in die Außenbezirke von Winnipeg dann links im Bogen um die Stadt herum, bis die Nord-Süd-Straße zum Flughafen erreicht ist. Von dort war Stonewall nur noch einen Steinwurf weit und das Tormey-Anwesen befand sich ganz in der Nähe. Diesen letzten und schwierigeren Abschnitt kannte ich nicht nur aus der Theorie, sondern von einer kürzlichen Fahrt in einem Pferdewagen, in dem mich außer einigen freundschaftlichen Tätscheleien nichts von meiner Umgebung abgelenkt hatte.

Der erste graue Schimmer lag in der Luft, als ich die Außentore Tormeys erblickte. Ich war müde, aber nicht in schlechter Verfassung. Den Wechsel zwischen Gehen-Joggen-Laufen-Gehen-Joggen-Laufen kann ich notfalls vierundzwanzig Stunden durchhalten, was ich im Training auch geschafft hatte; eine Nacht hindurch ist also ganz annehmbar. Vor allem taten mir die Füße weh, und ich war sehr durstig. In freudiger Erleichterung drückte ich auf den Türknopf.

Und hörte sofort: „Hier spricht Captain Ian Tor-mey. Dies ist eine Aufzeichnung. Dieses Haus wird durch die Bewachungsfirma der Winnipeg-Werwölfe geschützt. Ich habe diese Firma beauftragt, weil ich nicht der Meinung bin, daß ihr Ruf der Schießfreudigkeit berechtigt ist; vielmehr geht es ihr wirklich um den Schutz der Kunden. Anrufe werden nicht weitergeschaltet, allerdings wird die Post, die hier eintrifft, weitergeschickt. Vielen Dank fürs Zuhören.“

Und auch dir vielen Dank, Ian! Oh, verdammt, verdammt, verdammt! Ich wußte, ich hatte keinen Grund, zu erwarten, daß die beiden zu Hause bleiben würden — doch ich hatte mit keinem Gedanken die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß sie sich vielleicht nicht hier aufhielten. Ich hatte eine Verdrängung bewerkstelligt, wie die Psychiater es nennen; nachdem ich meine EnEs-Familie verloren hatte und der Chef nun vermißt wurde und womöglich tot war stellte das Tormey-Anwesen mein „Zuhause“ dar und Janet die Mutter, die ich nie gehabt hatte.

Ich wünschte, ich wäre wieder auf dem Hof der Hunters, umgeben von der liebevollen Fürsorge Mrs.

Hunters. Ich wünschte, ich wäre in Vicksburg und teilte meine Einsamkeit mit Georges.

Schon ging die Sonne auf, bald würden sich die Straßen füllen, und ich war ein illegaler Einwanderer der so gut wie keine Brit-Kan-Dollars bei sich hatte und von dem Bedürfnis beseelt war, nicht aufgespürt nicht verhaftet und nicht verhört zu werden, außerdem schon schwindlig vor Müdigkeit, Hunger und Durst.

Allerdings brauchte ich keine schwierigen Entscheidungen zu treffen, da mir nur eine Möglichkeit blieb. Ich mußte mich wieder wie ein Tier verstecken,und zwar schnell, ehe der Verkehr die Straßen füllte.

Wälder sind in der Nähe Winnipegs nicht gerade oft zu finden, doch ich erinnerte mich an einige Hektar Wildwuchs zur Linken, abseits der Hauptstraße und mehr oder weniger hinter dem TormeyGrundstück — unebener Grund unterhalb des Hügels auf dem Janet gebaut hatte. So schlug ich diese Richtung ein und begegnete dabei nur einem Lieferwagen für Milch. Sonst gab es keinen Verkehr.

Sobald ich die Zone des Bewuchses erreicht hatte verließ ich die Straße. Der Boden war hier sehr uneben, und ich mußte aufpassen, wohin ich trat. Nach kurzer Zeit erreichte ich jedoch etwas, das mir noch willkommener war als die Bäume: einen Bach, so schmal, daß ich ihn mit leichtem Schritt überqueren konnte.

Was ich auch tat, doch erst, nachdem ich daraus getrunken hatte. Ob das Wasser sauber war? Vermutlich war es verseucht, aber ich scherte mich nicht darum; mein seltsames „Geburtsrecht“ schützt mich vor den meisten Infektionen. Das Wasser schmeckte sauber, und ich trank ziemlich viel und fühlte mich hinterher körperlich erfrischt — allerdings lastete mir noch ein Stein auf dem Herzen.

Ich drang tiefer ins Dickicht ein und suchte nach einem Ort, der mir nicht nur als Versteck dienen sondern den ich auch als Schlafplatz benutzen konnte. Sechs Stunden Schlaf vor zwei Nächten, das war ziemlich lange her, außerdem kann es einem so dicht bei einer großen Stadt geschehen, daß eine Pfadfinderschar des Weges kommt und einen in der Wildnis aufscheucht. Folglich suchte ich eine Stelle, die nicht nur durch Büsche geschützt, sondern auch sonstziemlich unzugänglich war.

Ich fand sie. Eine ziemlich steile Stelle an der Seite einer Schlucht, zusätzlich abgegrenzt durch Dornbüsche, die ich via Blindenschrift ausfindig machte.

Dornbüsche?

Es kostete mich etwa zehn Minuten zu finden, was ich suchte, da es äußerlich wie ein Felsbrocken geformt war, der aus der Eiszeit stammte. Als ich aber näher hinschaute, sah mir das Material doch nicht ganz nach Gestein aus. Noch länger dauerte es, bis ich mit den Fingern eine Stelle gefunden hatte, an der ich die Tür anheben konnte — doch schon ließ sie sich leicht zur Seite schwingen, denn sie war zum Teil mit Gegengewichten versehen. Ich trat geduckt ein und ließ die Sperre hinter mir wieder zufallen …

… und befand mich in totaler Dunkelheit, in der nur die grellen Buchstaben leuchteten: PRIVATBESITZ — BETRETEN STRENG VERBOTEN!

Ich blieb stehen und ließ meine Gedanken wandern. Janet hatte mir gesagt, der Schalter, der die Todesfallen lahmlegte, sei „ein kurzes Stück innerhalb versteckt“.

Wie lang ist ein „kurzes Stück“?

Und wie gut war die Installation versteckt?

Das Versteck war gut, einfach weil es bis auf die unheildrohend leuchtenden Buchstaben hier unten tintenschwarz war. Sie hätten genausogut androhen können: „Wenn du hier eintrittst, laß alle Hoffnung fahren.“

Also heraus mit deiner Taschenlampe, Freitag, die ihre eigene kleine Shipstone-Energieversorgung hat dann mach dich an die Suche. Aber wage dich nicht zu weit vor!In dem kleinen Koffer, den ich auf der Skip To M’Lou zurückgelassen hatte, befand sich in der Tat eine Lampe. Vielleicht schimmerte sie in diesem Augenblick sogar und sorgte für Unterhaltung bei den Fischen auf dem Grunde des Mississippi. Und ich wußte, daß weiter unten im Tunnel weitere Lampen gelagert waren.

Ich hatte nicht einmal ein Streichholz.

Wäre ein Pfadfinder bei mir gewesen, hätte ich Feuer machen können, indem ich seine Hinterbeine aneinanderrieb. Ach, schon gut, Freitag!

Ich sank auf den Boden und ließ den Tränen freien Lauf. Dann streckte ich mich auf dem (harten, kalten)

(willkommenen und weichen) Betonboden aus und schlief ein.

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