18. Kapitel

Der Ausflugsdampfer Skip To M’Lou war ein echter Mark-Twainer, ein besseres Schiff, als ich erwartet hatte — drei Passagierdecks, vier Shipstone-Meiler, für jede Doppelschraube zwei. Allerdings war der Kahn bis obenhin beladen, so daß ich schon fürchtete, er könne beim geringsten Windhauch kentern. Wir bildeten nicht den einzigen Truppentransport: Einige Längen vor uns durchpflügte die Myrtle T. Hanshaw mit schätzungsweise zwanzig Knoten den Fluß. Ich dachte an treibende Baumstämme und andere Hindernisse und hoffte, daß die Radar/Sonar-Anlage drüben dieser Aufgabe gewachsen war.

Die Alamo-Helden fuhren mit der Myrtle, ebenso Colonel Rachel, die über beide Kampftruppen das Kommando führte — und mehr brauchte ich gar nicht zu wissen, um meinen Verdacht neu zu entfachen.

Eine riesige Brigade ist nun mal keine Palastgarde.

Colonel Rachel rechnete mit konkreten Kämpfen — möglicherweise mußten wir unter Feuer an Land gehen.

Noch hatte man keine Waffen ausgegeben, außerdem trugen die Rekruten noch Zivil. Dies deutete darauf hin, daß unser Colonel nicht sofort mit Aktionen rechnete. Außerdem bestätigte sich damit Sergeant Gumms Voraussage, daß wir mindestens bis Saint Louis flußaufwärts fahren würden — und natürlich waren ihre übrigen Äußerungen, daß wir die Leibwache des neuen Vorsitzenden werden sollten ein Hinweis darauf, daß wir womöglich ganz bis zur Hauptstadt hinauffahren würden …Wenn der neue Vorsitzende wirklich am Regierungssitz weilte. Wenn Mary Gumm wußte, wovon sie redete. Wenn nicht jemand den Fluß umdrehte sobald ich mal nicht hinschaute. Freitag, da liegen zu viele Unwägbarkeiten in der Luft, während es an konkreten Tatsachen mangelt! Im Grunde wußte ich nur, daß das Schiff etwa jetzt die Grenze zum Imperium überquerte — aber genau wußte ich nicht, auf welcher Seite der Grenze wir waren oder wie ich den Unterschied feststellen sollte.

Es war mir auch nicht sonderlich wichtig, da ich mich irgendwann in den nächsten Tagen, sobald wir dem Hauptquartier meines Chefs nahe gekommen waren, ohne Umstände von Rachels Räubern absetzen wollte — wenn es ging, vor dem Einsatz. Ich hatte inzwischen Gelegenheit gehabt, mir eine Meinung über die Truppe zu bilden und war zu der Ansicht gekommen, daß man sie in weniger als sechs Wochen energischer Feldübungen kampftauglich machen konnte — aber da mußten dann schon wirklich harte und rücksichtslose Ausbilder am Werke sein. Zu viele Rekruten, nicht genug kampferfahrene Einheiten.

Angeblich waren die Rekruten ausnahmslos Veteranen — aber ich war überzeugt, daß es sich bei vielen um entlaufene Bauerntöchter handelte, die teils erst etwa fünfzehn Jahre alt waren. Groß für ihr Alter, das mag sein, außerdem wurde oft nach der Maxima gehandelt: „Wenn Sie groß genug sind, sind sie auch alt genug“, aber wenn man seine sechzig Kilo beisammen hat, ist man noch lange kein Soldat.

Solche Truppen in den Einsatz zu führen, war Selbstmord. Allerdings machte ich mir keine Gedanken darüber. Ich hatte eine reichliche Bohnenmahlzeitgenossen und saß auf dem Achterdeck, den Rücken gegen eine Taurolle gelehnt. Ich genoß den Sonnenuntergang und verdaute mein erstes Essen als Soldat (wenn das das richtige Wort ist), während ich mich zufrieden mit der Tatsache beschäftigte, daß die Skip To M’Lou etwa jetzt das Chicago-Imperium erreichte oder die Grenze bereits überschritten hatte.

Jemand sagte hinter mir: „Na, Soldat, versteckst du dich?“

Ich erkannte die Stimme und drehte den Kopf. „Also, Sergeant, wie kannst du nur so etwas fragen?“

„Kein Problem. Ich habe mich nur eben gefragt:

›Wohin würde ich gehen, um mich zu verdrücken? ‹ — und schon hatte ich dich! Vergiß es, Jonie! Hast du dir deine Koje schon ausgesucht?“

Ich hatte es bisher nicht getan, weil es dazu viele Möglichkeiten gab, die alle gleichermaßen unangenehm waren. Die meisten Soldaten waren in Kabinen untergebracht — in jeder Doppelkabine vier, in jeder Einzelkabine drei. Unsere Einheit jedoch sollte mit einer weiteren im Speisesaal schlafen. Ich hatte keinen Vorteil darin gesehen, nahe dem Kapitänstisch zu liegen, und mich daher am Sturm auf die Quartiere nicht beteiligt.

Sergeant Gumm nickte, als ich ihr geantwortet hatte. „Okay. Wenn du dir deine Decke abholst, baust du dir damit keinen Platz zum Schlafen; sie wird dir bestimmt gestohlen. Backbordseite achtern, vor der Kombüse liegt die Kabine des für den Speisesaal zuständigen Stewards — das ist mein Quartier. Es ist eine Einzelkabine, allerdings mit breiter Liege. Bring deine Decke dorthin! Bei mir hast du’s verdammt viel bequemer als auf dem harten Deck.“

„Das ist sehr nett von dir, Sergeant!“ (Wie rede ich mich da nur heraus? Oder muß ich mich dem Unvermeidlichen fügen?)

„Nenn mich ›Mary‹, wenn wir allein sind. Wie war doch gleich dein Vorname?“

„Freitag.“

„›Freitag‹. Das ist irgendwie süß, wenn man’s genau bedenkt. Na schön, Freitag, dann seh ich dich später.“ Wir sahen zu, wie der letzte rötliche Streifen Sonne hinter dem Land achtern von uns verschwand denn die Skip fuhr nun in einer der endlosen Flußkurven in östlicher Richtung. „Sieht aus, als müßte sie zischen und Dampf aufsteigen lassen.“

„Sergeant, du hast die Seele einer Dichterin.“

„Ich habe mir oft vorgestellt, daß ich es eigentlich können müßte. Gedichte schreiben, meine ich. Du weißt Bescheid? Wegen der Verdunkelung, meine ich?“

„Draußen keine Lichter, keine Zigaretten. Drinnen Beleuchtung nur bei totaler Verdunkelung. Zuwiderhandelnde werden bei Sonnenaufgang erschossen. Ist für mich nicht weiter wichtig. Ich rauche nicht.“

„Berichtigung. Zuwiderhandelnde werden nicht erschossen; sie werden sich nur leidenschaftlich wünschen, sie wären an die Wand gestellt worden. Du rauchst überhaupt nicht, meine Liebe? Nicht mal ein nettes Stängchen mit einer Freundin?“

(Gib schon auf, Freitag!) „Das ist ja kein Rauchen; das ist Freundschaft.“

„So sehe ich das auch. Ich habe natürlich nicht den ganzen Kopf voller Sägespäne. Aber ab und zu ein hübscher Trip in netter Begleitung, wenn beide in der Stimmung dazu sind — das ist doch sehr nett. Und dubist auch sehr nett.“ Sie ließ sich neben mir auf das Deck sinken und legte mir einen Arm um die Schulter.

„Sergeant! Ich meine ›Mary‹. Bitte nicht! Es ist noch nicht ganz dunkel. Man könnte uns sehen.“

„Wen stört das?“

„Mich. Ich bin dann gehemmt. Es wird mir die Stimmung verdorben.“

„In dieser Truppe wirst du das schnell ablegen. Bist du Jungfrau, meine Liebe? Ich meine, mit Mädchen?“

„Äh … bitte frag mich nicht aus, Mary! Und laß mich los! Es tut mir leid, aber das macht mich nervös.

Hier, meine ich. Es könnte ja jederzeit jemand um die Ecke des Deckshauses kommen.“

Sie betatschte mich und begann aufzustehen. „Ist irgendwie süß, daß du so schüchtern bist. Na schön ich habe in der Kabine guten Omaha Black, den ich für eine besondere Gelegenheit aufgespart …“

Grelles Licht erhellte den Himmel, dichtauf gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen. Wo sich eben noch die Myrtle befunden hatte, war der Himmel von Trümmern erfüllt.

„Jesus Christus!“

„Mary, kannst du schwimmen?“

„Was? Nein.“

„Spring hinter mir ins Wasser, ich stütze dich!“ Im gleichen Augenblick sprang ich über die Backbordreling, wobei ich mich abstieß, so fest ich konnte. Dann machte ich ein Dutzend energische Schwimmzüge um Abstand zu gewinnen, und drehte mich auf den Rücken. Mary Gumms Kopf zeichnete sich als Umriß vor dem Himmel ab.

Doch mehr nahm ich von ihr nicht wahr, denn imnächsten Augenblick flog auch die Skip To M’Lou in die Luft.

An jenem Abschnitt des Mississippi erstrecken sich am Ostufer hohe Klippen. Das Westufer des Flusses ist höhergelegenes Land, nicht so klar auszumachen zehn oder fünfzehn Kilometer entfernt. Zwischen diesen beiden Seiten ist die Position des Flusses Ansichtssache — manchmal auch ein Thema rechtlicher Auseinandersetzungen, weil der Fluß ab und zu seinen Lauf ändert und Besitzrechte beeinträchtigt.

Der Fluß verläuft in allen Richtungen und kann genausogut nach Süden wie nach Norden fließen — nun ja, vielleicht nach Norden nicht so häufig wie nach Süden. Bei Sonnenuntergang war die Strömung in den Westen gerichtet gewesen; die gegen den Strom stampfende Skip hatte den Sonnenuntergang achtern gehabt. Aber während die Sonne unterging hatte sich der Flußlauf nach Norden gewandt und das Boot entsprechend nach links herumgeführt; mir war aufgefallen, daß der orangerote Sonnenuntergang langsam auf die Backbordseite schwang.

Deshalb sprang ich nach Backbord. Als ich das Wasser erreicht hatte, ging es mir in erster Linie darum, vom Schiff wegzukommen; erst als zweites wollte ich feststellen, ob Mary mir gefolgt war. Im Grunde rechnete ich nicht damit, weil die meisten Menschen, die richtigen Menschen (meiner Erfahrung nach!) nicht so schnell eine Entscheidung treffen können.

Ich sah sie noch an Bord stehen; sie starrte zu mir herab. Dann ereignete sich die zweite Explosion, und es war zu spät. Ich spürte einen Anflug von Bedauern— auf ihre freche, leicht unehrliche Art war Mary ein feiner Kerl gewesen —, dann tilgte ich sie aus meinen Gedanken; ich hatte andere Probleme.

Mein erstes Problem betraf meinen Wunsch, nicht von Trümmern getroffen zu werden; ich tauchte und blieb unten. Ich kann beinahe zehn Minuten lang den Atem anhalten und mich dabei trotzdem bewegen auch wenn mir das Gefühl nicht gefällt. Diesmal hielt ich durch, bis es beinahe nicht mehr ging, dann kam ich wieder an die Oberfläche.

Es hatte genügt. Es war dunkel, aber ich schien die Zone der Schiffstrümmer verlassen zu haben.

Möglich, daß es im Wasser Überlebende gab, doch ich hörte keine und spürte auch nicht den Drang nach Überlebenden zu suchen (die einzige Ausnahme wäre Mary gewesen, aber es war unmöglich, sie zu finden), da ich nicht entsprechend ausgerüstet war und kaum mich selbst retten konnte.

Ich blickte mich um, entdeckte die Überreste des Sonnenuntergangs und schwamm darauf zu. Nach einer Weile verlor ich diesen Anhaltspunkt, drehte mich auf den Rücken und suchte den Himmel ab. Wolkenfetzen und kein Mond … Ich machte Arkturus aus dann beide Bären und den Polarstern, und damit wußte ich, wo Norden war. Daraufhin berichtigte ich meinen Kurs genau auf Westen. Ich blieb dabei auf dem Rücken, denn wenn man es nicht übertreibt, kann man in dieser Stellung ewig aushalten. Kein Problem mit dem Atmen, und wenn die Kräfte ein wenig knapp werden, braucht man nur stillzuhalten und ein bißchen die Finger zu bewegen, bis man wieder ausgeruht ist. Ich hatte es nicht eilig; ich wollte lediglich das Imperium auf der Arkansas-Seite erreichen.Dabei wollte ich allerdings nicht nach Texas zurückgetrieben werden — das war das Allerwichtigste.

Problem: Die richtige Navigation auf einem mehrere Kilometer breiten Fluß, bei Nacht und ohne Karte mit dem Ziel, das unsichtbare Westufer zu erreichen — ohne dabei nach Süden getrieben zu werden.

Unmöglich? So wie der Mississippi sich windet wie eine Schlange mit gebrochenem Rückgrat? Das Wort „unmöglich“ gibt es im Zusammenhang mit dem Mississippi allerdings nicht. Es gibt da eine Stelle, wo man drei kurze Überland-Abkürzungen machen kann, die insgesamt weniger als neunzig Meter lang sind, wo man ferner den Fluß in zwei Biegungen hinabschwimmen kann, die insgesamt etwa dreißig Kilometer ausmachen — nur um gut hundert Kilometer flußaufwärts zu landen.

Ich hatte keine Karte und sah mein Ziel nicht — ich wußte nur, daß ich nach Westen mußte und dabei nicht nach Süden durfte. Und genau das tat ich. Ich blieb auf dem Rücken liegen und schaute immer wieder zu den Sternen empor, um den Westkurs zu halten. Dabei konnte ich nicht ermitteln, um wieviel ich dabei durch die Strömung nach Süden getrieben wurde, bis auf die Gewißheit, daß, sollte der Fluß nach Süden abbiegen, mein Westkurs mich am Arkansas-Ufer anlanden lassen mußte.

Und so passierte es auch. Eine Stunde später — zwei Stunden später? — viel Wasser später! — , als Wega längst im Osten aufgestiegen war, vom Meridian allerdings noch weit entfernt, erkannte ich, daß links von mir das Ufer aufragte. Ich orientierte mich, berichtigte meinen Kurs genau auf Westen und schwamm weiter. Gleich darauf stieß ich mit demKopf gegen ein Hindernis im Wasser, griff über den Kopf, packte zu und zerrte mich hoch. Dann arbeitete ich mich von einem Hindernis zum nächsten ans Ufer vor.

Die Uferböschung zu erklettern war kein Problem da der Höhenunterschied an dieser Stelle nur etwa einen halben Meter betrug. Die einzige Gefahr war die Weichheit des Bodens, aber ich fand Halt, blieb stehen und sah mich um.

Tintenschwarz war es ringsum; die Sterne lieferten das einzige Licht. Die glatte Schwärze des Wassers war von der Pechschwärze des Bewuchses hinter mir nur durch die schwache Spiegelung des Sternenlichts zu unterscheiden. Die Richtung? Der Polarstern stand inzwischen hinter Wolken, der Große Bär aber verriet mir, wo er stehen mußte, und hierfür fand ich die Bestätigung durch Antares im Südosten.

Diese Orientierung nach dem Sternenhimmel verriet mir, daß der Westkurs direkt durch die dicken schwarzen Büsche führte.

Die einzige Alternative hätte darin bestanden, ins Wasser zurückzukehren und mich an den Fluß zu halten — was zur Folge gehabt hätte, daß ich irgendwann morgen wieder in Vicksburg gelandet wäre.

Nein, danke. Ich marschierte ins Gebüsch.

Die nächsten Stunden will ich schnell überspringen. Es mag nicht die längste Nacht meines Lebens gewesen sein, auf jeden Fall aber war es die langweiligste. Bestimmt gibt es auf der Erde dichteren und gefährlicheren Wildwuchs als das Gewirr im Flußtal des unteren Mississippi. Aber ich möchte nicht hindurchwandern müssen, besonders nicht ohne Machete (oder auch nur einem Pfadfindermesser!).Die meiste Zeit kosteten mich die Umwege — wie komme ich um den Brocken herum? — Nein, doch nicht auf der Südseite! Wie komme ich nach Norden?

Der Weg, den ich zurücklegte, war so gewunden wie das Flußbett, und mein Vorankommen belief sich auf etwa einen Kilometer in der Stunde — vielleicht übertreibe ich aber auch; vielleicht war es weniger. Einen großen Teil der Zeit brauchte ich zum Reorientieren und das war alle paar Dutzend Meter fällig.

Fliegen, Moskitos, Mücken, Krabbeltiere, die ich gar nicht erst zu Gesicht bekam, zweimal durch Schlangen unter meinen Füßen, vielleicht WasserMokassins, die anzuschauen ich mir aber nicht die Zeit nahm, und immer wieder aufgescheuchte Vögel die mit einem Dutzend verschiedener Stimmen schrien und die mir zur gegenseitigen Bestürzung oft beinahe ins Gesicht flatterten … Wenn ich den Fuß niedersetzte, dann normalerweise auf weichem Lehm und meistens gegen ein Hindernis, das knöchelhoch war oder sogar bis zum Knie reichte.

Dreimal (viermal?) gelangte ich an offenes Gewässer. Jedesmal behielt ich meinen Westkurs bei und begann zu schwimmen, sobald das Wasser tief genug war. Meistens stehende Nebengewässer, doch einmal glaubte ich auch eine Strömung wahrzunehmen — vielleicht war ich in einen unbedeutenden Nebenlauf des Mississippi geraten. Auf einer solchen Schwimmstrecke glitt etwas Großes an mir vorbei. Ein riesiger Katzenwels? Heißt es von denen nicht, daß sie auf dem Grund bleiben? Ein Alligator? Die soll es hier doch gar nicht geben! Vielleicht war es das Ungeheuer von Loch Ness auf Tournee; ich bekam das Geschöpf nicht zu sehen, sondern spürte es nur — undschoß vor Schreck förmlich aus dem Wasser.

Etwa achthundert Jahre nach der Versenkung der Skip und der Myrtle setzte die Dämmerung ein.

Ungefähr einen Kilometer westlich von mir erhob sich das Hochland der Arkansas-Seite. Ich triumphierte.

Außerdem war ich hungrig, erschöpft, verdreckt von Insekten zerfressen, unansehnlich und beinahe unerträglich durstig.

Fünf Stunden später war ich Reisegefährte eines gewissen Mr. Asa Hunter in seinem StudebakerBauernwagen, der von einem hübschen Muligespann gezogen wurde. Wir näherten uns einer kleinen Stadt die Eudora hieß. Noch immer hatte ich nicht geschlafen, doch einige andere Bedürfnisse waren befriedigt — ich hatte essen und trinken und mich waschen können. Mrs. Hunter bemutterte mich, lieh mir einen Kamm und setzte mir ein gutes Frühstück vor: gebratene Eier, dicker, fetter Speck, Maisbrot, Butter Hirse, Milch, frisch aufgekochter Kaffee, der mit einer Eierschale beruhigt wurde — und will man Mrs.

Hunters Kochkünste wirklich voll ausschöpfen, so empfehle ich eine ganze Nacht, wie ich sie hinter mir hatte: zahlreiche Schwimmstrecken, dazwischen anstrengende Wege durch das sumpfige, unwegsame Flußbett des Old Man River. Ambrosia!

Während des Essens trug ich ein Kleid der Frau die darauf bestand, meinen mitgenommenen Einteiler auszuwaschen. Als ich zum Aufbruch bereit war konnte ich das gute Stück wieder anziehen und machte mich darin sogar einigermaßen.

Ich bot den Hunters keine Bezahlung an. Es gibtMenschen, die sehr wenig besitzen, aber über einen besonderen Reichtum an Würde und Selbstachtung verfügen. Ihre Gastfreundschaft steht nicht zum Verkauf, ebensowenig ihre Güte. Allmählich erkenne ich diesen Charakterzug, soweit er in einem Menschen vorhanden ist. Bei den Hunters war er nicht zu übersehen.

Wir überquerten die Macon-Bayou, und später mündete der Weg auf eine etwas breitere Straße. Mr.

Hunter ließ seine Mulis anhalten, stieg ab und kam auf meine Seite herüber. „Miß, ich würde Sie bitten jetzt herunterzukommen.“

Ich ergriff seine Hand und ließ mir beim Absteigen helfen. „Stimmt etwas nicht, Mr. Hunter? Habe ich Sie gekränkt?“

Langsam antwortete er: „Nein, Miß. Ganz und gar nicht.“ Er zögerte. „Sie haben uns erzählt, ihr Fischerboot sei an einem Hindernis leck geworden.“

„Ja?“

„Ja, solche Hindernisse sind eine elende Gefahr.“

Er stockte. „Gestern abend gegen Sonnenuntergang ist am Fluß was gewesen. Zwei Explosionen, ungefähr an der Kentucky-Biegung. Große Explosionen.

Von unserem Haus zu sehen und zu hören.“

Wieder geriet er ins Stocken. Ich sagte nichts. Meine Erklärung für mein Hiersein und meinen (unmöglichen) Zustand stand ohnehin auf wackeligen Beinen. Aber was hätte ich noch sagen können, außer daß ich aus einer fliegenden Untertasse gestiegen wäre?

„Die Frau und ich haben noch nie Ärger gehabt mit der Imperial-Polizei“, fuhr Mr. Hunter fort. „Und dabei soll es auch bleiben. Wenn Sie also nichts dagegenhätten, dieser Straße ein Stück nach links zu folgen kommen Sie nach Eudora. Und ich wende und fahre wieder nach Hause. Okay?“

„Ich verstehe. Mr. Hunter, ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Ihnen und Mrs. Hunter Ihre Freundlichkeit zu ver …“

„Das können Sie.“

„Ja?“ (Würde er mich um Geld bitten? — Nein!)

„Eines Tages werden Sie mal jemandem begegnen der Hilfe braucht. Dann helfen Sie ihm und denken an uns.“

„Oh! Ja, das tue ich! Ganz bestimmt!“

„Aber schreiben Sie uns nicht darüber. Leute, die Briefe kriegen, fallen auf. Wir wollen nicht auffallen.“

„Ich verstehe. Ich werde mich aber danach richten und an Sie denken, nicht nur einmal, sondern öfter.“

„Das ist das beste. Brotkrumen, die man ins Wasser wirft kommen immer zu einem zurück, Miß. Von Mrs. Hunter soll ich Ihnen ausrichten, daß sie für Sie beten wird.“

Die Tränen schossen mir so schnell in die Augen daß ich nichts mehr sehen konnte. „Oh! Bitte sagen Sie ihr, daß ich in meinen Gebeten an sie denken werde. An Sie beide.“ (In meinem ganzen Leben hatte ich noch nicht gebetet. Für die Hunters aber würde ich es tun.)

„Vielen Dank. Ich sag’s ihr, Miß. Dürfte ich Ihnen einen Rat geben? Daß Sie mir das aber nicht falsch verstehen.“

„Ich brauche einen Rat.“

„Sie wollen doch nicht etwa in Eudora Station machen?“

„Nein. Ich muß in den Norden.“

„Das hatten Sie ja schon gesagt. Eudora ist nichts anderes als eine Polizeiwache und ein paar Läden.

Lake Village ist weiter weg von hier, hat aber eine Haltestelle der Greyhound-AAF. Zwölf Kilometer von hier, wenn Sie nach rechts gehen. Schaffen Sie die Strecke bis Mittag, könnten Sie den Bus um zwölf noch erreichen. Aber Sie müßten sich sputen, und wir haben heißes Wetter.“

„Ich schaffe es schon.“

„Der Greyhound bringt sie nach Pine Bluff oder sogar bis Little Rock. Hmm. Eine Busfahrt kostet Geld.“

„Mr. Hunter, Sie sind mehr als freundlich zu mir gewesen. Ich habe meine Kreditkarte dabei; ich kann den Bus selbst bezahlen.“ Ich hatte die Wasserläufe und den Lehm nicht sonderlich gut überstanden; meine Kreditkarten, Ausweise, der Paß und das Bargeld aber waren in dem wasserdichten Geldgürtel sicher verstaut gewesen, den Janet mir vor vielen Lichtjahren geschenkt hatte; nichts hatte gelitten. Eines Tages würde ich es ihr erzählen.

„Gut. Ich dachte mir aber, ich sollte lieber danach fragen. Noch etwas. Die Leute hier scheren sich meistens nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Wenn Sie direkt in den Greyhound steigen, haben die wenigen neugierigen Seelen keinen Vorwand, Sie zu belästigen. Vielleicht wäre das besser so. Nun ja, leben Sie wohl und viel Glück!“

Ich verabschiedete mich von ihm und begann meinen Marsch. Am liebsten hätte ich ihn geküßt, doch gegenüber Männern wie Mr. Hunter nehmen sich Frauen keine solchen Freiheiten heraus.Ich erwischte das Mittags-AAF und befand mich um 12.52 in Little Rock. Als ich die Tunnelstation erreichte, wurde gerade eine Expreß-Kapsel abfahrbereit gemacht; zwanzig Minuten später war ich in Saint Louis. Von einer Terminalzelle in der Tunnelstation tippte ich den Kontakt-Kode meines Chefs ein um mir ein Fahrzeug zum Hauptquartier zu bestellen.

Eine Stimme antwortete: „Der Komm-Kode, den Sie eben gewählt haben, ist nicht angeschlossen. Bleiben Sie in der Leitung, bis die Vermittlung …“ Ich drückte den Trennhebel und machte mich dünne.

Mehrere Minuten lang hielt ich mich in der unterirdischen Stadt auf, ziellos herumlaufend und vor Schaufenstern stehenbleibend; dabei legte ich aber Distanz zwischen mich und die Tunnelstation.

In einem Einkaufszentrum, das ein gutes Stück entfernt war, fand ich ein anderes öffentliches Terminal und versuchte den Ausweich-Kode. Als die Stimme loslegte: „Der Komm-Kode, den Sie gewählt haben ist nicht …“, trennte ich die Verbindung, aber die Stimme hörte nicht auf. Ich zog den Kopf ein, ließ mich auf die Knie fallen und schob mich schräg zur Seite aus der Kabine — ein auffälliges Verhalten, das mir zuwider ist, das ich aber für nötig hielt, um zu verhindern, daß man mich durch das Terminal photographierte, was eine Katastrophe hätte sein können.

Minutenlang tauchte ich in der Menge unter. Als ich einigermaßen sicher war, daß niemand mir folgte ging ich eine Etage tiefer und begab mich mit Hilfe des städtischen Untergrundsystems nach East Saint Louis. Ein weiterer Kontakt-Kode stand mir zur Verfügung, der nur für den äußersten Notfall gedachtwar, doch den wollte ich nicht unvorbereitet benutzen.

Das neue Hauptquartier meines Chefs befand sich knapp sechzig Minuten vom Zentrum entfernt, doch wußte ich nicht genau, wo es lag. Damit will ich sagen, als ich die Krankenstation verließ, um mein Auffrischungstraining zu beginnen, hatte der Flug im AAF genau sechzig Minuten gedauert. Auch die Rückkehr hatte sechzig Minuten in Anspruch genommen. Als ich meinen Urlaub antrat und mich absetzen ließ, damit ich meine Kapsel nach Winnipeg erreichte, hatte man mich nach genau sechzig Minuten in Kansas City abgesetzt. Die AAF, die für solche Einsätze genommen werden, haben keine Fenster.

Nach Geometrie, Geographie und meinen Grundkenntnissen über die Leistungsfähigkeit eines AAF mußte das neue Hauptquartier des Chefs irgendwo in der Nähe von Des Moines liegen — in diesem Falle aber bedeutete dieses „irgendwo“ einen Radius von mindestens hundert Kilometern. Ich stellte keine Mutmaßungen an. Auch machte ich mir keine Gedanken darüber, wer von uns denn die genaue Lage des HQ kenne. Diese Information wurde nur jenen zuteil, die sie besitzen mußten; und sich ausmalen zu wollen, wie der Chef solche Entscheidungen traf, war reine Zeitverschwendung.

In East Saint Louis erstand ich einen dünnen Mantel mit Kapuze, außerdem in einem ScherzartikelLaden eine Latex-Maske, wobei ich darauf achtete daß ich kein zu groteskes Modell erwischte. Dann gab ich mir größte Mühe, meine Wahl des Terminals möglich zufällig zu gestalten. Ich war der — allerdings unbeweisbaren — Ansicht, daß der Chef wieder malins Feuer geraten und diesmal erwischt worden war.

Daß ich noch nicht in Panik flatterte, lag einzig und allein an meinem Training, das mir eine solche Reaktion verbot, bis alles vorüber war.

In Maske und Kapuze wählte ich den allerletzten Komm-Kode. Das gleiche Ergebnis, und wieder ließ sich das Terminal nicht ausschalten. Ich drehte der Optik den Rücken zu, zog mir die Maske herunter ließ sie zu Boden fallen und verließ langsamen Schrittes die Zelle. Hinter der nächsten Ecke streifte ich im Gehen den Mantel von den Schultern, faltete ihn zusammen, stopfte ihn in einen Abfallbehälter und kehrte nach Saint Louis zurück …

… wo ich tollkühn meine Kreditkarte auf die Imperial Bank von Saint Louis benutzte, um mein Tunnelfahrgeld nach Kansas City zu bezahlen. Noch vor einer Stunde, in Little Rock, hatte ich sie ohne Zögern benutzt, aber hatte ich noch nicht den Verdacht, daß dem Chef etwas zugestoßen sein könnte — im Grunde war ich der religiösen Überzeugung, daß dem Chef niemals etwas zustoßen konnte. („Religiös“ = „Absoluter Glaube ohne Beweis“)

Jetzt aber mußte ich von der Annahme ausgehen daß dem Chef tatsächlich etwas zugestoßen war, einschließlich der Vermutung, daß meine Saint-LouisMaster-Charge-Karte (die auf die Kreditmöglichkeiten des Chefs zurückging, nicht auf die meinen) jederzeit ungültig gemacht werden konnte. Wenn ich sie in einen Schlitz steckte, um für etwas zu bezahlen mochte sie von einem Vernichtungsschlag verbrannt werden, sobald die Maschine die Nummer identifizierte.

Fünfzehn Minuten später und vierhundert Kilo-meter weiter erreichte ich Kansas City. Die Tunnelstation verließ ich erst gar nicht. Vom Informationsschalter aus tätigte ich einen kostenfreien Anruf, ließ mich über den Fahrplan der Tunnelbahn KC — Omaha — Sioux Falls — Fargo — Winnipeg unterrichten und erfuhr, daß die Strecke bis in die Grenzstadt Pembina normal befahren wurde, allerdings nicht weiter. Sechsundfünfzig Minuten später war ich an der Britisch-Kanadischen Grenze unmittelbar südlich von Winnipeg. Wir hatten noch frühen Nachmittag.

Vor zehn Stunden war ich aus den Flußniederungen des Mississippi heraufgestiegen und hatte mich vage gefragt, ob ich mich im Imperium befand oder etwa nach Texas zurückgeschwemmt worden war.

In diesem Augenblick war mein Wunsch, das Imperium wieder zu verlassen, stärker als jemals mein Bestreben, hierhin zurückzukehren. Bis jetzt war es mir gelungen, der Imperial-Polizei einen Schritt voraus zu bleiben, allerdings hatte ich keinen Zweifel mehr, daß sich die Behörden für mich interessierten.

Ich hatte keine Lust, mich mit ihnen zu unterhalten denn ich hatte Gerüchte darüber gehört, wie in solchen Kreisen eine Ermittlung abläuft. Die Jungs, die mich vor einiger Zeit ausgefragt hatten, waren einigermaßen grob geworden — die Imperial-Polizei aber hatte den Ruf, einem Gefangenen das Gehirn auszubrennen.

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