15. Kapitel

Ich behielt recht.

Natürlich möchte ich Georges Janet nicht wegnehmen, doch ich freue mich schon heute auf viele angenehme Besuche, und sollte er sich je entschließen meine Sterilität aufzuheben, nun so würde ich nichts dagegen haben — ich begreife nicht, warum Janet ihm nicht schon ein Kind geschenkt hat.

Das dritte oder vierte Mal weckte mich ein herrlicher Duft; Georges entlud den Lieferautomaten. „Du hast zwanzig Sekunden, deine Routine im Badezimmer abzuspulen“, sagte er. „Die Suppe ist bereits serviert. Du hast mitten in der Nacht ein richtiges Frühstück gehabt, also bekommst du jetzt eine höchst unpassende Zwischenmahlzeit.“

Vermutlich ist es nicht ganz richtig, zum Frühstück frische Dungeness-Krebse zu speisen, doch ich fand es großartig. Davor gab es Bananenscheiben in Sahne auf Cornflakes, was mich schon mehr an ein Frühstück erinnerte, dazu wurden warme Zwiebacke und lockerer grüner Salat gereicht. Anschließend gab es Zichorienkaffee mit einem Schuß Korbel Champagner-Brandy. George ist ein liebevoller Lüstling und versteht es, zu essen und zu kochen, und weiß, wie man einer Künstlichen Person das Gefühl vermittelt, ein Mensch zu sein, oder daß es zumindest nichts ausmacht, nicht als solcher angesehen zu werden.

Frage: Warum sind die drei Angehörigen dieser Familie so schlank? Ganz bestimmt halten sie nicht Diät oder unterwerfen sich masochistischen Leibes-übungen. Ein Therapeut sagte mir einmal, die sportliche Betätigung, die ein Mensch braucht, ließe sich allein im Bett erreichen. Lag es daran?

Soweit die guten Nachrichten. Jetzt zu den schlechten:

Der Internationale Korridor war geschlossen. Man konnte Deseret erreichen, indem man in Portland umstieg, doch es gab keine Garantie, daß die Tunnelbahn SLC-Omaha-Gary offen war. Die einzige große internationale Route, die regelmäßig befahren wurde schien San-Diego — Dallas — Vicksburg — Atlanta zu sein.

San Diego war kein Problem, da die San-JoséTunnelbahn von Bellingham nach La Jolla offen war.

Aber Vicksburg gehört nicht zum Chicago-Imperium sondern ist ein einfacher Flußhafen, von dem aus eine Person, die Bargeld und Hartnäckigkeit besitzt, ins Imperium gelangen könnte.

Ich versuchte den Chef anzurufen. Vierzig Minuten später hatte ich von synthetischen Stimmen etwa dieselbe Meinung wie die Menschen über meinesgleichen. Wer hat sich das nur ausgedacht, den Computern „Höflichkeit“ einzuprogrammieren? Daß einem die Maschinenstimme bestätigt: „Vielen Dank für Ihre Geduld“, mag man beim erstenmal noch hinnehmen doch beim drittenmal geht einem der scheinheilige synthetisch höfliche Ton und vierzig Minuten Hinhaltetaktik, ohne daß man auch nur eine echte lebendige Stimme zu hören bekommt, derart auf den Keks daß es der Geduld eines Guru bedürfte, um nicht aus der Haut zu fahren.

Ich schaffte es nicht, das Terminal zu dem Geständnis zu bewegen, daß man nicht ins Imperium telefonieren könne. Der digitale Deubel war einfachnicht darauf programmiert, „Nein“ zu sagen; er war auf Höflichkeit geschaltet. Es wäre wirklich eine Erleichterung gewesen, wenn die Maschine nach einer gewissen Anzahl vergeblicher Versuche auf folgende Schaltung gegangen wäre: „Verzieh dich, Mädchen jetzt ist Schluß!“

Anschließend versuchte ich das Postamt in Bellingham anzurufen, um mich nach den Postdiensten ins Imperium zu erkundigen — schriftlich niedergelegte Worte, auf Papier, als Paket bezahlt, kein Faksimile, keine elektronisch übermittelte Nachricht.

Zu hören bekam ich einen fröhlichen Vortrag, daß ich doch meine Weihnachtssendungen frühzeitig aufgeben solle. Da Weihnachten noch ein halbes Jahr hin war, kam mir das nicht gerade dringend vor.

Ich versuchte es noch einmal. Man schalt mich wegen meiner Nachlässigkeit im Gebrauch von Postleitzahlen.

Ich wagte es ein drittesmal und landete bei Macys Kundendienst: „Unsere netten Helfer sind im Augenblick beschäftigt — vielen Dank für Ihre Geduld!“

Ich wartete nicht.

Ich wollte sowieso nicht telefonieren oder einen Brief abschicken; ich wollte mich persönlich beim Chef zurückmelden. Und dazu brauchte ich Bargeld.

Das aufdringlich höfliche Terminal gestand mir schließlich, daß das hiesige Büro der Master-ChargeOrganisation im Hauptbüro Bellingham der TransAmerica Corporation zu finden sei. Ich gab also das Signal ein und landete bei einer netten Stimme — aufgezeichnet und nicht synthetisch geformt —, die mir sagte: „Vielen Dank für Ihren Anruf bei Master Charge. Im Interesse der Rationalisierung und größtmög-lichen Ersparnis für unsere vielen Millionen zufriedenen Kunden sind sämtliche Bezirksniederlassungen in der Kalifornischen Konföderation mit der Zentrale in San José zusammengelegt worden. Um schnellstens versorgt zu werden, bedienen Sie sich bitte des gebührenfreien Signals, das auf der Rückseite Ihrer Master-Charge-Karte angegeben ist.“ Die süßliche Stimme wurde von den ersten Takten einer hübschen Melodie abgelöst. Ich unterbrach hastig die Verbindung.

Meine Master-Charge-Karte war in Saint Louis ausgegeben worden und verriet mir natürlich nichts über das gebührenfreie Signal in San José. Ohne große Hoffnung versuchte ich also diese Nummer.

Und geriet in den Gebetsdienst.

Während mich auf diese Weise der Computer in meine Schranken verwies, las Georges die olympische Ausgabe der Los Angeles Times und wartete darauf daß ich meine Bemühungen einstellte. Ich gab den Kampf auf und fragte: „Georges, was berichtet die Morgenzeitung über die Krise?“

„Über welche Krise?“

„Wie bitte? Ich meine: ›Wie bitte? ‹!“

„Liebste Freitag, die einzige Krise, von der in dieser Zeitung die Rede ist, betrifft eine Warnung des Sierra Club über die Spezies Rhus diversiloba, die offenbar vom Aussterben bedroht ist. Außerdem ist eine Gewerkschaftsdemonstration gegen Dow Chemical geplant. Ansonsten gibt es im Westen nichts Neues.“

Ich runzelte die Stirn, um mein Gedächtnis anzuregen. „Georges, ich habe keine Ahnung von der kalifornischen Politik …“

„Meine Liebe, niemand hat Ahnung von der kali-fornischen Politik, und dazu gehören auch die kalifornischen Politiker.“

„… aber ich kann mich vage an Meldungen erinnern, daß auch in der Konföderation etwa ein Dutzend aufsehenerregende Hinrichtungen stattgefunden hätten. War denn das alles eine Täuschung?“ Ich richtete meine Gedanken in die Vergangenheit und rechnete zwischen den Zeitzonen herum — wie lange war das jetzt her? Fünfunddreißig Stunden?

„Hier finden sich Nachrufe auf mehrere prominente Damen und Herren, die vorgestern abend in den Nachrichten erwähnt wurden … aber sie werden nicht als ermordet aufgeführt. Der eine starb an einer ›auf einen Unfall zurückgehenden Schußwunde‹. Ein weiterer nach ›langer, schwerer Krankheit‹. Ein dritter wurde das Opfer des ›ungeklärten Absturzes‹ eines privaten AAF, hierzu hat der Generalstaatsanwalt der Konföderation eine Ermittlung angeordnet. Dazu fällt mir aber ein, daß der Generalstaatsanwalt ja wohl auch umgebracht wurde.“

„Georges, was geht hier vor?“

„Freitag, ich habe keine Ahnung. Ich glaube aber fast, daß es gefährlich wäre, sich zu interessiert danach zu erkundigen.“

„O nein, erkundigen werde ich mich nicht; ich habe keinen politischen Ehrgeiz. Ich will nur so schnell wie möglich ins Imperium hinüber. Aber um das zu erreichen, brauche ich Bargeld — die Grenze ist geschlossen, egal, was die Los Angeles Times dazu sagt. Es mißfällt mir, Janet durch ihre Visa-Karte weiter auf der Tasche zu liegen. Vielleicht kann ich meine eigene Karte nehmen, aber dazu müßte ich nach San José die Leute sind hier ziemlich kompliziert. Möchtest dumich nach San José begleiten? Oder zu Jan und Ian zurückkehren?“

„Süße Dame, meine weltliche Habe liegt dir zu Füßen. Aber zeig mir den Weg nach San José. Warum willst du mich nicht ins Imperium mitnehmen? Wäre es nicht denkbar, daß dein Chef meine Talente gebrauchen könnte? Aus Gründen, die wir beide kennen, kann ich nicht nach Manitoba zurück.“

„Georges, nicht daß ich dich nicht mitnehmen will vielmehr ist die Grenze zu — was mich vielleicht zwingt den Vampir zu spielen und durch einen dünnen Spalt zu fliegen. Oder etwas Ähnliches. Ich bin entsprechend ausgebildet und kann solche Wege nur allein gehen — du bist in der Branche, du weißt das. Außerdem wissen wir zwar nicht genau, wie es im Imperium aussieht, aber auf jeden Fall gehen dort die Wellen hoch.

Wenn ich wieder zu Hause bin, muß ich vielleicht sehr schnell reagieren, um am Leben zu bleiben. Und auch in dieser Richtung bin ich ausgebildet.“

„Und du bist gesteigert, und ich nicht. Ja, ich verstehe, was du meinst.“

„Georges! Mein Lieber, ich möchte deine Gefühle nicht verletzen. Hör mal! Sobald ich mich zurückgemeldet habe, setze ich mich mit dir in Verbindung.

Hier oder zu Hause, wo immer du sein wirst. Wenn du ungefährdet über die Grenze kannst, werde ich das bald erfahren.“ (Georges will den Chef um einen Job angehen? Unmöglich! — Oder? Der Chef mochte einen erfahrenen Genetik-Ingenieur gebrauchen können. Wenn ich es mir genau überlegte, hatte ich keine Ahnung von den Bedürfnissen meines Chefs, außer auf dem kleinen Gebiet das ich für ihn beharkte.) „Meinst du das ernst, dich bei meinem Chef um eine Stelle bewerben zu wollen? Was soll ich ihm sagen?“

Georges setzte sein sanftes Beinahe-Lächeln auf das er zur Abschirmung benutzt, wie ich mein Paßbild-Gesicht einsetze. „Woher soll ich das wissen?

Über deinen Chef weiß ich nur, daß du nicht gern über ihn sprichst und daß er es sich leisten kann, ein Wesen von deiner Art als Boten einzusetzen. Dabei kann ich vielleicht noch besser als du absehen, welche Investition dein Entwurf, deine Aufzucht und dein Training darstellt … und schließe daraus, welche Summe dein Chef für deine Auslösung investiert haben muß …“

„Ich bin nicht gebunden. Ich bin eine Freie Person.“

„Dann hat es ihn sogar noch mehr gekostet. Was gewisse Rückschlüsse zuläßt. Schon gut, meine Liebe.

Ich werde nicht weiter herumraten. Ob ich es ernst meine? Manchmal fragt man sich schon sehr, was hinter der nächsten Bergkette liegt. Ich werde dir meinen Lebenslauf aufschreiben; wenn darin etwas enthalten ist, das deinen Chef interessieren könnte wird er es mich sicher wissen lassen. Nun zum Geld … Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, daß du Janet auf der Tasche liegst; Geld bedeutet ihr nichts.

Ich aber bin mehr als bereit, dir alle gewünschten Beträge über meine Kreditkarte zur Verfügung zu stellen — und ich habe bereits herausgefunden, daß meine Karten hier trotz aller möglichen politischen Ärgernisse Gültigkeit haben. Ich benutzte Crédit Québec um für unser mitternächtliches Frühstück zu bezahlen, ich registrierte uns in dieser Schenke mit American Expreß und verwendete schließlich Maple Leaf um unsere andere Mahlzeit zu begleichen. Folglich habe ich drei gültige Karten, die alle auf meinen rich-tigen Namen ausgestellt sind.“ Er grinste mich an.

„Also leg dich auf meine Tasche, hübsches Mädchen!“

„Aber dir möchte ich ebensowenig zur Last fallen wie Janet. Hör mal! Wir können meine Karte in San José ausprobieren; wenn das nicht klappt, borge ich mir gern das nötige Kleingeld bei dir — und ich kann dir das Geld dann überweisen, sobald ich mich zurückgemeldet habe.“ (Oder wäre Georges wohl bereit, für mich einen kleinen Schwindel mit Lieutenant Dickeys Kreditkarte zu inszenieren? — Es ist verdammt schwer für eine Frau, mit einer auf einen Mann ausgestellten Karte Geld abzuheben. Für etwas zu bezahlen, indem man die Karte in einen Schlitz steckt, war eine Sache, aber eine Barabhebung vorzunehmen, stellte sich doch ganz anders dar.)

„Wozu sprichst du von Rückzahlung? Wo ich doch ewig in deiner Schuld stehe.“

Ich tat begriffsstutzig. „Glaubst du wirklich, du schuldest mir etwas? Nur wegen gestern abend?“

„Ja. Du warst ganz ordentlich.“

Mir stockte der Atem. „Oh!“

Ohne zu lächeln, antwortete er: „Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich dich als ›mangelhaft‹ bezeichnet hätte?“

Ich nahm mich zusammen. „Georges, zieh dich aus! Ich nehme dich jetzt wieder ins Bett und bringe dich dann langsam um. Ich drücke dir die Kehle zu und breche dir an drei Stellen das Rückgrat. ›Ganz ordentlich‹! ›Mangelhaft‹!“

Er grinste und begann sich auszuziehen.

„Ach, hör damit auf und küß mich!“ forderte ich.

„Dann fahren wir nach San José. ›Mangelhaft‹! Na wie war das Urteil denn nun?“ Die Fahrt von Bellingham nach San José dauerte beinahe so lange wie die Reise von Winnipeg nach Vancouver; diesmal aber fanden wir Sitzplätze. Gegen vierzehn-fünfzehn kamen wir wieder an die Erdoberfläche. Ich blickte mich interessiert um, denn es war mein erster Besuch in der Hauptstadt der Konföderation.

Als erstes fiel mir die große Zahl von AAF auf, die wie Fliegen überall herumschwirrten — die meisten als Taxis. Mir ist keine andere moderne Stadt bekannt, die ihren Luftraum in diesem Umfang verseuchen läßt. Die Straßen waren überladen mit Pferdedroschken, und an jeder Straße führten Bürgersteige entlang; trotzdem erblickte man die angetriebenen Störenfriede überall — wie Fahrräder in Kanton.

Dann ging mir auf, wie sich San José anfühlte. Es handelte sich nicht um eine Stadt. Jetzt endlich begriff ich die klassische Beschreibung: „Tausend Dörfer auf der Suche nach einer Stadt.“

San José hat im Grunde keine Daseinsberechtigung außer der Politik. Kalifornien aber macht mehr aus der Politik als jedes andere Land, das ich kenne — eine schamlose, rückhaltlose Demokratie reinsten Wassers. Demokratien findet man mancherorts — beispielsweise gibt es sie in Neuseeland in abgewandelter Form. Doch nur in Kalifornien findet man die reinste, 200prozentige, unverwässerte Demokratie.

Ins stimmberechtigte Alter kommt jeder Bürger, der groß genug ist, den Hebel zu bedienen, ohne vom Kindermädchen gestützt zu werden, und die Behörden nehmen einem Kalifornier das Stimmrecht höchst ungern — da muß man schon mit einer eidesstattlichen Krematoriumsbestätigung kommen.Was das bedeutete, wurde mir erst klar, als ich in einem Wahlbericht las, daß der Friedhof im Prehoda Patience Park in drei Wahlbezirke eingeteilt ist, wo die Hingeschiedenen ausnahmslos durch vorherbestimmte Vertreter wählen dürfen. („Tod, wo ist dein Stachel?“)

Ich will mich mit meinem Urteil zurückhalten, da ich schon erwachsen war, als ich zum erstenmal mit der Demokratie in ihrer milderen, gutartigen Form in Berührung kam. Vermutlich ist gegen die Demokratie nichts zu sagen, wenn sie zurückhaltend angewendet wird. Die Britisch-Kanadier benutzen eine abgewandelte Form und scheinen damit ganz gut zurechtzukommen. Nur in Kalifornien sind alle davon trunken.

Kein Tag scheint zu vergehen, da nicht irgendwo in Kalifornien eine Wahl stattfindet, und in jedem Bezirk gibt es (so sagte man mir) etwa einmal im Monat eine Wahl für diesen oder jenen Zweck.

Vermutlich kann man sich das dort leisten. Kalifornien verfügt auf dem weiten Weg zwischen BritischKanada und dem Mexikanischen Königreich über ein mildes Klima und besitzt einige der fruchtbarsten landwirtschaftlichen Zonen der Erde. Der zweitbeliebteste Sport — Sex — kostet in seiner Urform beinahe nichts; wie Marihuana ist er überall reichlich zu haben. So hat man Zeit und Energie für den kalifornischen Lieblingssport: das Gerede über die Politik.

Jedermann wird gewählt, von der Kantinenhilfe im Polizeipräsidium bis hinauf zum Ersten Konföderierten („Häuptling“ genannt). Aber beinahe ebenso schnell werden diese Mandatsträger auch wiederabgewählt. So soll der Häuptling beispielsweise sechs Jahre im Amt bleiben. Von den letzten neun Häupt-lingen hielten aber nur zwei diese Amtszeit durch; die anderen wurden des Amtes enthoben — außer einem, der der Lynchjustiz zum Opfer fiel. In vielen Fällen ist ein Amtsträger noch nicht einmal vereidigt worden, wenn bereits der erste Abberufungsantrag auf den Weg gebracht wird.

Die Kalifornier beschränken sich aber nicht darauf ihre Myriaden von Beamten zu wählen, aus dem Amt zu entfernen, anzuzeigen und (manchmal) zu lynchen; sie üben auch direkten Einfluß auf die Legislative aus. Bei jeder Wahl stehen mehr vorgeschlagene Gesetze auf dem Stimmzettel als Kandidaten. Die Provinz- und Nationalabgeordneten zeigen darin noch etwas Zurückhaltung — man hat mir versichert daß ein durchschnittlicher kalifornischer Abgeordneter eine Gesetzesvorlage zurückzieht, wenn man ihm beweisen kann, daß Pi nicht gleich drei sein kann, egal wie viele dafür stimmen. Die Gesetzgebung von der Basis aus („die Initiative“) kennt solche Einschränkung nicht.

So fiel beispielsweise vor drei Jahren einem Ökonomen von der Basis auf, daß die Universitätsabgänger im Durchschnitt etwa dreißig Prozent mehr verdienten als ihre Mitbürger, die solche Abschlüsse nicht vorzuweisen hatten. Derartige undemokratische Verhältnisse waren im Rahmen des Kalifornischen Traums nicht zu dulden. Folglich wurde in größter Hast für die nächste Wahl eine Initiative eingeleitet, die Vorschrift zu erlassen, wonach alle kalifornischen Oberschulabgänger und/oder kalifornischen Bürger, die achtzehn wurden, automatisch einen Universitätsabschluß zugesprochen erhielten. Eine Großvaterklausel datierte diese Höherstufung um acht Jahre zurück.Diese Maßnahme zeitigte beste Ergebnisse; die Inhaber solcher Abschlüsse genossen nun keine undemokratischen Vorteile mehr. Bei der nächsten Wahl wurde die Großvaterklausel auf zwanzig Jahre rückwirkend erweitert, und es gibt eine mächtige Bewegung, die den Bonus allen Bürgern zukommen lassen will.

„Vox populi, vox Dei.“ Ich sehe darin nichts Falsches. Der wohltätige Schritt, den ich eben beschrieben habe, kostet nichts und macht alle (mit Ausnahme weniger Querköpfe) glücklich.

Gegen fünfzehn Uhr schlenderten Georges und ich an der Südseite des Nationalplatzes entlang, vor der Front des Palastes, in dem der Häuptling regiert; unser Ziel war die Hauptverwaltung von Master Charge. Georges versicherte mir gerade, daß er nichts dagegen habe, wenn ich an einem Burger King Station machen wolle, um anstelle eines Mittagessens nur einen kleinen Bissen zu mir zu nehmen — und er betonte, seiner Meinung nach stelle der Riesenburger anständig zubereitet aus Sirloin-Ersatz, und das Schokoladenmalzgetränk, mit einem Minimum an Kreide versetzt, Kaliforniens einzigen Beitrag zur internationalen Haute Cuisine dar.

Verhalten aufstoßend gab ich ihm recht. Eine Gruppe von Frauen und Männern, etwa zwanzig kamen die breite Treppe vor dem Palast herab, und Georges war schon ein wenig abgebogen, um nicht mit den Leuten zusammenzustoßen, als mir bei einem kleinen Mann in der Mitte der mit Adlerfedern verzierte Kopfschmuck auffiel. Schon fiel mein Blick auf das oft photographierte Gesicht darunter, und ichhielt Georges mit einer Hand zurück.

Und machte aus dem Augenwinkel eine Beobachtung: eine Gestalt, die oben an der Treppe hinter einer Säule hervorkam.

Dies war der Auslöser. Ich stieß den Häuptling rücklings auf die Treppe, wozu ich einige seiner Helfer aus dem Weg befördern mußte, und hastete zu der Säule empor.

Ich tötete den Mann nicht, der dahinter gelauert hatte; ich brach ihm lediglich den Arm, mit dem er die Waffe hielt, und versetzte ihm einen ziemlich hoch plazierten Tritt, als er zu fliehen versuchte. Bei meiner Aktion hatte ich es nicht so eilig wie tags zuvor. Nachdem ich das Ziel möglichst klein gemacht hatte (dieser Kopfschmuck war wirklich zu auffällig!), hatte ich Zeit, mir zu überlegen, daß uns der Angreifer, wenn wir ihn lebendig fingen, einen Hinweis auf die Hintermänner der sinnlosen Tötungen geben könnte.

Aber was ich sonst noch getan hatte, ging mir erst auf, als zwei Hauptstadtpolizisten mich an den Armen festhielten. Die Erkenntnis überkam mich ziemlich spät; niedergeschlagen stellte ich mir den Ton der Verachtung vor, in dem der Chef mit mir sprechen würde, wenn ich ihm eingestehen mußte, daß ich mich in aller Öffentlichkeit hatte verhaften lassen. Einen Sekundenbruchteil lang spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, mich loszureißen und am Horizont zu verschwinden — was nicht unmöglich war, da der eine Beamte sichtlich unter hohem Blutdruck litt und der andere schon älter war und eine Brille trug.

Zu spät. Wenn ich jetzt in voller Supermotorik ausrückte, würde ich mit ziemlicher Sicherheit entkom-men und mich unter die Menge mischen können.

Aber diese Tolpatsche würden zweifellos auf mich schießen und dabei ein halbes Dutzend unschuldige Anwesende verbrennen. Profis waren das nicht!

Warum hatte die Palastwache den Häuptling nicht beschützt, anstatt diese Aufgabe mir zu überlassen?

Ein Mann, der hinter einer Säule lauerte — um Himmels willen! So etwas war seit der Ermordung Huey Longs nicht mehr passiert.

Warum hatte ich mich nicht um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert und es zugelassen, daß der Mörder den Ersten Konföderierten mit seinem dummen Kopfputz niederstreckte? Weil ich ausschließlich auf defensive Kriegsführung trainiert bin, das ist der Grund, und weil ich folglich aus dem Reflex heraus kämpfe. Ich habe kein Interesse am Kämpfen, es gefällt mir nicht — es passiert einfach.

Ich hatte keine Gelegenheit, mir zu überlegen, wie ratsam es gewesen wäre, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, weil Georges sich sofort um die meinen zu kümmern begann. Georges spricht ein akzentfreies (wenn auch umständlich wirkendes) Brit-Kan-Englisch; jetzt stotterte er unverständliche französische Sätze und versuchte die beiden Prätorianer von mir fortzuziehen.

Der Beamte mit der Brille ließ meinen linken Arm los, um Georges abzuwehren, und sofort versetzte ich ihm einen Ellbogenhieb gegen das Brustbein. Pfeifend ließ er den Atem heraus und klappte zusammen. Da der andere meinen rechten Arm noch nicht losgelassen hatte, piekste ich ihm mit drei Fingern meiner linken Hand in dieselbe Stelle, woraufhin er ebenfalls keuchend ausatmete und sich über seinen Kollegenlegte. Beide erbrachen sich.

Dies alles geschah viel schneller, als es sich berichten läßt, das heißt, die Beamten packten mich, Georges schaltete sich ein, und ich war wieder frei. Zwei Sekunden? Wie lange es auch dauerte, der Mörder war verschwunden und hatte seine Waffe mitgenommen.

Ich wollte ebenfalls verschwinden, und zwar mit Georges, und wenn ich ihn hätte tragen müssen — aber da ging mir auf, daß Georges die Entscheidung für mich bereits getroffen hatte. Seine Hand umfaßte meinen rechten Ellbogen, und er führte mich entschlossen auf den Haupteingang des Palastes zu, der unmittelbar hinter der Säulenreihe lag. Als wir die Rotunde erreichten, ließ er meinen Arm los und sagte leise: „Langsamer Marsch, mein Liebling — ruhig, gelassen! Hak dich unter!“

Ich kam der Aufforderung nach. In der Rotunde herrschte ziemlich viel Betrieb, doch es gab keine Aufregung; nichts deutete darauf hin, daß wenige Meter entfernt ein Anschlag auf das Leben des führenden Beamten im Lande hatte verübt werden sollen. An den Buden, die die Rotunde säumten, gingen die Geschäfte gut, besonders an den Wettannahmestellen. Unmittelbar links von uns verkaufte eine junge Frau Lotterielose — vielleicht sollte ich sagen, sie hielt sich dazu bereit, denn sie hatte im Augenblick keinen Kunden, sondern verfolgte auf ihrem Bildschirm ein läppisches Allerweltsdrama.

Georges drehte uns zur Seite und blieb vor dem Stand stehen. Ohne den Kopf zu heben, sagte die Frau: „Gleich kommt Werbung, dann bediene ich Sie.

Sehen Sie sich nach Belieben schon mal um!“ Der Stand war mit Girlanden aus Lotterielosen geschmückt. Georges begann sie zu untersuchen, und auch ich heuchelte großes Interesse. Wir nutzten die Zeit; gleich darauf begann die Werbung; die junge Frau stellte den Ton leiser und wandte sich zu uns um.

„Vielen Dank für Ihre Geduld“, sagte sie mit freundlichem Lächeln. „Ich versäume keine Folge von Die Leiden einer Frau, besonders jetzt nicht, wo Mindy Lou wieder schwanger ist und Onkel Ben sich so störrisch anstellt. Haben Sie auch ein Faible fürs Theater Schatz?“

Ich gab zu, daß ich dazu selten Zeit habe — meine Arbeit nehme mich zu sehr in Anspruch.

„Wirklich schade; man kann sich ungeheuer bilden.

Beispielsweise Tim — das ist mein Zimmergenosse der schaut sich nur Sport an. Und hat keinen Sinn für die schöneren Dinge des Lebens. Zum Beispiel diese Krise in Mindy Lous Leben. Onkel Ben ist nur deswegen so sauer auf sie, weil sie ihm nicht sagen will wer der Vater ist. Glauben Sie, Tim schert sich darum? — O nein. Was weder Tim noch Onkel Ben wissen, ist der Umstand, daß sie gar nichts verraten kann weil es bei einer Bezirks-Wahlversammlung passiert ist. Und da war was los, oijoijoi! — In welchem Sternzeichen sind Sie geboren, Schatz?“

Auf diese Frage muß ich mir eine Antwort zurechtlegen; sie wird mir von Menschen immer wieder gestellt. Aber wenn man nicht geboren wurde, scheut man vor solchen Dingen unwillkürlich zurück. Ich suchte mir ein Datum aus und bediente sie damit:

„Ich wurde am dreiundzwanzigsten April geboren.“

Das war Shakespeares Geburtstag; etwas anderes fielmir auf die Schnelle nicht ein.

„Oho! Und ob ich das richtige Los für Sie habe!“ Sie blätterte eine der Maibaumdekorationen durch, fand ein Los und zeigte mir eine Nummer. „Sehen Sie das?

Und Sie sind einfach hergekommen, und ich hatte das Ding da! Dies ist Ihr Tag!“ Sie löste das Los von der Verzierung. „Das wären zwanzig Braune.“

Ich reichte ihr einen Brit-Kan-Dollar. „Das kann ich leider nicht wechseln“, gab sie zurück.

„Behalten Sie das Wechselgeld. Vielleicht bringt’s mir Glück.“

Sie reichte mir das Los und nahm den Dollar. „Sie sind ein echter Kumpel, Schätzchen. Wenn Sie Ihren Gewinn kassieren, kommen Sie doch mal vorbei dann trinken wir einen miteinander. Mister, haben Sie schon eine passende Nummer gefunden?“

„Noch nicht. Ich wurde am neunten Tag des neunten Monats des neunten Jahres in der neunten Dekade geboren. Werden Sie damit fertig?“

„Ohh-ohho! Was für eine tolle Kombination! Ich kann es versuchen — und wenn ich es nicht schaffe verkaufe ich Ihnen auch nichts.“ Sie durchwühlte ihre Stapel und Fähnchen aus Papier und summte dabei vor sich hin. Dann verschwand sie mit dem Kopf unter der Tischkante und blieb auch eine Weile außer Sicht.

Schließlich tauchte sie mit rotem Gesicht wieder auf und hob triumphierend ein Los in die Höhe. „Da!

Schauen Sie sich das an, Mister! Beifall bitte!“

Wir schauten auf das Los: 8109999.

„Ich bin beeindruckt“, sagte Georges.

„›Beeindruckt‹? Sie sind reich. Da hätten Sie Ihre vier Neunen. Addieren Sie mal die anderen Ziffern — ergibt nochmal neun. Teilen Sie die abweichenden Ziffern durch neun — wieder neun. Addieren Sie die letzten vier — sechsunddreißig. Addieren Sie alles auf einmal, sind es fünf Neunen. Nehmen Sie die erste Summe weg, haben Sie wieder vier Neunen. Egal was Sie machen, sie kommen immer wieder auf Ihren Geburtstag. Was wollen Sie mehr, Mister? PlayboyHäschen?“

„Wieviel bin ich Ihnen schuldig?“

„Das ist eine ganz spezielle Nummer. Jede andere Nummer am Stand bekommen Sie für zwanzig Braune. Die aber … warum stapeln Sie nicht einfach die Scheinchen vor mir auf, bis ich lächele?“

„Fairer Vorschlag. Wenn Sie dann nicht lächeln sobald ich der Meinung bin, Sie sollten es tun, nehme ich das Geld und gehe weiter, ja?“

„Vielleicht rufe ich Sie dann zurück.“

„Nein. Wenn Sie mir keinen festen Preis nennen wollen, lasse ich Sie nicht herumspielen, nachdem ich ein faires Angebot gemacht habe.“

„Sie sind ein harter Knochen. Ich …“

Plötzlich dröhnte aus Lautsprechern ringsum die Hymne Hail to the Chief, gefolgt von Hoch dem Goldenen Bären. Die junge Frau rief: „Warten Sie! Das ist gleich vorbei!“ Von draußen strömten Menschen herein, durchschritten die Rotunde und verschwanden auf dem Hauptkorridor. Ich konnte den Kopfschmuck aus Adlerfedern erkennen, der sich in der Mitte der Gruppe bewegte, diesmal aber war der Erste Konföderierte so eng von seinen Parasiten umgeben, daß ein Mörder Mühe gehabt hätte, ihn zu treffen.

Als man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte,sagte die Losverkäuferin: „Das ging diesmal aber schnell. Vor knapp fünfzehn Minuten ist er erst nach draußen gegangen. Wenn er an der Ecke nur ein paar Haschzigaretten kaufen wollte, warum hat er sich die nicht holen lassen? Dieser Lärm ist schlecht fürs Geschäft. Nun zu uns, mein Freund, haben Sie es sich überlegt, wieviel Sie fürs Reichwerden zahlen wollen?“

„Aber ja!“ Georges zog eine Drei-Dollar-Note aus der Tasche und legte sie auf den Tresen. Dann schaute er die Frau an.

Die beiden musterten sich etwa zwanzig Sekunden lang unverwandt, dann sagte sie bedrückt: „Ich lächle ja schon, ich glaub’ wenigstens, ich lächle.“ Sie nahm mit der einen Hand das Geld und reichte George mit der anderen das Los. „Ich wette, ich hätte Ihnen noch einen Dollar abschwatzen können.“

„Das werden wir nie wissen, oder?“

„Einmal abheben, doppelt oder nichts?“

„Mit Ihren Karten?“ fragte Georges leise.

„Freund, Sie machen mich zur alten Frau. Verduften Sie, ehe ich es mir anders überlege!“

„Toiletten?“

„Den Korridor hinab, dann links.“ Sie fügte hinzu:

„Verpassen Sie die Ziehung nicht.“

Auf dem Weg zur Toilette unterrichtete mich Georges leise auf Französisch, daß während der Schacherei Gendarmen hinter uns vorbeigekommen und in der Toilette verschwunden wären; sie wären dann in die Rotunda zurückgekehrt und den Hauptkorridor entlanggegangen.

Ich unterbrach ihn, wobei ich ebenfalls Französisch sprach: ich wisse Bescheid, aber hier gäbe es garan-tiert zu viele Augen und Ohren, also sollten wir uns später unterhalten.

Dabei unterschätzte ich seine Beobachtungsgabe nicht. Ganz dicht hinter uns waren zwei uniformierte Wächter ins Gebäude gekommen — nicht die beiden mit den Magenproblemen. Sie waren an uns vorbeigeeilt und hatten die Toiletten überprüft — das war logisch, denn Amateure versuchen sich oft an solchen öffentlichen Orten zu verstecken. Sie waren dann wieder herausgekommen und ins Innere des Palastes geeilt. Georges hatte sich gelassen am Losstand zu schaffen gemacht, während die nach uns suchenden Wächter zweimal dicht an uns vorbeigekommen waren. Er verhielt sich da ziemlich profihaft, das muß ich sagen.

Aber das konnte ich ihm nicht gleich auf die Nase binden. Am Eingang der Toilette verkaufte eine Person unbestimmbaren Geschlechts die Eintrittskarten.

Ich fragte sie (ihn), wo sich denn Frauen frischmachen könnten. Sie (ich entschied mich für „sie“, als eine genauere Beobachtung ergab, daß das T-Shirt entweder aufgeblasen war oder kleine Milchdrüsen verdeckte) antwortete verächtlich: „Sind Sie irgendwie quer? Wollen Unterschiede machen, was? Ich sollte ’n Bullen holen!“ Dann betrachtete sie mich genauer. „Sie sind ja Ausländerin.“

Ich gestand es ein.

„Na schön. Aber reden Sie nur nicht so; die Leute mögen das nicht. Wir sind hier demokratisch, verstehen Sie — Stecker und Steckdosen benutzen hier dieselben Anschlüsse. Jetzt kaufen Sie mal Ihre Karte damit Sie den Eingang nicht länger blockieren.“

Georges erstand zwei Karten, und wir traten ein.Rechts erstreckte sich eine Reihe offener Kabinen.

Darüber schwebte eine Holographie:

DIESE EINRICHTUNG STEHT IHNEN FÜR IHRE

GESUNDHEIT UND

ANNEHMLICHKEIT KOSTENLOS ZUR VERFÜGUNG!

AUF ANORDNUNG DER KALIFORNISCHEN

KONFÖDERATION

JOHN „KRIEGSSCHREI“ TUMBRIL ERSTER KONFÖDERIERTER

Darüber schwebte eine lebensgroße Holographie des Häuptlings.

Hinter den offenen Kabinen gab es Münzkabinen mit Türen; dahinter Türen, die durch Vorhänge verschlossen waren. Links entdeckten wir einen Verkaufsstand, dem eine Person von ganz klarer Geschlechtlichkeit vorstand, die ins Männliche wies.

Georges blieb davor stehen und kaufte zu meiner Überraschung mehrere kosmetische Mittel und eine Flasche billiges Parfum. Dann erbat er eine Karte für eines der Umkleidezimmer am Ende.

„Eine Karte?“ Die Frau musterte ihn eingehend.

Georges nickte. Sie schürzte die Lippen. „Ungezogen ungezogen. Daß Sie mir nichts anstellen, Sie Hengst Sie!“

Georges antwortete nicht. Ein Brit-Kan-Dollar wechselte aus seiner Hand in die ihre und verschwand. Leise sagte sie: „Machen Sie nicht zu lange!

Wenn ich den Summer bediene, sollten Sie schleunigst die Hosen hochziehen. Nummer sieben, ganz rechts.“

Wir begaben uns zu Nummer sieben, die ganz am Ende lag. Georges schloß die Vorhänge, zog die Reiß-verschlüsse zu und drehte dann das kalte Wasser auf soweit es ging. Auf Französisch kündigte er mir an daß wir nun unser Aussehen verändern würden, ohne uns zu verkleiden. Ich solle also ein Schatz sein die Sachen ausziehen, die ich am Leibe hätte, und in den Einteiler aus meinem Köfferchen steigen.

Er vertiefte seine Erklärungen noch, wobei er Französisch und Englisch mischte und immer wieder das Wasser rauschen ließ. Ich sollte die skandalöse Superhaut tragen und mehr Make up als normal, mit dem Ziel, wie die berühmte Hure von Babylon auszusehen oder zumindest so ähnlich. „Ich weiß, daß das nicht dein Metier ist, geliebtes Mädchen, aber versuch es mal!“

„Ich will sehen, ob ich mich auch dabei ›ganz ordentlich‹ schlagen kann.“

„Autsch!“

„Und du willst Janets Sachen anziehen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie passen.“

„Nein, nein, ich kostümiere mich nicht. Ich mache nur einen kleinen Schlenkerich hinein.“

„Wie bitte?“

„Ich ziehe keine Frauenkleider an; ich will lediglich versuchen, weibisch auszusehen.“

„Das gibt’s doch nicht! Na schön, versuchen wir’s!“

An mir veränderten wir nicht viel — ich zog den Einteiler über, der ständig naß zu schimmern schien: schon Ian hatte sich dafür begeistert, außerdem reichlich Make up, das Georges mir anbrachte; er schien anzunehmen, daß er mehr davon verstehe als ich (das stellte sich als begründete Ansicht heraus), und sobald wir draußen waren, rundete ich das Bild mit dem entsprechenden Gang ab: Hier-ist-es-hol-es-dir!Für sich selbst brauchte Georges weitaus mehr Make up als für mich, außerdem stäubte er sich mit dem widerlichen Parfum ein (das er mir zum Glück nicht anbot), und band sich ein auffälliges orangerotes Tuch um, das ich bisher als Gürtel benutzt hatte.

Er ließ sich von mir das Haar toupieren und mit Spray haltbar machen. Das war alles — außer einem Wechsel im Verhalten. Er sah noch immer wie Georges aus, hatte aber keine Ähnlichkeit mehr mit dem lüsternen Bock, der mich noch letzte Nacht auf herrliche Weise bis zur Erschöpfung geritten hatte.

Ich packte meine Tasche neu, und wir machten uns auf den Weg. Die alte Ziege am Verkaufsstand riß die Augen auf und hielt den Atem an, als sie mich erblickte. Aber sie sagte nichts, denn im gleichen Augenblick richtete sich ein Mann auf, der am Tresen gelehnt hatte, deutete auf Georges und sagte: „Sie!

Der Häuptling will mit Ihnen sprechen!“ Dann fügte er ziemlich leise hinzu: „Das kann doch nicht wahr sein!“

Georges blieb stehen und machte eine hilflose Bewegung mit beiden Händen. „Ach du meine Güte!

Das muß ein Irrtum sein!“

Der Breitschultrige biß einen Zahnstocher durch auf dem er herumgekaut hatte und antwortete: „Ich glaube es auch beinahe, Bürger — aber ich werde es Ihnen nicht bestätigen. Sie kommen jedenfalls mit! Sie nicht, Schwester.“

„Ich gehe nirgendwohin ohne meine liebe Schwester“, sagte Georges bestimmt. „Also?“

Die dicke Kuh sagte: „Morrie, sie kann doch hier warten. Schätzchen, kommen Sie zu mir hinter den Tresen! Setzen Sie sich zu mir!“ Georges schüttelte kaum merklich den Kopf, doch ich brauchte sein Signal nicht. Wenn ich blieb, würde sie mich entweder sofort wieder in den Umkleideraum zerren, um an mir herumzufingern, oder ich stopfte sie mit dem Kopf voran in ihren Mülleimer.

Auf wen ich mein Geld gewettet hätte, war mir klar.

Im Dienst lasse ich mich notfalls noch auf solchen Unsinn ein — sie wäre bestimmt nicht so unerträglich gewesen wie „Rocky“ Rockford —, aber freiwillig lief da nichts. Wenn und falls ich die Schiene wechsle dann mit jemandem, den ich mag und respektiere.

Ich rückte näher dichter an Georges heran und nahm seinen Arm. „Seit mir Mama auf ihrem Totenbett das Versprechen abgenommen hat, mich um ihn zu kümmern, sind wir nicht getrennt gewesen“, sagte ich und fügte hinzu: „Also?“ Wir beide hatten schmollend die Lippen vorgeschoben und blickten störrisch in die Runde.

Morrie schaute mich an, dann Georges und seufzte.

„Na, was soll’s? Kommen Sie halt mit, Schwester.

Aber halten Sie die Klappe und bleiben Sie mir vor den Füßen weg!“

Etwa sechs Wachtposten später — jedesmal versuchte man mich von Georges zu trennen — wurden wir vor den Höchsten geführt. Mein erster Eindruck vom Ersten Konföderierten lief darauf hinaus, daß er wohl größer war, als ich bisher angenommen hatte.

Dann erst kam ich zu dem Schluß, es lag daran, daß er den Federschmuck abgelegt hatte. Mein zweiter Eindruck bestätigte, daß er unansehnlicher wirkte, als Photos, Karikaturen und Terminal-Bilder ihn darstellten — eine Einschätzung die Bestand haben sollte.

Wie so manchem Politiker vor ihm war es Tumbrilgelungen, eine auffällige Häßlichkeit zu einem politischen Vorteil umzumünzen.

(Ist Häßlichkeit Vorbedingung für ein Staatsoberhaupt? Wenn ich mir die Geschichte so ansehe, finde ich keinen einzigen gutaussehenden Mann, der es in der Politik wirklich weit gebracht hätte — es sei denn wir gehen bis zu Alexander dem Großen zurück. Der allerdings hatte den Vorteil auf seiner Seite, daß schon sein Vater König war.)

Wie dem auch sein mochte, „Kriegsschrei“ Tumbril wirkte wie ein Frosch, der wie eine Kröte aussehen wollte und dies nur knapp nicht schaffte.

Der Häuptling räusperte sich. „Was macht Sie denn hier?“

Hastig sagte Georges: „Sir, ich muß mich auf das Ernsthafte beschweren! Dieser Mann … Dieser Mann …“ — er deutete auf den Zahnstocherkauer — „versuchte mich von meiner lieben Schwester zu trennen!

Man muß ihn tadeln!“

Tumbril warf einen Blick auf Morrie, dann musterte er mich und schließlich wieder seinen Parasiten. „Haben Sie das wirklich getan?“

Morrie versicherte, er habe es nicht getan, doch selbst wenn, so hätte er es nur versucht, weil er der Meinung gewesen sei Tumbril habe es angeordnet aber auf jeden Fall habe er gedacht …

„Sie sollen nicht denken!“ bestimmte Tumbril.

„Wir unterhalten uns später noch. Und warum laßt ihr die beiden stehen? Holt einen Stuhl! Muß ich denn hier an alles denken?“

Sobald ich einen Sitzplatz hatte, wandte sich der Häuptling wieder Georges zu. „Sie haben da vorhin wirklich mutig gehandelt. Ja, Sir, sehr mutig. Diegroße Nation Kalifornien ist wirklich stolz, solche Söhne hervorgebracht zu haben. Wie heißen Sie?“

Georges nannte seinen Namen.

„›Payroll‹ ist ein stolzer kalifornischer Name, Mr.

Payroll; dieser Name scheint überall in unserer edlen Geschichte auf, angefangen von den Rancheros, die das Joch Spaniens abwarfen, bis hin zu den mutigen Patrioten, die das Joch der Wall Street loswurden.

Hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie ›George‹ nenne?“

„Ganz und gar nicht.“

„Sie können ›Kriegsschrei‹ zu mir sagen. Das ist die krönende Schönheit unserer großen Nation, George; wir sind alle gleich.“

Plötzlich hörte ich mich fragen: „Ist das auch auf Künstliche Personen anwendbar?“

„Wie?“

„Ich fragte nach Künstlichen Personen, die Wesen die in Berkeley und Davis hergestellt werden. Sind die auch wirklich gleich?“

„Äh … junge Dame, Sie sollten wirklich nicht dazwischenreden, wenn Ihre Vorderen sich unterhalten.

Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wie kann die menschliche Demokratie auf Kreaturen anwendbar sein, die keine Menschen sind? Würden Sie einer Katze das Stimmrecht geben wollen? Oder einem FordAAF? Antworten Sie!“

„Nein, aber …“

„Na bitte. Alle sind gleich, und jeder hat eine Stimme. Aber irgendwo muß man die Grenze ziehen.

Jetzt halten Sie aber den Mund, verdammt! Stören Sie uns nicht, während die Altvorderen sich absprechen!

George, was Sie da vorhin taten — also, wenn es derKerl wirklich auf mein Leben abgesehen gehabt hätte — das war nicht der Fall, vergessen Sie das nicht! — hätten Sie nicht besser den heldischen Traditionen unserer großartigen kalifornischen Konföderation entsprechen können! Wenn ich Sie so anschaue, bin ich von Stolz erfüllt!“

Tumbril stand auf und kam hinter seinem Tisch hervor. Die Hände auf dem Rücken verschränkend begann er auf und ab zu gehen — und ich erkannte warum er größer ausgesehen hatte als im Freien.

Er benutzte einen erhöhten Stuhl oder eine kleine Plattform hinter seinem Tisch. In natürlicher Größe reichte er mir etwa bis an die Schulter. Im Gehen schien er laut vor sich hin zu denken. „George, für einen Mann Ihres Mutes ist immer Platz in meiner Familie. Wer weiß — vielleicht kommt der Tag, da Sie mich vor einem Verbrecher retten, der mir wirklich schaden will. Ich spreche von ausländischen Agitatoren — von den mutigen Patrioten Kaliforniens habe ich nichts zu befürchten. Sie alle lieben mich wegen der Dinge, die ich in meiner Amtszeit im Achteckigen Büro getan habe. Andere Länder jedoch sind neidisch auf uns; sie mißgönnen uns unseren reichen, freien demokratischen Lebensstil, und manchmal gipfelt ihr schwelender Haß in Gewalt.“

Mit vorgeneigtem Kopf verharrte er einen Augenblick lang in ehrfürchtiger Bewunderung von irgend etwas, das ich nicht ausmachen konnte. „Zu den Preisen für das Privileg dieses Dienstes gehört allerdings eins“, sagte er feierlich, „ein Geschenk, das man in aller Bescheidenheit und voller Freude zu geben bereit sein muß. George, wenn von Ihnen verlangt würde, für das Leben des Ersten Verwalters Ihres Landesdas höchste Opfer zu bringen, würden Sie da zögern?

Antworten Sie!“

„Ich glaube schon“, antwortete Georges.

„Äh … Was?“

„Nun ja, wenn ich meine Stimme abgebe — ich tue das nicht oft —, spreche ich mich gewöhnlich für die Réunionisten aus. Der derzeitige Premierminister dagegen ist ein Revanchist. Ich glaube nicht, daß er mich in seiner Nähe dulden würde.“

„Wovon reden Sie da eigentlich, zum Teufel?“

„Je suis Québecois, Monsieur le Chef d’Etat. Ich komme aus Montréal.“

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