23. Kapitel

Als ich das Allerheiligste verließ, lief mir Goldie über den Weg. Da meine Laune nicht die beste war, nickte ich ihr nur zu. Natürlich galt mein Zorn nicht Goldie sondern dem Chef! Verdammt! Hochnäsiger, arroganter Voyeur! Ich ging in mein Zimmer und machte mich an die Arbeit, um mich abzureagieren.

Zuerst rief ich die Namen und Anschriften sämtlicher Shipstone-Firmen ab. Während die Liste ausgedruckt wurde, forderte ich Geschichtsübersichten zu dem gesamten Komplex. Der Computer nannte mir zwei Werke, eine offizielle Konzerngeschichte, verbunden mit einer Biographie Daniel Shipstones und eine inoffizielle Biographie, die mit dem Vermerk „Sensationsmache“ versehen war. Anschließend wies mich die Maschine auf etliche andere Quellen hin.

Ich instruierte das Terminal, mir beide Bücher auszudrucken und forderte Printouts anderer Quellentexte, wenn sie viertausend Worte oder weniger umfaßten; die längeren Texte sollten zusammengefaßt werden. Dann schaute ich mir die Firmenliste an:

Daniel Shipstone Grundbesitz Inc.

Muriel Shipstone Gedächtnis-Laboratorien Shipstone Tempe Shipstone Gobi Shipstone Aden Shipstone Sahara Shipstone Africa Shipstone Death Valley Shipstone KarrooShipstone Never-Never Shipstone L-4

Shipstone L-5

Shipstone Stationärstation Shipstone Tycho Shipstone Ares Shipstone Tiefsee Shipstone Forschungs Inc.

Sears Montgomery Inc.

Prometheus-Stiftung Coca Cola Holding Company Interworld Transport Corporation Hans-und-der-Bohnenstengel Pty.

Morgan Associates Kolonialgesellschaft Out Systems Billy Shipstone Behindertenschule Wolf Creek Pass Naturpark Año Nuevo Wildschutz Shipstone Museum und Schule für die Visuellen Künste Meine Begeisterung beim Betrachten dieser Liste hielt sich in Grenzen. Natürlich war mir bekannt gewesen daß das Shipstone-Imperium groß sein mußte — wer hat nicht ein halbes Dutzend Shipstone-Energieträger in Reichweite, die im Keller oder im Fundament des Hauses eingebauten Geräte gar nicht mal mitgerechnet? In diesem Augenblick aber wurde mir klar, daß eine Untersuchung dieses Ungeheuers ein ganzes Leben beanspruchen mochte. So sehr interessierte ich mich denn doch nicht für die Shipstones.

Ich tastete mich vorsichtig am Rand des Problems entlang, als Goldie hinter meiner Konsole erschienund mir mitteilte, daß es Zeit sei, sich den Hafersack umzuhängen. „Außerdem habe ich Anweisung, dafür zu sorgen, daß du am Tag nicht mehr als acht Stunden lang am Terminal sitzt und jedes Wochenende voll frei nimmst.“

„Aha, du tyrannischer Schweinehund!“

Wir machten uns auf den Weg zum Speisesaal.

„Freitag …“

„Ja, Goldie?“

„Du findest den Chef mürrisch und manchmal schwer zu ertragen.“

„Da muß ich dich berichtigen. Er stellt sich ständig schwierig an.“

„Hmm, ja. Aber du weißt nicht, daß er laufend Schmerzen hat.“ Sie fügte hinzu: „Er kann keine Mittel mehr dagegen nehmen.“

Stumm gingen wir nebeneinander her, während ich mit dieser Nachricht fertigzuwerden versuchte.

„Goldie? Was stimmt denn mit ihm nicht?“

„Im Grunde nichts. Ich würde sagen, er ist bei guter Gesundheit — für sein Alter.“

„Wie alt ist er?“

„Keine Ahnung. Nach Klatsch und Tratsch müßte er über hundert sein. Wieviel darüber weiß ich aber nicht.“

„O nein! Goldie, als ich meine Arbeit bei ihm aufnahm, kann er nicht mehr als siebzig gewesen sein! Er benutzte zwar Krücken, war aber noch sehr munter.

Er kam damit so schnell voran wie jeder andere auf seinen richtigen Beinen.“

„Nun ja … es ist nicht weiter wichtig. Du solltest aber daran denken, daß er Schmerzen hat. Wenn er dich grob behandelt, spricht daraus der Schmerz. Erhat eine hohe Meinung von dir.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ah … ich habe schon zuviel über meinen Patienten verraten. Gehen wir essen.“

Mein Studium galt dem Shipstone-Firmengeflecht nicht aber dem Shipstone-Energieträger. Einen Shipstone richtig zu studieren, hätte vorausgesetzt, daß ich wieder die Schulbank drückte, einen Doktor in Theoretischer Physik baute und meine Kenntnisse in Festkörperphysik und Plasmaphysik ausbaute, mir dann bei Shipstone einen Posten suchte und meine Vorgesetzten dermaßen von meiner Firmentreue und meinem Können überzeugte, daß sie mich über kurz oder lang in den inneren Kreis derjenigen aufnahmen, die die Herstellung der Shipstones in der Endphase überwachten.

Da dies eine etwa zwanzigjährige Entwicklung war, die ich schon in jungen Jahren hätte antreten müssen, ging ich davon aus, daß der Chef diesen Weg nicht für mich vorgesehen hatte.

So will ich denn aus der offiziellen oder Propaganda-Denkschrift zitieren: PROMETHEUS, eine Kurzbiographie und Übersicht über die Unvergleichlichen Erfindungen Daniel Thomas Shipstones, B. S., M. A. Dr. phil., Ll. D., L. H. D., und über das Wohltätige System, dessen Begründer er war.

… so erkannte der junge Daniel Shipstone sofort, daß das Problem nicht der Energiemangel war, sondern den Transport der Energie betraf. Energie gibt es überall — im Sonnenlicht, im Wind, in Bergbächen, in Temperaturunterschieden aller Art, wo immer sie auftreten, in der Kohle, infossilem Öl, in radioaktiven Erzen, in Grünpflanzen. Besonders in den Ozeantiefen und im Weltraum steht freie Energie in für die Menschheit unbegreiflichen Mengen zur Verfügung.

Wer von ›Energieknappheit‹ und ›Energiesparen‹ redete verstand die Situation nicht richtig. Die Energie regnete förmlich vom Himmel; was noch fehlte, war der geeignete Eimer, um sie aufzufangen.

Ermutigt durch seine ergebene Frau Muriel (geborene Greentree), die wieder eine Arbeitsstelle annahm, um das Essen auf den Tisch zu bringen, kündigte der junge Shipstone bei General Atomics und wurde zum amerikanischsten aller Mythenhelden, dem Kellererfinder. Sieben frustrierende und erschöpfende Jahre später hatte er von Hand den ersten Shipstone fertiggestellt. Es war ihm gelungen …

Es war ihm gelungen, eine Möglichkeit zu finden mehr Kilowattstunden in ein kleineres Volumen und eine kleinere Masse zu packen, als es je ein anderer Techniker vor ihm vermocht hatte. Das Ergebnis eine „verbesserte Speicherbatterie“ zu nennen (wie es in frühen Berichten geschah), kommt etwa dem Vergleich einer Wasserstoffbombe mit einem „verbesserten Feuerwerkskörper“ gleich. Die Folge seines Tuns war die Vernichtung der größten Industrie der westlichen Welt (wenn man einmal von der organisierten Religion absah).

Denn was nun geschah, muß ich aus der kritischen Darstellung und anderen unabhängigen Quellen belegen, da ich der Nettigkeit und Artigkeit der Firmenversion nicht so recht glauben kann. Erfundene Worte, Muriel Shipstone in den Mund gelegt: „Lieber Danny, du wirst dein Gerät nicht patentieren!

Was wurde dir das bringen? Höchstens siebzehn Jahre … und in drei Vierteln der Welt überhaupt keine Schutzfrist.

Würdest du das Ding patentieren lassen oder das auch nur versuchen, würden dich Edison und P. G. und E & Standard mit Einsprüchen und Prozessen wegen angeblicher Geschäftsschädigung belästigen, wer weiß, was da alles auf dich zukäme. Du hast aber selbst behauptet, daß man eines deiner Geräte dem besten Forschungsteam von G. A. übergeben könnte, wobei die Männer das Ding bestenfalls zerschmelzen und sich schlimmstenfalls in die Luft sprengen würden. Du hast das selbst gesagt. Hast du im Ernst gesprochen?“

„Aber ja doch. Wenn die Leute nicht wissen, wie sie das Einbringen des …“

„Nichts mehr! Ich will es nicht wissen. Außerdem haben Wände Ohren. Wir verzichten auf großartige Ankündigungen; wir beginnen einfach mit der Herstellung. An Orten, wo die Energie am billigsten ist. Wo wäre das?“

Der Sensationsautor schäumte förmlich vor Wut über das „grausame, herzlose Monopol“, das der Shipstone-Konzern in einem Bereich ausübte, der die Grundbedürfnisse „des kleinen Mannes“ allerorten befriedigte. Ich sah das nicht so. Shipstone und seine Firmen stellten etwas reichlich und preiswert zur Verfügung, das zuvor knapp und teuer gewesen war — ist das „grausam“ und „herzlos“?

Die Shipstone-Firmen haben kein Energiemonopol.

Sie besitzen keine Kohle und kein Öl und kein Uran und auch keine Wasserkraft. Sie pachten viele, viele Hektar Wüstenland … aber noch gibt es weitaus größere Wüstenflächen, deren Sonnenwärme nicht ge-nutzt wird. Und was das Weltall angeht, so ist es unmöglich, auch nur ein Prozent des Sonnenscheins zu verwenden, der innerhalb der Mondbahn ungenützt eingestrahlt wird, unmöglich bei einem Faktor von eins zu vielen Millionen. Rechnen Sie es sich selbst aus, sonst glauben Sie das Ergebnis vielleicht nicht!

Im erdnahen Raum gibt es eher zuviel Energie als zu wenig; weit mehr, als wir je verwenden könnten für unsere Zwecke auf der Erde.

Worin besteht also das Verbrechen?

Zwei Dinge:

a) Den Shipstone-Firmen wird vorgeworfen, der menschlichen Rasse Energie zu liefern, die billiger ist als die ihrer Wettbewerber.

b) In knauseriger und undemokratischer Weise weigern sie sich, das Geheimnis des letzten Zusammenbaus ihrer Shipstone-Energieträger weiterzugeben.

In den Augen vieler Leute ist diese Weigerung ein Kapitalverbrechen. Mein Terminal holte zahlreiche Zeitungskommentare heraus über „das Recht des Volkes, Bescheid zu wissen“, über „die Unverschämtheit der großen Monopole“ und ähnliche Zurschaustellungen rechtschaffener Entrüstung.

Der Komplex der Shipstone-Firmen ist riesig, das stimmt, aber er liefert ja auch billige Energie für Milliarden von Menschen, die billige Energie haben wollen, und zwar jedes Jahr mehr. Die Firmengruppe ist aber kein Monopol, weil sie keine Energie selbst besitzt; sie packt sie nur ab und verteilt sie überall dorthin, wo Menschen diese Ware benötigen. Jene Milliarden Kunden könnten den Shipstone-Verbund beinahe über Nacht in den Bankrott treiben, würdensie zu den alten Methoden zurückkehren — zur Verbrennung von Kohle, Holz, Öl und sogar Uran, dann zur Verteilung der Energie durch kontinentlange Kabel aus Kupfer oder Aluminium oder mit langen Zügen voller Kohle- und Tankwagen.

Soweit mein Terminal feststellen konnte, wollte allerdings niemand in die schlimme alte Zeit zurückkehren, da die Landschaft auf verschiedene Weise entstellt wurde und die Luft beladen war mit Gerüchen, krebserzeugenden Stoffen und Ruß, da die Menschen eine Heidenangst hatten vor der Atomkraft, und Energie in jeder Form knapp und teuer war. Nein, niemand möchte die schlimmen alten Zeiten zurückhaben — nicht einmal die radikalsten Beschwerdeführer möchten auf billige und allzeit verfügbare Energie verzichten — sie wollen einfach die Shipstone-Firmen — aus Neid — in der Versenkung verschwinden sehen.

„Das Recht des Volkes, Bescheid zu wissen“ — worüber denn? Daniel Shipstone, der umfangreiche Kenntnisse in höherer Mathematik und Physik erworben hatte, zog sich in seinen Keller zurück und ließ geduldig sieben magere, anstrengende Jahre über sich ergehen und stieß auf diese Weise auf einen nutzbar zu machenden Aspekt der Naturgesetze, der ihm den Bau eines Shipstone ermöglichte.

„Das Volk“ kann ihm das gern nachmachen — er hat ja nicht mal ein Patent angemeldet. Naturgesetze stehen jedermann gleichermaßen zur Verfügung, einschließlich den flöhegeplagten Neandertalern, die sich vor der Kälte zusammenkauerten.

In diesem Fall scheint mir „das Recht des Volkes Bescheid zu wissen“ auf fatale Weise an das „Recht“ eines Menschen zu erinnern, Konzertpianist zu sein — der aber nicht üben will.

Allerdings habe ich so meine Vorurteile, denn ich bin kein Mensch und habe nie Rechte gehabt.

Egal, ob Sie die überzuckerte Firmenversion oder die ätzende Sensationsbiographie vorziehen — die Grundtatsachen über Daniel Shipstone und die Shipstone-Firmen sind allgemein bekannt und unbestritten. Was mich aber überraschte (und sogar entsetzte) waren meine Erkenntnisse, als ich mich näher mit Besitzverhältnissen, Firmenleitung und dergleichen zu befassen begann.

Den ersten Hinweis fand ich im ersten grundlegenden Printout, auf dem im Rahmen des ShipstoneKonzerns Firmen aufgeführt waren, die den Namen „Shipstone“ nicht führten. Wenn man mal ’ne Coke trinkt — hat man Shipstone zu einem Geschäft verholfen!

Ian hatte mir gesagt, Interworld habe die Zerstörung Acapulcos angeordnet — heißt das, daß die Verwalter von Daniel Shipstones Nachlaß den Tod von einer Viertelmillion Unschuldiger angeordnet hatten?

Kann es sich dabei um dieselben Leute handeln, die die beste Krankenhausschule der Welt für behinderte Kinder verwalten. Und Sears Montgomery … Hölle ich selbst besaß einige Sears Montgomery-Aktien!

Trage auch ich durch solche Verkettung einen Teil der Schuld für die Vernichtung Acapulcos?

Ich programmierte die Maschine und ließ mir bildlich darstellen, wie die Geschäftsführungsverhältnisse innerhalb des Shipstone-Konzerns verzahnt waren anschließend rief ich die leitenden Posten ab, die vonden Direktoren von Shipstone-Firmen bei anderen Firmen gehalten wurden. Die Ergebnisse waren so verblüffend, daß ich den Computer aufforderte, mir von allen Shipstone-Firmen die Aktieneigentümer in Paketen von einem Prozent oder mehr stimmberechtigter Anteile aufzulisten.

Die nächsten drei Tage brachte ich damit zu, die Dinge umzustellen und zu regulieren und mir zu überlegen, wie ich die große Masse der Daten, die mich auf diese beiden Fragen erreichten, optimal darstellen konnte.

Als diese Zeit vorüber war, tippte ich meine Schlußfolgerungen ein:

a) Der Shipstone-Konzern ist im Grunde eine einzige Firma. Es sieht nur so aus, als wären es achtundzwanzig unabhängige Unternehmungen.

b) Die Direktoren und/oder Anteilseigner des Shipstone-Konzerns besitzen oder kontrollieren in allen großen Territorialnationen des Sonnensystems alles, was irgendwie von größerer Bedeutung ist.

c) Shipstone ist potentiell eine planetenumspannende (systemumspannende?) Regierung. Aus den Daten ließ sich nicht ableiten, ob der Konzern als solcher handelte oder nicht, da die Steuerung (wenn es sie in der Tat gibt) auf jeden Fall durch Firmen erfolgen würde, die nicht offensichtlich zum ShipstoneImperium gehören.

d) Ich hatte Angst. In Verbindung mit einer Shipstone-Firma (Morgan Associates) war mir etwas aufgefallen, und das brachte mich darauf, eine Suche nach Kreditfirmen und Banken einzuleiten. Es überraschte mich weniger, als daß es mich deprimierte, als ich erfuhr, daß die Firma, die mir im Augenblick Krediteinräumte (Master Charge Kalifornien) im Grunde identisch war mit der Firma, die die Zahlung garantierte (South Africa & Ceres Akzept-Gesellschaft), eine Entdeckung, die sich noch mehrmals wiederholte ob es sich nun um Maple Leaf, Visa, Crédit Québec oder sonst etwas handelte. Das war mir nicht neu; die Theoretiker des Geldmarkts haben das behauptet, solange ich zurückdenken kann. Gleichwohl traf es mich wie ein Keulenschlag, diesen Tatbestand in verzahnten Verwaltungsgremien und übereinstimmenden Besitzverhältnissen so deutlich bestätigt zu finden.

Einem Impuls folgend, fragte ich den Computer:

„Wer besitzt dich?“

Und erhielt zur Antwort: NULL PROGRAMM.

Ich formulierte die Frage um, wobei ich mich sorgfältig nach der Sprache der Maschine richtete. Der Computer, der durch mein Terminal vertreten wurde war eine sehr kluge und zum Verzeihen neigende Maschine; normalerweise hatte er nichts gegen einigermaßen zwanglose Programmierstellungen. Es gibt aber Grenzen im Verständnis einer Maschine, wenn es um mündliche Äußerungen geht; eine reflexive Frage dieser Art mochte semantische Präzision voraussetzen.

Wieder: NULL PROGRAMM.

Ich beschloß mich an die Idee heranzuschleichen.

Ich stellte der Maschine die folgenden Fragen, mich Schritt für Schritt weiterarbeitend, in totaler Einstellung auf die Sprache, die Grammatik, das Protokoll des Computers: „Wie sehen die Besitzverhältnisse jenes informationsverarbeitenden Netzes aus, das überall in Britisch-Kanada Terminals unterhält?“

Die Antwort erschien und blitzte mehrmals auf,ehe sie wieder gelöscht wurde — gelöscht ohne meine Anweisung: ANGEFORDERTE DATEN NICHT IN

MEINEN GED-SPEICHERN.

Das erschreckte mich. Ich machte für heute Schluß ging schwimmen und wartete nicht erst, bis ich gefragt wurde, sondern suchte mir für den Abend einen Freund fürs Bett. Ich war nicht übermäßig scharf darauf, aber übermäßig einsam, und wollte unbedingt einen lebendigen, warmen Körper neben mir haben als „Schutz“ vor einer intelligenten Maschine, die mir nicht sagen wollte, wer (was) sie in Wirklichkeit war.

Am nächsten Morgen ließ mir der Chef beim Frühstück ausrichten, ich solle um zehn-hundert zu ihm kommen. Ich meldete mich ein wenig verwirrt, weil ich meiner Meinung nach nicht annähernd genug Zeit gehabt hatte, die beiden Aufträge zu erledigen: Shipstone und die Anzeichen für eine kranke Gesellschaft.

Als ich jedoch eintrat, übergab er mir einen Brief der altmodischen Art, in einen Umschlag versiegelt und körperlich befördert, wie Werbepost.

Ich erkannte den Umschlag, denn ich hatte ihn selbst abgeschickt — an Janet und Ian. Es überraschte mich allerdings, ihn in den Händen meines Chefs zu sehen, da der von mir angegebene Absender falsch gewesen war. Ein Blick ergab, daß die Anschrift geändert worden war — das Schreiben war an ein Anwaltsbüro in San José weitergeleitet worden, die Kanzlei, die auf meiner Suche nach dem Chef schon einmal mein Kontakt gewesen war. „Unwichtig.“

„Sie können mir den Brief zurückgeben, dann schicke ich ihn an Captain Tormey … sobald ich weiß wo er ist.“

„Oh, wenn Sie erfahren, wo die Tormeys sind werde ich einen ganz anderen Brief schreiben. Dieser ist ziemlich vage.“

„Das lobe ich mir.“

„Sie haben ihn gelesen?“ (Verdammt noch mal, Chef!)

„Ich lese alles, das an Captain Tormey und seine Frau weitergeleitet werden soll — und an Dr. Perreault. Auf deren Bitte.“

„Ich verstehe.“ (Niemand sagt mir was!) „Ich habe den Brief so geschrieben, mit dem falschen Namen und so weiter, weil die Polizei Winnipeg ihn finden und öffnen hätte können.“

„Zweifellos hat sie das auch getan. Ich finde, Sie haben Ihre Spuren ausreichend verwischt. Es tut mir nun leid, daß ich Ihnen nicht gesagt habe, daß die an das Haus der Tormeys gerichtete Post automatisch zu mir kommt. Freitag, ich weiß nicht, wo die Tormeys stecken — aber ich verfüge über eine Kontaktmöglichkeit, die allerdings nur einmal in Frage kommt. Unser Plan läuft darauf hinaus, sie zu benutzen, wenn die Polizei sämtliche Anklagen gegen die beiden fallen läßt. Damit hatte ich eigentlich schon vor Wochen gerechnet. Aber nichts hat sich getan. Daraus schließe ich, daß die Polizei in Winnipeg ernsthaft bemüht ist den Tormeys das Verschwinden von Lieutenant Dikkey als Mordanklage an den Hals zu hängen. Ich möchte noch einmal fragen: Kann die Leiche gefunden werden?“

Ich überlegte angestrengt und versuchte die Sache unter dem negativsten Blickwinkel zu sehen. Sollte sich die Polizei jemals näher mit dem Haus befassen was würde sie finden? „Chef, war die Polizei schon drin im Haus?“

„Ganz bestimmt. Die Beamten haben es durchsucht, als die Eigentümer gerade einen Tag fort waren.“

„In dem Fall hat die Polizei die Leiche am Vormittag des Tages, an dem ich mich hier zurückmeldete nicht gefunden. Wenn sie sie seit dem Tag gefunden hat oder noch findet — würden Sie davon erfahren?“

„Ich nehme es an. Meine Kontakte im Hauptquartier der Polizei sind nicht gerade perfekt, doch ich zahle für taufrische Informationen die besten Preise.“

„Wissen Sie, was aus den Haustieren geworden ist?

Vier Pferde, eine Katze und fünf Junge, ein Schwein vielleicht noch andere Tiere?“

„Freitag, wohin führt Sie Ihre Intuition?“

„Chef, ich weiß es nicht genau, wie die Leiche versteckt wurde. Janet — Mrs. Tormey — ist Architektin die sich auf die doppelte Sicherung von Gebäuden spezialisiert hat. Was sie hinsichtlich ihrer Tiere unternommen hat, könnte mir sagen, ob ihrer Meinung nach die Möglichkeit bestand, daß die Leiche jemals gefunden würde.“

Der Chef schrieb sich etwas auf. „Wir sprechen später darüber. Wie sehen die Symptome einer kranken Gesellschaft aus?“

„Chef, ich bitte Sie! Ich bin noch dabei, die Winkel des riesigen Shipstone-Konzerns auszuleuchten.“

„Das werden Sie nie schaffen. Ich habe Ihnen zwei Aufträge gleichzeitig gegeben, damit Sie sich mal mit einem Themenwechsel etwas geistige Erleichterung verschaffen konnten. Nun versuchen Sie mir nicht einzureden, daß Sie über die zweite Frage noch gar nicht nachgedacht haben.“

„›Nachgedacht‹ habe ich, mehr aber auch nicht. Ichhabe Gibbon gelesen und die französische Revolution studiert. Außerdem Smiths Vom Yalu zum Abgrund.“

„Eine sehr doktrinäre Abhandlung. Sie sollten außerdem Penns Die Letzten Tage des Süßen Landes Freiheit lesen.“

„Jawohl, Sir. Ich habe mir schon erste Dinge notiert.

Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die Menschen in einem Land sich nicht mehr mit dem Land identifizieren, sondern nur noch mit einer Gruppe. Einer Rassengruppe. Oder einer Religion. Oder einer Sprache. Egal was, solange es nicht die ganze Bevölkerung betrifft.“

„Ein sehr schlechtes Zeichen. Partikularismus. Ursprünglich wurde das für eine spanische Untugend gehalten, aber natürlich kann jedes Land daran erkranken.“

„Ich kenne Spanien im Grunde nicht. Zu den Symptomen scheint die männliche Dominanz über die Frauen zu gehören. Vermutlich würde der umgekehrte Fall ebenso wirken, doch habe ich so etwas in der Geschichtsschreibung bisher nicht gefunden.

Warum nicht, Chef?“

„Das müssen Sie mir sagen. Weiter!“

„Soweit ich bisher festgestellt habe, kann eine Revolution erst stattfinden, wenn die Bevölkerung das Vertrauen sowohl in die Polizei als auch in die Gerichte verloren hat.“

„Das ist selbstverständlich. Weiter.“

„Nun ja — auch hohe Steuern sind wichtig, ebenso die Inflation der Währung und das Verhältnis der Produktiven zu denen, die im öffentlichen Dienst stehen. Das sind aber alte Hüte; jeder weiß, daß ein Land ins Rutschen kommt, wenn Einkommen undAusgaben nachhaltig auseinanderklaffen — auch wenn die Legislative immer wieder Versuche unternimmt, diese Entwicklung hinwegzuzaubern. Ich begann dann aber nach den kleinen Anzeichen zu suchen, nach den ersten vagen Symptomen. Wußten Sie zum Beispiel, daß es hier gegen das Gesetz ist, außerhalb des eigenen Zuhauses nackt zu sein? Und sogar zu Hause, wenn jemand zu Ihnen hereinschauen kann?“

„Das dürfte ziemlich schwierig durchzusetzen sein würde ich meinen. Welche Bedeutung leiten Sie daraus ab?“

„Oh, das Gesetz wird nicht gehandhabt. Es kann aber auch nicht abgeschafft werden. Die Konföderation ist mit solchen Gesetzen überladen. Es will mir scheinen, daß jedes Gesetz, das nicht zu handhaben ist, alle anderen Gesetze schwächt. Chef, war Ihnen bekannt, daß die Kalifornische Konföderation Huren mit Subventionen bedenkt?“

„Es war mir nicht aufgefallen. Mit welchem Ziel?

Für die Streitkräfte? Für die Leute in den Gefängnissen? Oder als öffentliche Dienstleistung? Ich muß gestehen, daß ich überrascht bin.“

„Oh, nicht so! Die Regierung bezahlt sie, damit sie die Knie beisammen lassen. Damit sie ganz vom Markt verschwinden. Die Mädchen sind ausgebildet lizensiert, gesundheitlich untersucht — und liegen auf Eis. Nur funktioniert das nicht. Die als überflüssig eingestuften Künstlerinnen kassieren ihren Unterhalt — und verkaufen sich dann doch an der nächsten Ekke. Dabei sollten sie das nicht mal zum Vergnügen tun, denn das würde dem Markt für die nicht unterstützten Freudenmädchen schaden. Die Gewerkschaftder Horizontalen, die das erste Gesetz durchgedrückt hat, versucht jetzt eine Art Gutscheinsystem durchzusetzen, das diese Lücken füllen soll. Aber das klappt bestimmt auch nicht.“

„Warum nicht, Freitag?“

„Chef, Gesetze, die sich gegen eine unaufhaltsame Woge stemmen, funktionieren nie. Das müßte Ihnen doch klar sein.“

„Ich wollte nur sicher gehen, daß auch Sie es wissen.“

„Ich glaube, das ist beinahe eine Beleidigung. Dann bin ich noch auf einen tollen Otto gestoßen. In der Kalifornischen Konföderation ist es gegen das Gesetz einer Person den Kredit zu verweigern, nur weil sie schon einmal Bankrott angemeldet hat. Die Kreditwürdigkeit ist ein Bürgerrecht.“

„Ich nehme an, das funktioniert auch nicht, aber wie sieht die Nichteinhaltung aus?“

„Das habe ich noch nicht untersucht, Chef. Aber ich glaube, ein fauler Kunde hätte wenig Chancen, einen Richter zu bestechen. Ein anderes Indiz möchte ich nicht unerwähnt lassen: die Gewalttätigkeit. Überfälle, Schüsse aus dem Hinterhalt, Brandstiftungen Bombenexplosionen, Terrorakte jeder Art. Natürlich auch Straßenaufstände — aber ich finde, daß kleine Gewaltakte, die die Leute Tag für Tag bedrücken, einer Kultur mehr schaden können als solche Aufstände, die heftig durch die Straßen toben und dann wieder verschwinden. Ja, das dürfte so etwa alles sein.

Oh, natürlich Wehrpflicht und Sklaverei und willkürlicher Zwang verschiedener Art und Verhaftungen ohne Kautionsmöglichkeit und ohne schnelle Aburteilung — aber solche Dinge sind offensichtlich;sie finden sich überall in der Geschichte.“

„Freitag ich finde, das alarmierendste Symptom haben Sie übersehen.“

„Ach? Wollen Sie es mir sagen? Oder muß ich im dunkeln herumtasten, bis ich es habe?“

„Hmm. Diesmal werde ich es Ihnen sagen. Aber gehen Sie zurück und suchen Sie danach! Untersuchen Sie den Aspekt. Kranke Kulturen zeigen ein Spektrum der Symptome, die Sie vorhin aufgezählt haben — eine sterbende Kultur aber stellt unweigerlich persönliche Grobheit zur Schau. Schlechte Sitten. Einen Mangel an Rücksicht gegenüber anderen schon bei Kleinigkeiten. Ein Verlust an Höflichkeit, an Entgegenkommen — dies ist bedeutsamer als jeder Aufstand.“

„Wirklich?“

„Pfui. Ich hätte Sie zwingen sollen, selbst darauf zu kommen, dann wüßten Sie jetzt, daß ich recht habe.

Dieses Symptom ist besonders ernst zu nehmen, weil ein Individuum, an dem es beobachtet werden kann dies nie als Zeichen für eine Erkrankung nimmt, sondern als Beweis für seine/ihre Stärke. Achten Sie mal darauf! Studieren Sie die Erscheinung! Freitag, es ist zu spät, diese Kultur zu retten — diese weltweite Kultur, nicht nur das Raritätenkabinett, das sich Kalifornien nennt. Aus diesem Grunde müssen wir die Mönchskloster für das bevorstehende Dunkle Zeitalter vorbereiten. Elektronische Aufzeichnungen sind zu verletzlich; wir müssen wieder Bücher schaffen aus haltbarer Druckfarbe auf solidem Papier. Das könnte aber möglicherweise nicht ausreichen. Das Reservoir für die nächste Renaissance muß vielleicht von jenseits des Himmels kommen.“ Der Chef unter-brach sich schweratmend. „Freitag …“

„Ja, Sir?“

„Prägen Sie sich diesen Namen und diese Adresse ein!“ Seine Hände bewegten sich über die Konsole; die Antwort erschien auf seinem hochgelegenen Schirm. Ich prägte mir alles genau ein.

„Erledigt?“

„Jawohl, Sir.“

„Soll ich zur Kontrolle eine Wiederholung tippen?“

„Nein, Sir.“

„Sind Sie sicher?“

„Wenn Sie wollen, können Sie es wiederholen, Sir.“

„Hmm. Freitag würden Sie mir bitte noch eine Tasse Tee einschenken, ehe Sie gehen? Ich muß feststellen, daß ich heute die Hände nicht ruhig halten kann.“

„Aber gern, Sir.“

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