4. Kapitel

Es wird der Tag kommen, da ich aus einer Auseinandersetzung mit dem Chef als Sieger hervorgehe.

Aber garantieren kann ich es natürlich nicht.

Es gab Momente, da ich zumindest nicht als Verlierer abschnitt — und das waren die Tage, an denen er mich nicht besuchte.

Es begann mit einer Meinungsverschiedenheit darüber, wie lange ich in Behandlung bleiben müßte. Ich hatte nach vier Tagen das Gefühl, nach Hause gehen oder meinen Dienst wieder antreten zu können. Zwar hätte ich mich nicht gleich in einen handfesten Kampf stürzen können, doch leichten Dienst traute ich mir zu — oder eine Reise nach Neuseeland, was mir im Grunde noch lieber gewesen wäre. Meine Wunden heilten schnell.

Allzu schlimm hatte es nicht um mich gestanden: zahlreiche Verbrennungen, vier gebrochene Rippen einfache Brüche des linken Unterarms, etliche Brüche in den Knochen meines rechten Fußes und an drei Zehen des linken Fußes, eine leichte Schädelfraktur die keine Probleme machte, außerdem hatte mir jemand die rechte Brustwarze abgesäbelt (was ziemlich blutete, mich aber am wenigsten behinderte).

Ich erinnerte mich lediglich an diese letzte Sache die Verbrennungen und die gebrochenen Zehen; die anderen Dinge mußten mir zugestoßen sein, während ich irgendwie abgelenkt war.

Der Chef sagte: „Freitag, Sie wissen sehr gut, daß es mindestens sechs Wochen dauert, um die Brustwarze zu regenerieren.“

„Aber mit plastischer Chirurgie zur einfachen Wiederherstellung wäre ich nach einer Woche raus.

Dr. Krasny hat es mir selbst gesagt.“

„Junge Frau, wenn in unserer Organisation jemand im Dienst eine körperliche Entstellung erleidet, wird der oder die Betreffende so perfekt wiederhergestellt wie es die ärztliche Kunst vermag. Abgesehen von dieser Grundregel gibt es in Ihrem Fall einen zweiten zwingenden Grund. Wir beide stehen in der moralischen Pflicht, die Schönheit dieser Welt zu erhalten und zu schützen; sie darf nicht verschwendet werden. Sie haben einen ungewöhnlich gutgeformten Körper, den zu beschädigen eine Schande wäre. Sie müssen wiederhergestellt werden.“

„Eine einfache kosmetische Operation würde mir genügen, ich habe es schon gesagt. Ich rechne sowieso nicht damit, daß mir jemals die Milch einschießt.

Und wer mit mir ins Bett geht, dem kann der Unterschied egal sein.“

„Freitag, es mag durchaus sein, daß Sie sich eingeredet haben, Sie müßten niemals säugen. Ästhetisch jedoch unterscheidet sich eine funktionsfähige Brust sehr von einer künstlich geformten Imitation. Der hypothetische Bettgenosse weiß es vielleicht nicht — aber Sie würden es wissen, und ich wüßte es ebenfalls. Nein, meine Liebe. Die alte Perfektion wird wiederhergestellt.“

„Hmm! Und wann werden Sie sich das Auge regenerieren lassen?“

„Werden Sie nicht frech, mein Kind! In meinem Fall gelten keine ästhetischen Gesichtspunkte.“

So bekam ich meine Brustwarze wieder; vielleicht war das neue Stück sogar noch besser als das alte.Der nächste Streitpunkt war das Auffrischungstraining, das ich hinsichtlich meines schnellen Tötungsreflexes zu brauchen glaubte. Als ich die Sprache wieder auf dieses Thema brachte, blickte der Chef mich an, als hätte er auf etwas Bitteres gebissen. „Freitag ich glaube nicht, daß Sie je einen Gegner umgebracht haben und wir das im Nachhinein als Fehler werten mußten. Oder haben Sie Tötungen begangen, von denen ich nichts weiß?“

„Nein, nein“, sagte ich hastig. „Bevor ich für Sie arbeitete, habe ich niemanden umgebracht und habe auch seither sämtliche Fälle dieser Art gemeldet.“

„Dann sind sämtliche Tötungen in Notwehr erfolgt.“

„Mit Ausnahme des Belsen-Typs. Das war keine Notwehr; er hat keine Hand an mich gelegt.“

„Beaumont. Zumindest war das der Name, den er vorwiegend benutzt hat. Die Notwehr richtet sich zuweilen auch nach der Maxime: ›Tu anderen an, was sie dir antun möchten, aber schneller.‹ Ich glaube, das ist ein Ausspruch von de Camp. Oder von einem anderen pessimistischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich lasse Beaumonts Dossier kommen damit Sie selbst sehen, daß er entschieden auf die Liste derjenigen gehörte, die man lieber aus der Welt schaffen sollte.“

„Sparen Sie sich die Mühe! Sobald ich mir seine Brieftasche angesehen hatte, wußte ich, daß er nicht hinter mir her war, um mir einen Kuß zu geben. Aber das war hinterher.“

Der Chef ließ sich mit der Antwort einige Sekunden Zeit, was doch länger war als gewöhnlich. „Freitag, möchten Sie umsteigen und Terminator werden?“ Das Kinn sackte mir herab, und ich riß die Augen auf. Eine andere Antwort gab ich ihm nicht.

„Ich wollte Sie nicht aus dem Nest scheuchen“ sagte der Chef gelassen. „Sie müssen sich schon selbst gesagt haben, daß es in unserer Organisation auch Tötungsagenten gibt. Ich möchte Sie als Kurier nicht verlieren; sie sind mein bester. Allerdings brauchen wir auch geschickte Tötungsagenten, bei denen die Verschleißrate ziemlich hoch ist. Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen Kurier und Terminator: Ein Kurier tötet ausschließlich in Notwehr und oft im Reflex — und, das gebe ich zu, ist stets in Gefahr, sich darin zu irren, da nicht alle Kuriere über Ihr hervorragendes Talent verfügen, alle Faktoren augenblicklich zu integrieren und zu einer zwingenden Schlußfolgerung zu verarbeiten.“

„Ha!“

„Sie haben richtig gehört. Freitag, eine Ihrer Schwächen besteht darin, daß Ihnen die angemessene Eitelkeit fehlt. Ein ehrlicher Tötungsagent bringt seine Opfer nicht im Reflex um, sondern in vorbedachter Absicht. Wenn der Plan schiefläuft, so daß er dann doch in Notwehr handeln muß, wird er beinahe unweigerlich zum Faktor einer Statistik. Bei seinen geplanten Aktionen kennt er stets den Grund und sieht die Notwendigkeit ein — oder ich würde ihn nicht auf die Mission schicken.“

(Geplante Tötungen? Mord. Morgens aufstehen ausgiebig frühstücken, dann zum Rendezvous mit dem Opfer, um es kaltblütig niederzumähen? Anschließend ein schönes Abendessen und ein gesunder Schlaf?) „Chef, ich glaube nicht, daß das etwas für mich wäre.“

„Ich weiß auch nicht recht, ob Sie das Temperament dazu haben. Aber beschäftigen Sie sich bitte mal damit. Die Möglichkeit, Ihren Abwehrreflex zu verlangsamen, sehe ich nicht gerade optimistisch. Außerdem kann ich Ihnen versichern, wenn wir Sie auf die gewünschte Weise nachtrainieren würden, werde ich Sie nicht wieder als Kurier einsetzen. Nein. Ihr Leben aufs Spiel zu setzen ist Ihre Sache — in Ihrer Freizeit. Ihre Aufträge aber sind stets gefährlich. Ich werde keinen Kurier einsetzen, dessen Reaktionsschwelle absichtlich angehoben worden ist.“

Der Chef brachte mich nicht von meiner Ansicht ab, doch er machte mich unsicher. Als ich wiederholte, daß ich kein Interesse hätte, Terminator zu werden, schien er gar nicht auf meine Worte zu hören — er sprach davon, mir etwas zu lesen zu besorgen.

Was immer es war — ich ging davon aus, daß der Text auf dem Terminal meines Zimmer erscheinen würde. Statt dessen kam zwanzig Minuten nach seinem Verschwinden ein Jüngling — nun ja, zumindest war er jünger als ich — und brachte mir ein Buch, ein richtiges gebundenes Buch mit echten Papierseiten darin! Auf dem Umschlag standen eine Seriennummer und die Stempelabdrücke: „Nur zur persönlichen Lektüre“ und „Bedarfsnachweis erforderlich“ und „Streng geheim! Sicherheitsstufe SPEZIAL BLAU erforderlich!“

Ich betrachtete das Gebilde wie eine Giftschlange.

„Ist das für mich? Da muß sich irgendwo jemand geirrt haben.“

„Der Alte irrt sich nicht. Unterschreiben Sie die Empfangsquittung.“

Ich ließ ihn warten, während ich das Kleinge-druckte studierte. „Was hier steht: ›Zu keiner Zeit aus den Augen lassen.‹ Ich muß ab und zu schlafen.“

„Dann rufen Sie das Archiv an, lassen sich mit dem Verwalter für das geheime Schriftgut verbinden — das bin ich —, und ich komme sofort herauf. Aber versuchen Sie wachzubleiben, bis ich eintreffe. Darum müssen Sie sich bemühen.“

„In Ordnung.“ Ich unterschrieb die Quittung, hob den Blick und stellte fest, daß er mich interessiert anstarrte. „Was gibt’s da zu schauen?“

„Äh … Miß Freitag, Sie sind hübsch.“

Ich weiß nie, was ich auf so etwas antworten soll da ich im Grunde nicht hübsch bin. Meine Figur kann sich sehen lassen, das stimmt — aber im Augenblick war ich voll angekleidet. „Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Na, jeder weiß doch, wer Sie sind. Sie wissen schon. Vor zwei Wochen. Auf der Farm. Sie waren dort.“

„Oh. Ja, ich war dort. Aber ich erinnere mich nicht daran.“

„Ich aber!“ Seine Augen leuchteten. „Bisher meine einzige Gelegenheit, an einem Kampfeinsatz teilzunehmen. Ich bin froh, daß ich da mitmachen durfte!“

(Was macht man in einer solchen Situation?)

Ich ergriff seine Hand, zog ihn zu mir heran, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und küßte ihn ausgiebig — etwa zwischen freundschaftlichschwesterlich und Tun-wir’s! Vielleicht wäre etwas Stärkeres angebracht gewesen, aber er war im Dienst und ich stand noch auf der Verwundetenliste — und es wäre nicht fair, Versprechungen anzudeuten, die niemand halten kann, besonders wenn es sich um ei-nen mondsüchtigen Jüngling handelt.

„Vielen Dank, daß Sie mich gerettet haben“, sagte ich ernst und ließ ihn los.

Der liebe Kerl errötete. Und schien sich zu freuen.

Ich ließ mir mit der Lektüre des Buches soviel Zeit daß die Nachtschwester mich schon ausschelten wollte. Doch Krankenschwestern brauchen so etwas.

Ich werde aus dem unglaublichen Dokument nicht zitieren … aber hören Sie sich diese Themen an:

Zuerst der Titel: DIE EINZIGE TÖDLICHE WAFFE. Dann:

Tötung als Kunst Tötung als politisches Werkzeug Tötung zum Profit Attentäter, die die Geschichte veränderten Die Vereinigung für Kreative Euthanasie Amateur-Attentäter: Sollte man sie eliminieren?

Ehrliche Tötungsagenten — einige Fallstudien „Extreme Maßnahme“ — „Feuchter Einsatz“ — Sind Umschreibungen erforderlich?

Arbeitsunterlagen für Seminare: Techniken und Werkzeuge Pü! Es gab keinen Grund, warum ich alles lesen sollte. Aber ich tat es. Der Text übte eine unheilvolle Faszination auf mich aus. Schmutzigen Einfluß.

Ich faßte den Entschluß, die Frage des Jobwechsels fallenzulassen und auch nicht mehr auf das Thema des Auffrischungstrainings zurückzukommen. Sollte doch der Chef davon anfangen, wenn er darüber sprechen wollte! Ich bediente das Terminal, ließ mich mit dem Archiv verbinden und sagte, ich brauche den Verwalter für Geheimdokumente, damit er das Geheimstück Nr. sowieso wieder abhole und mirmeine Quittung zurückgebe. „Sofort, Miß Freitag“ antwortete eine Frau.

Ach ja, wenn man berühmt ist!

Mit nicht geringem Unbehagen wartete ich auf die Rückkehr des jungen Mannes. Ich muß leider gestehen, daß das giftige Buch eine höchst unselige Auswirkung auf mich hatte. Es war zwar dunkelste Nacht, eher schon früher Morgen, und überall herrschte Totenstille — aber wenn der liebe Kerl mich berührt hätte, hätte ich wohl vergessen, daß ich technisch gesehen krank war. Ich brauchte einen Keuschheitsgürtel mit einem großen Vorhängeschloß.

Aber nicht er trat ins Zimmer; der nette Jüngling hatte seinen Dienst beendet. Die Person, die mir die Quittung brachte, war die ältere Frau, die sich am Terminal gemeldet hatte. Ich spürte Erleichterung und Enttäuschung zugleich — und war bekümmert über meine Enttäuschung. Hat die Heilphase im Krankenhaus stets einen scharfmachenden Einfluß?

Gibt es in Krankenhäusern disziplinarische Probleme? Ich bin nicht oft genug krank gewesen, um die Antwort auf diese Fragen zu wissen.

Die Nacht-Archivarin tauschte Quittung gegen Buch und überraschte mich mit der Frage: „Bekomme ich nicht auch einen Kuß?“

„Oh! Waren Sie ebenfalls dabei?“

„Bis zum letzten Mann, meine Liebe; an dem Abend waren wir wirklich knapp dran mit einsatzfähigen Leuten. Ich bin nicht gerade die beste Agentin auf der Welt, aber ich habe wie jeder andere meine Grundausbildung absolviert. Ja, ich war dabei. Hätte das um nichts auf der Welt verpassen mögen.“

„Vielen Dank, daß Sie mich gerettet haben“, sagteich und küßte sie. Ich versuchte eine symbolische Geste daraus zu machen, aber sie übernahm das Kommando und bestimmte die Art des Kusses — nämlich rauh und energisch. Deutlicher als mit Worten gab sie mir zu verstehen, daß sie sich gern bereithalten würde, sollte ich mich entschließen, mal auf die andere Straßenseite zu kommen.

Was macht man da? Es scheint unter Menschen Situationen zu geben, für die es kein etabliertes Protokoll gibt. Ich hatte ihr eben bestätigt, daß sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um das meine zu retten — und das stimmte ja auch, da die Rettung nicht ganz das Kinderspiel gewesen war, als daß der Bericht des Chefs die Aktion erscheinen ließ. Der Chef neigt in einem solchen Maße zur Untertreibung daß er die völlige Vernichtung Seattles als „seismische Störung“ bezeichnen würde. Nachdem ich mich bei ihr für mein Leben bedankt hatte, wie konnte ich sie da zurückweisen?

Ich brachte es nicht fertig. Ich antwortete mit meiner Hälfte des Kusses auf die wortlose Botschaft — und drückte mir dabei die Daumen, daß ich das darin enthaltene Versprechen niemals einlösen müßte.

Nach einer Weile zog sie sich von dem Kuß zurück ließ mich aber nicht los. „Schätzchen“, sagte sie.

„Wollen Sie was wissen? Erinnern Sie sich noch, wie Sie den Kerl fertiggemacht haben, der sich ›Major‹ nannte?“

„O ja.“

„Von dieser Episode ist ein heimlich kopiertes Bandstück im Umlauf. Was Sie zu ihm gesagt haben und wie Sie es sagten — das wird von uns allen sehr bewundert. Besonders von mir.“

„Interessant. Sind Sie vielleicht der kleine Maulwurf, der das Band kopiert hat?“

„Wie können Sie nur so etwas annehmen?“ Sie grinste. „Haben Sie was dagegen?“

Ich überlegte mir die Antwort drei Millisekunden lang. „Nein. Wenn es den Leuten, die mich gerettet haben, Spaß macht, meine Schimpfkanonaden anzuhören, ist es mir recht, wenn man das hört. Aber normalerweise rede ich nicht so.“

„Das nimmt auch niemand an.“ Sie küßte mich kurz auf die Wange. „Aber Sie taten es, als es erforderlich war, und deswegen ist jede Frau in der Organisation stolz auf Sie. Und natürlich auch unsere Männer.“

Sie schien wenig geneigt zu sein, mich loszulassen doch in diesem Augenblick erschien die Nachtschwester, verkündete entschlossen, daß ich jetzt schlafen müßte und sie mir eine Injektion geben würde — und ich erhob keine ernsthaften Einwände. Die Archivarin sagte: „Morgen, Goldie. — Gute Nacht, meine Liebe.“

Und sie ging.

Goldie (das war nicht ihr Name, sie war nur hellblond) sagte: „Möchten Sie’s in den Arm? Oder ins Bein? Machen Sie sich nichts aus Anna; sie ist harmlos.“

„Sie ist in Ordnung.“ Gleichzeitig kam mir der Gedanke, daß Goldie mich wahrscheinlich visuell und akustisch überwachen konnte. Wahrscheinlich? Nein mit Gewißheit! „Waren Sie auch dabei? Auf der Farm? Als das Haus niederbrannte?“

„Nicht als das Haus niederbrannte. Ich befand mich in einem AAF und begleitete Sie hierher so schnell wir das Ding in die Luft bekamen. Sie sahenwirklich schlimm aus, Miß Freitag.“

„Das glaube ich gern. Vielen Dank. Goldie — geben Sie mir auch einen Gutenachtkuß?“

Ihr Kuß war warm und stellte keine Forderungen.

Später erfuhr ich, daß sie zu den vier Agenten gehört hatte, die ins obere Stockwerk gestürmt waren um mich herauszuholen — ein Mann mit dem großen Bolzenschneider, zwei Bewaffnete, die um sich schossen — und Goldie, die ohne Hilfe eine Leichtbahre trug. Aber sie sprach nicht davon, weder an diesem Abend noch später.

Die Zeit im Krankenhaus war die erste in meinem Leben — abgesehen von meinen Ferien in Christchurch —, da ich Tag und Nacht rundum glücklich und zufrieden war. Warum? Weil ich dazugehörte.

Natürlich ist aus meinem Bericht zu ersehen, daß ich schon vor Jahren aufgestiegen war. Auf meinen Ausweisen standen nicht mehr die großen Buchstaben LA (oder auch KP). Ich konnte einen Toilettenraum betreten, ohne daß man mich in die hinterste Kabine verwies. Ein falscher Ausweis und eine gefälschte Familiengeschichte vermitteln aber kein Gefühl der Zugehörigkeit; sie verhindern lediglich, daß man benachteiligt und womöglich gedemütigt wird.

Unabhängig davon weiß man, daß es auf der ganzen Erde keine Nation gibt, die Wesen dieser Art als Bürger akzeptiert und daß es noch viele Orte gibt, die einen deportieren oder töten — oder gar verkaufen — würden, sollte man je die Tarnung verlieren.

Einer Künstlichen Person macht der Gedanke, keine Familiengeschichte zu haben, mehr zu schaffen als man sich gemeinhin vorstellt. Wo wurden Sie ge-boren? — Nun, ich bin nicht im eigentlichen Sinne geboren worden; ich wurde im Lebenstechnischen Laboratorium der Tri-Universität von Detroit entworfen. — Ach, wirklich? — Meine Zeugung wurde von der Mendelschen Sozietät in Zürich eingeleitet. — Ein hübsches Partygeplauder, nicht wahr! Sie werden so etwas nie zu hören bekommen; es macht sich gegenüber Vorfahren auf der Mayflower oder sonstigen geschichtlichen Bezügen zu karg aus. Meine Akten (zumindest eine Version) weisen aus, daß ich in Seattle „geboren“ wurde, einer zerstörten Stadt, die einen guten Vorwand liefert für verschwundene oder nicht vollständige Dokumente. Außerdem ein guter Ort, seine Verwandten zu verlieren.

Da ich nie in Seattle gewesen bin, habe ich sorgsam Unterlagen und Bilder studiert, wo ich sie finden konnte: ein echter Seattle-Eingeborener kann mich nicht hinters Licht führen. Nehme ich an. Zumindest noch nicht.

Was man mir jedoch hier schenkte, während ich mich von der Vergewaltigung und nicht ganz so lustigen Folterung erholte, war ganz und gar nicht gekünstelt, und ich brauchte mir keine Mühe zu geben das Gespinst meiner Lügen zu behüten. Nicht nur Goldie und Anna und der Jüngling (Terence) besuchten mich, sondern gut zwei Dutzend weitere Leute, ehe Dr. Krasny mich schließlich entließ. Und das waren nur die Leute, die ich zu Gesicht bekam.

An dem Überfall waren wesentlich mehr beteiligt gewesen. Ich weiß nicht, wie viele. Eine Grundregel des Chefs sorgte dafür, daß die Mitglieder der Organisation sich nur begegneten, wenn die Pflicht es erforderlich machte. Ähnlich wie er jeder Frage ent-schlossen aus dem Weg ging. Man kann keine Geheimnisse ausplaudern, die man nicht kennt, ebensowenig kann man eine Person verraten, die einem unbekannt geblieben ist.

Der Chef liebt seine Grundsätze aber nicht um der Grundsätze willen. Sobald man einen Kollegen im Dienst kennengelernt hat, durfte man den gesellschaftlichen Kontakt mit ihm fortsetzen. Der Chef ermutigte nicht gerade zu dieser Verbrüderung, aber er war kein Dummkopf und verzichtete auf ein diesbezügliches Verbot. Folglich suchte mich Anna oft spätabends auf, ehe sie ihren Dienst antrat.

Das Versprechen löste sie nicht ein. Zwar bestand im Grunde wenig Gelegenheit dazu, doch wir hätten schon eine Möglichkeit gefunden, wenn wir es versucht hätten. Ich versuchte sie nicht abzuwehren — Himmel, nein! Hätte sie mir je ihre Rechnung präsentiert, hätte ich sie nicht nur bereitwillig gezahlt, sondern Anna auch in dem Glauben lassen wollen, daß der Impuls dazu von mir ausging.

Aber sie tat es nicht. Ich glaube, sie glich jenem empfindsamen (und ziemlich seltenen) Typ von Mann, der sich einer Frau nicht nähert, wenn sie es nicht will — er spürt so etwas und versucht es erst gar nicht.

Eines Abends kurz vor meiner Entlassung war ich besonders froh — an diesem Tag hatte ich zwei neue Freunde gewonnen, „Kußfreunde“, Kollegen, die bei dem Rettungseinsatz mitgewirkt hatten. Ich versuchte Anna zu erklären, warum mir das alles soviel bedeute, und stellte plötzlich fest, daß ich im Begriff stand zu offenbaren, wie es kam, daß ich nicht das sei, was ich zu sein schien.Doch sie unterbrach mich. „Meine liebe Freitag, jetzt hören Sie mal auf die Worte Ihrer großen Schwester.“

„Wie? Habe ich ins Fettnäpfchen getreten?“

„Vielleicht wollten Sie es eben tun. Erinnern Sie sich noch an den Abend, an dem wir uns kennenlernten? Sie gaben durch mich ein Geheimdokument zurück. Vor Jahren hat Mr. Doppelkrücke mich in die höchste Sicherheitsstufe befördert. Das von Ihnen zurückgegebene Buch befindet sich an einem Ort, wo es jederzeit für mich zugänglich wäre. Ich habe es aber nie geöffnet und werde das auch nicht tun. Auf dem Umschlag steht: ›Bedarfsnachweis‹, und niemand hat mir bisher gesagt, daß ich den Inhalt kennen müßte.

Sie haben die Akte gelesen, ich aber weiß nicht einmal den Titel oder das Thema — lediglich die Aktennummer.

Ähnlich liegt es bei Personaldingen. Es gab früher einmal eine militärische Elitetruppe, eine Art Fremdenlegion, die sich damit brüstete, daß ein Legionär vor dem Tag seines Eintritts in die Truppe keine persönliche Geschichte hätte. Und so möchte das Mr.

Doppelkrücke auch bei uns sehen. Würden wir beispielsweise ein lebendiges Artefakt, eine Künstliche Person, in die Organisation aufnehmen, wäre das dem Personalsachbearbeiter natürlich bekannt. Ich weiß darüber Bescheid, weil ich auf dem Posten schon gesessen habe. Da gab es Akten zu fälschen möglicherweise mußten Schönheitsoperationen vorgenommen werden, dann galt es Labor-Identifikationen auszumerzen und Hautstellen zu regenerieren …

Wenn wir mit dem oder der Betreffenden fertig waren, brauchte er oder sie sich nie wieder Sorgen zu machen über eine Hand auf der Schulter oder um ei-ne Benachteiligung im täglichen Leben. Er konnte sogar heiraten und Kinder bekommen, ohne fürchten zu müssen, daß sie eines Tages Nachteile haben würden. Er brauchte sich auch um mich keine Gedanken zu machen, da ich sehr geübt im Vergessen bin. Und jetzt zu Ihnen, meine Liebe. Ich weiß nicht recht, was Sie eben im Sinne hatten. Aber wenn es sich um etwas handelt, das Sie anderen Leuten normalerweise nicht auf die Nase binden, dann sollten Sie es auch mir nicht sagen. Sonst täte es Ihnen morgen früh womöglich leid.“

„Nein, bestimmt nicht!“

„Na schön. Wenn Sie es mir heute in einer Woche noch sagen wollen, dann höre ich gern zu. Abgemacht?“

Anna hatte recht; eine Woche später war mir nicht mehr danach zumute, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich bin zu neunundneunzig Prozent davon überzeugt daß sie Bescheid wußte. Wie dem auch sei es ist ein herrliches Gefühl, um seiner selbst willen geliebt zu werden, von jemandem, der KP nicht für untermenschliche Monster hält.

Ich weiß nicht, ob einer meiner übrigen netten Freunde Bescheid wußte oder etwas ahnte. (Damit meine ich nicht den Chef, der natürlich informiert war. Aber er war ja auch kein Freund von mir; er war der Chef.) Dabei war es unwichtig, ob meine neuen Freunde erfuhren, daß ich kein richtiger Mensch war oder nicht, denn ich war zu der Überzeugung gelangt, daß es ihnen wohl nichts ausmachte. Ihnen kam es allein darauf an, ob man zur Truppe des Chefs gehörte oder nicht.Eines Abends erschien der Chef in meinem Zimmer; er ließ die Krücken auf den Boden poltern und atmete schwer. Hinter ihm trat Goldie ein. Schwerfällig ließ er sich in den Besucherstuhl sinken und sagte zu Goldie: „Ich brauche Sie nicht, Schwester. Vielen Dank.“ Dann wandte er sich an mich: „Ziehen Sie sich aus!“

Bei jedem anderen Mann wäre eine solche Äußerung entweder kränkend oder willkommen gewesen — je nachdem. Beim Chef bedeuteten die Worte lediglich, daß er mich ohne Kleidung inspizieren wollte.

Goldie reagierte ähnlich nüchtern wie ich, denn sie nickte nur und ging, dabei hätte sie ihren Patienten wie eine Furie gegen unbefugte Störungen verteidigt.

Ich zog mich mit schnellen Bewegungen aus und wartete. Er musterte mich von Kopf bis Fuß. „Wir passen wieder zueinander.“

„Sieht jedenfalls so aus.“

„Dr. Krasny sagt, er habe die Milchdrüsenfunktion überprüft. Positiv.“

„Ja. Irgendwie hat er mein Hormongleichgewicht durcheinandergebracht, woraufhin beide ein wenig Feuchtigkeit abgaben. Das fühlte sich ziemlich komisch an. Dann stellte er das Gleichgewicht wieder her, und ich wurde darauf wieder trocken.“

Der Chef brummte etwas vor sich hin. „Drehen Sie sich um. Zeigen Sie mir die Sohle Ihres rechten Fußes.

Jetzt die linke. Es reicht. Die Verbrennungen scheinen verschwunden zu sein.“

„Soweit ich die Stellen sehen kann. Der Arzt meint die anderen hätten sich ebenfalls regeneriert. Das Jucken hat aufgehört, also muß es stimmen.“

„Ziehen Sie sich wieder an! Dr. Krasny hat mirmitgeteilt, daß es Ihnen wieder gut geht.“

„Wenn es mir noch güter ginge, müßten Sie mir Blut abzapfen.“

„Gut steigert sich aber anders.“

„Na schön, dann geht es mir also am gutesten.“

„Freches Ding! Morgen früh beginnen Sie Ihr Auffrischungstraining. Halten Sie sich für nullneunhundert bereit.“

„Da ich nur mit einem fröhlichen Lächeln angekommen war, brauche ich kaum elf Sekunden zum Packen. Allerdings benötige ich einen neuen Ausweis, einen neuen Paß, eine neue Kreditkarte und etliches an Bargeld …“

„Was Ihnen noch vor nullneunhundert zur Verfügung stehen soll.“

„… denn ich mache keinen Auffrischungskursus; ich fliege vielmehr nach Neuseeland. Chef, ich hab’s Ihnen immer wieder gesagt. Ich bin mehr als reif für einen Urlaub, und ich sage mir, daß ich ein Anrecht auf Ausgleich habe für die Zeit, die ich hier fest liegen mußte. Sie sind ein richtiger Sklaventreiber.“

„Freitag, wie viele Jahre dauert es noch, bis Sie begriffen haben, daß ich stets auch Ihr Wohlergehen im Sinn habe, wenn ich mich einer Ihrer Launen widersetze — natürlich auch den Vorteil der Organisation.“

„Holla-ho, großer Weißer Häuptling! Ich verneige mich vor Ihnen. Und schicke Ihnen eine Ansichtskarte aus Wellington.“

„Bitte mit einer hübschen Maori darauf; die Geysire kenne ich schon. Der Auffrischungskursus wird nach Ihren Bedürfnissen ausgerichtet, und Sie können selbst entscheiden, wann er abgeschlossen ist. Wenn es Ihnen auch am ›gutesten‹ geht, brauchen Sie dochein genau berechnetes Körpertraining mit zunehmender Inanspruchnahme, bis Sie wieder über jene vollkommene Balance von Muskelkraft, Atemtechnik und Reflexen verfügen, die Ihr Geburtsrecht ist.“

„›Geburtsrecht‹. Machen Sie keine billigen Witze Chef; dazu fehlt Ihnen das Talent! ›Meine Mutter war ein Reagenzglas, mein Vater ein Skalpell.‹“

„Sie stellen sich aber sehr töricht an wegen eines Hindernisses, das schon vor Jahren aus dem Weg geräumt wurde.“

„Wirklich? Die Gerichte bleiben dabei, daß ich kein Bürger sein darf; die Kirchen behaupten, ich hätte keine Seele. Ich bin kein ›Mensch, von der Frau geboren‹, zumindest nicht nach Ansicht des Gesetzes.“

„Das Gesetz ist ein Esel. Die Unterlagen, die Ihre Herkunft belegen, sind aus den Akten des Produktions-Labors entfernt worden, ausgetauscht gegen falsche Angaben über eine gesteigerte männliche KP.“

„Das haben Sie mir bisher verschwiegen!“

„Ich brauchte es Ihnen nicht zu sagen, da Sie bis jetzt von Ihrer neurotischen Schwäche nichts an die Oberfläche dringen ließen. Eine Täuschung dieser Art muß aber so rundum wasserdicht abgesichert sein daß die Wahrheit dadurch total verdrängt wird. Und so ist es geschehen. Würden Sie morgen den Versuch machen, ihre wahre Herkunft durchzusetzen, würden Sie nirgendwo eine amtliche Stelle finden, die sich Ihrer Ansicht anschließt. Sie können natürlich jedem davon erzählen; aber das ändert im Grunde nichts.

Meine Liebe, weshalb verschanzen Sie sich derart in dieser Abwehr? Sie sind nicht nur so menschlich wie Eva aus dem Paradies, Sie sind ein gesteigerter Mensch, so vollkommen, wie es den Schöpfern gelin-gen wollte. Warum habe ich mir wohl so große Mühe gegeben, Sie anzuwerben zu einer Zeit, da Sie in diesem Beruf noch keine Erfahrungen und auch noch kein bewußtes Interesse hatten? Warum habe ich ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, Sie auszubilden und zu trainieren? Weil ich die Wahrheit wußte. Ich hatte einige Jahre abgewartet, um sicherzugehen, daß Sie sich wirklich so entwickelten, wie unsere Architekten es planten — dann verlor ich Sie beinahe, als Sie plötzlich von der Landkarte verschwanden.“ Er setzte einen Ausdruck auf, der wohl ein Lächeln sein sollte.

„Sie machten mir großen Kummer, Mädchen. Jetzt aber zu Ihrem Training. Wollen Sie mich wenigstens anhören?“

„Jawohl, Sir.“ (Ich verzichtete darauf, ihm von dem Laborheim zu erzählen; die Menschen glauben, alle Krippen dieser Art seien wie die wenigen, die sie gesehen haben. Ich erzählte ihm nichts von dem Plastiklöffel, der bis zum zehnten Lebensjahr mein einziges Besteck darstellte, denn ich wollte ihm nicht offenbaren, daß ich mir bei meinem ersten Versuch mit der Gabel so heftig in die Lippen gestochen hatte, daß es zu bluten begann. Alle lachten über mich. Es liegt an keiner bestimmten Ursache; vielmehr ist es eine Million kleiner Dinge, die den Unterschied ausmachen zwischen einer Jugend als Menschenkind und einer Aufzucht als Tier.)

„Sie werden eine Auffrischung im waffenlosen Kampf mitmachen, doch Ihre Übungen machen Sie nur mit dem Trainingsleiter; wenn Sie Ihre Familie in Christchurch besuchen, soll Ihr Körper keine Verwundungen aufweisen. Sie werden ein fortschrittliches Training in Handfeuerwaffen absolvieren — unddabei mit Waffen in Berührung kommen, von denen Sie vielleicht noch nie gehört haben. Wenn Sie die Rolle wechseln, brauchen Sie solche Kenntnisse.“

„Boß, ich will kein Tötungsagent werden.“

„Trotzdem müssen Sie Bescheid wissen. Es gibt Momente, da muß auch ein Kurier Waffen tragen und dann braucht er oder sie jeden denkbaren Vorteil. Freitag, Sie sollten die Terminatoren nicht generell verachten. Wie bei jedem Werkzeug liegt der Nutzen oder Schaden in der Art und Weise, wie es benutzt wird. Niedergang und Sturz der früheren Vereinigten Staaten von Nordamerika gingen zum Teil auf Attentate zurück. Aber nur in geringem Maße, da diese Aktionen ohne Plan erfolgten und keinen Zweck verfolgten. Was können Sie mir über den Preußisch-Russischen Krieg sagen?“

„Nicht viel. Außer daß die Preußen gehörig den Hosenboden versohlt bekamen, als das schnelle Geld sie zu Siegern küren wollte.“

„Dazu könnte ich Ihnen sagen, daß zwölf Leute diesen Krieg gewonnen haben — sieben Männer, fünf Frauen — und daß die dabei verwendete schwerste Waffe eine 6-Millimeter-Pistole gewesen ist.“

„Ich kann nicht behaupten, daß Sie mich jemals angelogen hätten. Wie das?“

„Freitag, Intelligenz ist das Gut auf Erden, von dem es am wenigsten gibt, die einzig wirklich wertvolle Sache. Jede menschliche Organisation läßt sich zur Nutzlosigkeit, Machtlosigkeit verdammen, zu einer Gefahr für sich selbst, indem man in sorgfältiger Auswahl ihre klügsten Köpfe entfernt und nur die dummen auf dem Posten läßt. Einige wenige gründlich vorbereitete ›Unfälle‹ reichten aus, um die ge-waltige preußische Kriegsmaschinerie völlig zu ruinieren und in einen trampelnden Mob zu verwandeln. Dies offenbarte sich aber erst, als die Kämpfe längst im Gange waren, weil sich Idioten als Militärgenies ebenso gut machen wie Militärgenies — bis die Kämpfe losgehen.“

„Nur ein Dutzend Leute … Boß? Haben wir dahintergesteckt?“

„Sie wissen genau, daß ich solche Fragen nicht gern höre. Aber wir hatten damit nichts zu tun. Es war ein Auftrag, ausgeführt durch eine Organisation, die so klein und so spezialisiert ist wie die unsere. Ich lege es nicht absichtlich darauf an, uns in Nationalkriege zu verwickeln; die Seite der Engel ist vorher selten klar auszumachen.“

„Trotzdem möchte ich kein Terminator sein.“

„Ich werde es auch nicht zulassen, daß Sie auf Tötungen angesetzt werden, und nun wollen wir nicht mehr darüber sprechen. Halten Sie sich für morgen früh um neun Uhr zur Abreise bereit.“

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