17. Kapitel

Wir machten beides und landeten in Vicksburg.

Es stellte sich heraus, daß die Grenze zwischen Texas und Chicago von beiden Seiten lückenlos dicht war. Ich beschloß, meinen ersten Versuch auf dem Fluß zu machen. Natürlich liegt Vicksburg noch in Texas, doch für meine Zwecke war seine Lage als großer Flußhafen unmittelbar außerhalb der Grenzen des Imperiums der entscheidende Punkt — zumal es der führende Schmugglerhafen war für den Verkehr in beiden Richtungen.

Wie das alte Gallien zerfällt Vicksburg in drei Teile.

Da gibt es die Unterstadt mit dem Hafen, unmittelbar an das Wasser grenzend und zuweilen überflutet und schließlich die Oberstadt auf einer hundert Meter hohen Klippe, die ihrerseits in die alte und die neue Stadt unterteilt ist. Die Altstadt ist umgeben von den Schlachtfeldern eines längst vergessenen Krieges (allerdings nicht von Vicksburg vergessen!). Diese Schlachtfelder gelten hier als heilig; es darf nicht darauf gebaut werden. Folglich erstreckt sich die Neustadt außerhalb dieses heiligen Bodens und erhält ihre Lebensfähigkeit durch ein System von Tunneln und Röhrengängen, die in sich und mit der Altstadt die nötigen Verbindungen herstellen. Die Oberstadt ist mit der Unterstadt durch Fahrtreppen und Kabelbahnen verbunden.

Für mich war die Oberstadt lediglich ein Ort zum Schlafen. Wir tippten uns ins Vicksburg-Hilton ein (das genauso aussah wie das Bellingham-Hilton bis hin zur FRÜHSTÜCKSBAR im Untergeschoß), meineGeschäfte hatte ich aber unten am Fluß zu erledigen.

Es war eine glückliche und traurige Zeit zugleich denn Georges wußte, daß ich ihn nicht weiter mitnehmen würde, und wir stritten nicht mehr darüber.

Ich ließ es nicht einmal zu, daß er mich in die Unterstadt begleitete — und hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß ich möglicherweise nicht zurückkehren würde, daß ich vielleicht nicht einmal die Zeit hatte ihm im Hotel eine Nachricht zu hinterlassen. Wenn der richtige Augenblick kam, mußte ich ins kalte Wasser springen.

Vicksburgs Unterstadt ist ein rauher, gefährlicher Ort und wie ein Misthaufen von kribbelndem Leben erfüllt. Bei Tag patrouilliert die Polizei nur zu zweit; in der Nacht wagt sich niemand in diesen Bezirk. Es ist eine Stadt der Schieber, Huren, Schmuggler, Drogenverkäufer, Drogenvermittler, Buchmacher, Zuhälter, Meuchelmörder, Söldner, Bandenführer Hehler, Geldverleiher, Bettler, zweifelhaften Ärzte Sklavenhändler, Trickbetrüger, Mädchenjungen — was immer man sich vorstellen kann, in der Unterstadt von Vicksburg war es für Geld zu haben. Ein großartiger Ort, und vergessen Sie nicht, sich hinterher einer Blutuntersuchung zu unterziehen.

Es ist die einzige Stadt, in der nach meiner Kenntnis ein Lebendiges Artefakt, vom Entwurf her sofort als solches zu erkennen (vier Arme, keine Beine, die Arme hinten am Schädel — wie auch immer) an eine Bar treten (oder davorrutschen) und ein Bier kaufen kann, ohne daß ihm oder seinen Verformungen irgendwelche Beachtung geschenkt wird. Was meine Art anging, so hatte es keinerlei Bedeutung ob ich künstlich geschaffen war oder nicht — nicht in einerGemeinschaft, von der sich fünfundneunzig Prozent nicht trauten, eine Fahrtreppe zur Oberstadt zu betreten.

Ich war in Versuchung, einfach dort unterzutauchen. Von diesen Außenseitern ging eine Wärme und Freundlichkeit aus, die mich beeindruckte: von ihnen würde ich niemals Verachtung erfahren. Wäre es nicht um meinen Chef gegangen, wie auch um Georges und die Erinnerung an Orte, die besser rochen hätte ich in (Unter-)Vicksburg bleiben und mir eine Tätigkeit suchen können, die zu meinen Talenten paßte.

„Aber ich muß Versprechungen einlösen und noch viele Meilen zurücklegen, ehe ich schlafen kann.“

Master Robert Frost wußte schon, warum jemand weitermachte, obwohl er lieber Schluß machen wollte. Ich kleidete mich wie eine arbeitslose Soldatin, die nach der besten Rekrutierungsmöglichkeit suchte und tat mich in der Flußstadt um. Dabei spitzte ich die Ohren nach Informationen über Flußbootkapitäne, die auch vor lebendiger Fracht nicht zurückscheuten. Ich war enttäuscht, als ich erfuhr, wie wenig Verkehr im Grunde auf dem Fluß herrschte. Aus dem Imperium drangen keine Nachrichten zu uns und es kamen auch keine Boote den Fluß herab; folglich waren nur wenige Schiffe bereit, die riskante Fahrt in diese Richtung anzutreten.

Ich saß also in den Bars der Flußstadt herum, trank Bier in Maßen und gab die Parole aus, daß ich bereit war, für eine Fahrkarte flußaufwärts einen anständigen Preis zu bezahlen. Ich spielte mit dem Gedanken eine Anzeige aufzugeben. Die Spalte für „Gelegenheiten“, die hier weitaus direkter formulierte Anzei-gen enthielt als in Kalifornien, hatte ich mit Interesse verfolgt — offenbar wurde hier alles geduldet, solange es sich auf die Unterstadt beschränkte:

Hassen Sie Ihre Familie?

Sind Sie frustriert, angebunden, gelangweilt?

Ist Ihr Mann/lhre Frau das reinste Brechmittel?

DANN WOLLEN WIR EINEN NEUEN MENSCHEN

AUS IHNEN MACHEN!!!

Verplastisierung — Reorientierung — Ortsverlegung Transsexualisierung — Diskrete Beseitigung Sprechen Sie mit Doc Frank Frankenstein Schöner Sam — Bar Grill Nie zuvor hatte ich bezahlte Morde so offen angezeigt gesehen. Oder verstand ich hier etwas nicht richtig?

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Die obengenannten Dienste kann man sicher auch in jeder anderen großen Stadt in Anspruch nehmen doch dürfte selten so offen dafür geworben werden.

Was die Gewährleistung betraf, so hatte ich da meine Zweifel.

Ich kam zu dem Entschluß, meinen Bedarf nicht durch eine Anzeige bekanntzugeben, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine so öffentliche Maßnahme mir in einer Sache helfen konnte, die im Grunde von Heimlichkeit bestimmt war. Aber ich verfolgte die Anzeigen in der Hoffnung, etwas auszumachen das mir weiterhelfen konnte — und entdeckte einen Text, der wohl nicht nützlich, aber auf jeden Fall interessant war. Ich hielt den Text fest und machte Georges darauf aufmerksam:

W. K. — Mach dein Testament!

Du hast nur noch zehn Tage zu leben.

A. C. B.„Was hältst du davon, Georges?“

„Die erste Anzeige, die wir gesehen haben, gab W.

K. nur noch eine Woche Zeit. Inzwischen ist mehr als eine Woche vergangen, und jetzt hat er noch zehn Tage. Wenn dies so weitergeht, wird W. K. an Altersschwäche sterben.“

„Das meinst du doch nicht ernst!“

„Nein, mein Schatz. Natürlich ist es ein Kode.“

„Was für eine Art Kode?“

„Die einfachste Art von Kode, die deshalb unmöglich zu knacken ist. Die erste Anzeige wies die betreffende Person an — vielleicht sind es ja auch mehrere — etwas zu tun, das die Ziffer sieben trug, oder Nummer sieben zu erwarten. Vielleicht wurde auch eine Aussage gemacht über etwas, das die Bezeichnung ›sieben‹ trug. Diese Anzeige enthält dieselbe Aussage im Hinblick auf das Kode-Objekt zehn. Die Bedeutung der Ziffern läßt sich aber aus einer statistischen Analyse ableiten, da der Kode schon längst wieder geändert sein kann, ehe ein statistisches Universum abgesteckt ist. Ein Idiotenkode, Freitag, der sich nie knacken läßt, wenn der Benutzer so vernünftig ist nicht zu oft zum Brunnen zu gehen.“

„Georges, du redest, als hättest du beim Militär bei der Verschlüsselung gearbeitet.“

„Stimmt, aber nicht dort habe ich mir meine Kenntnisse erworben. Die schwierigste KodeAnalyse, an die man sich je herangewagt hat — ein Vorgang, der heute noch läuft und niemals abgeschlossen sein wird —, ist die Interpretation lebendiger Genfaktoren. Dies alles ist ein Idiotenkode — aber so viele Millionen Mal wiederholt, daß wir unsinnigen Silben mit der Zeit eine Bedeutung zuordnen können.Verzeih mir, daß ich beim Essen über meinen Beruf rede.“

„Unsinn, ich habe damit angefangen. Wir können nicht erraten, was A. C. B. bedeutet?“

„Nein.“

In dieser Nacht schlugen die Mörder zum zweitenmal zu, genau nach Plan. Ich will damit nicht behaupten, daß die beiden Dinge miteinander zu tun hatten.

Beinahe auf die Stunde genau zehn Tage nach dem ersten Angriff begannen sie die zweite Aktion. Der Zeitpunkt verriet uns nichts darüber, welche Gruppe dahinterstand, da sich sowohl der sogenannte Überlebensrat als auch die rivalisierenden „Stimulatoren“ entsprechend geäußert hatten, während die Engel des Herrn über einen zweiten Gewaltakt nichts verlauten ließen.

Zwischen der ersten und der zweiten Terrorwelle gab es Unterschiede, Unterschiede, die mir doch einiges sagen konnten — mir und Georges, da wir natürlich über die Meldungen diskutierten, sobald sie über die Schirme kamen:

a) Keinerlei Meldungen aus dem ChicagoImperium. Das war an sich nichts Neues, da seit den allerersten Berichten über die Ermordung der Demokraten die Nachrichtensperre total gewesen war — gut eine Woche lang was meine Besorgnis doch ziemlich steigerte.

b) Keine Meldungen aus der Kalifornischen Konföderation über diese zweite Gewaltwelle. Von dort waren nur Routinenachrichten zu empfangen. Einige Stunden nach den ersten Durchsagen über einezweite Welle von Hinrichtungen in anderen Ländern kam eine beachtenswerte „Routine“-Meldung aus der Kalifornischen Konföderation. Häuptling „Kriegsschrei“ Tumbril hatte auf Anraten seiner Ärzte eine dreiköpfige Regentschaft mit allen Vollmachten ausgestattet, während er sich einer schon lange aufgeschobenen ärztlichen Behandlung unterzog. Er hatte sich auf seinen Sommersitz zurückgezogen, das Adlernest, in der Nähe von Tahoe gelegen. Die weiteren Berichte über sein Befinden sollten in San José und nicht in Tahoe veröffentlicht werden.

c) Georges und ich waren uns einig über den zu vermutenden — und als ziemlich gewiß anzunehmenden — Hintergrund dieser Meldung. Die ärztliche Behandlung, die der jämmerliche Schauspieler noch brauchte, war die Einbalsamierung, und seine „Regentschaft“ würde sich mit getürkten Meldungen begnügen, bis die internen Machtkämpfe über die Bühne waren.

d) Diesmal gab es keine Berichte über Zwischenfälle außerhalb der Erde.

e) Kanton und die Mandschurei meldeten keine Angriffe.

Berichtigung: Keine solchen Meldungen wurden in Vicksburg, Texas, empfangen.

f) Soweit ich es durch Abhaken einer Liste bestimmen konnte, gingen die Terroristen gegen sämtliche andere Nationen vor. Allerdings hatte meine Erfassung Lücken. Von den gut vierhundert „Nationen“ in den UN bringen einige nur Meldungen hervor, wenn es dort eine totale Sonnenfinsternis gibt. Ich habe also keine Ahnung, was in Wales oder auf den Kanalinseln oder in Swasiland oder Nepal oder auf der Prin-ce Edward-Insel passiert ist, und kann mir auch nicht vorstellen, daß das jemand (der nicht an einem dieser entlegenen Orte lebt) wirklich interessiert. Mindestens dreihundert jener sogenannten souveränen Nationen, die in der UN das Stimmrecht haben, sind reine statistische Gebilde, nur deshalb an Bord, weil sie ein Quartier und Wegzehrung erhalten wollen — sich selbst gegenüber zweifellos von Bedeutung, doch ohne jeden Belang in der Geopolitik. Doch abgesehen von den oben angegebenen Ausnahmen, schlugen die Terroristen in allen großen Ländern zu, und diese Aktionen wurden gemeldet, außer wo strenge Zensur herrschte. g) Die meisten Aktionen gingen fehl. Hierin lag der auffälligste Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Terrorwelle. Vor zehn Tagen hatten die meisten Angreifer ihre Opfer umgebracht und waren in der Regel entflohen. Dieses Bild hatte sich jetzt umgekehrt: Die meisten vorgesehenen Opfer überlebten die meisten Täter starben. Einige waren gefangengenommen worden, wenige hatten entfliehen können.

Dieser letzte Aspekt der zweiten Terrorwelle beruhigte mich hinsichtlich eines nagenden Zweifels, der mich geplagt hatte: Mein Chef stand nicht hinter diesen Anschlägen.

Warum ich das sage? Weil die zweite Serie von Schreckenstaten für den Verantwortlichen im Hintergrund eine Katastrophe war.

Einsatzagenten, sogar schon ganz normale Soldaten, sind sehr teuer; ein Einsatzleiter wird sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ein ausgebildeter Attentäter kostet mindestens zehnmal soviel wie eineinfacher Soldat: Man rechnet nicht damit, daß ein Assassine sich umbringen läßt — meine Güte, nein!

Man geht davon aus, daß er sein Opfer umbringt und sich problemlos absetzt.

Der Unbekannte, der diese Show eingefädelt hatte war über Nacht bankrott gegangen.

Eine absolut nicht professionell aufgezogene Aktion.

Folglich steckte nicht der Chef dahinter.

Trotzdem konnte ich mir nicht ausrechnen, wer bei diesem Trauerspiel die Fäden zog, denn ich konnte nicht ermitteln, wer einen Vorteil davon hatte. Mein erster Gedanke, daß einer der Firmenstaaten dafür zahlte, erschien mir nicht mehr so attraktiv, da ich mir nicht vorstellen konnte, daß sich einer der großen Läden (beispielsweise Interworld) bei der Anwerbung von Agenten mit zweitklassigem Material zufriedengeben würde.

Aber noch unvorstellbarer war es, sich eine der Territorialnationen als Anstifter einer solch grotesken Weltrevolution vorzustellen.

Was die verschiedenen fanatischen Gruppen anging, etwa die Engel des Herrn oder die Stimulatoren so war die Aktion für sie einfach zu groß. Trotzdem schien ein fanatischer Zug in der Sache zu stecken — hier war nicht die Vernunft, hier waren keine pragmatischen Überlegungen am Werk.

Es ist nun mal nicht so, daß ich immer genau weiß was rings um mich vorgeht — eine Wahrheit, die ich oft ziemlich störend finde.

Am Morgen nach der zweiten Terrorwelle herrschte in der Unterstadt von Vicksburg große Aufregung.Ich war eben in einen Saloon gegangen, um beim ersten Barkeeper nach einer Möglichkeit zu fragen, als ein Schlepper neben mir auftauchte. „Gute Nachrichten“, flüsterte mir der Jüngling zu. „Rachels Räuber nimmt Leute auf — Rachel hat mich gebeten, dir das gezielt mitzuteilen.“

„Unsinn!“ antwortete ich höflich. „Rachel kennt mich nicht, und ich kenne keine Rachel.“

„Auf meine Pfadfinderehre!“

„Du warst nie Pfadfinder, und wie man das Wort Ehre schreibt, weißt du auch nicht!“

„Hör mal, Boß!“ sagte er. „Ich habe heute noch nichts zu essen gehabt. Komm mit, du brauchst nichts zu unterschreiben! Ist nur über die Straße.“

Er wirkte tatsächlich ein wenig dürr, aber das mochte auch daran liegen, daß er gerade ins knochige Alter kam, in den Schuß, der die Pubertät begleitet; die Unterstadt ist kein Ort, wo man Hunger leiden muß. In diesem Augenblick aber schaltete sich der Barmann ein: „Verschwinde, Shorty! Belästige meine Kunden nicht. Oder soll ich dir den Daumen brechen?“

„Schon gut, Fred“, gab ich zurück. „Ich melde mich später bei dir.“ Ich ließ einen Schein auf die Bar fallen und verlangte kein Wechselgeld. „Komm, Shorty!“

Rachels Rekrutierungsbüro war doch ein gutes Stück weiter entfernt als nur über die Straße, und unterwegs versuchten mich zwei weitere Rekrutierungsschlepper abzuwerben. Sie hatten allerdings keine Chance, da es mir im Augenblick nur darum ging, daß der arme Junge seine Provision kassierte.

Der weibliche Rekrutierungs-Sergeant erinnerte mich an die alte Kuh, die in der öffentlichen Toilettedes Palasts in San José den Verkaufsstand betrieben hatte. Sie starrte mich an und sagte: „Püppchen, Lagernutten brauchen wir nicht. Aber bleib in der Nähe dann spendier ich dir vielleicht ’nen Drink!“

„Bezahl deinen Schlepper!“ sagte ich.

„Wofür?“ antwortete sie. „Leonard, ich hab’s dir schon mehr als einmal gesagt. ›Keine Flaschen‹ hab’ ich gesagt. Und jetzt zieh los und hol mir was ran!“

Ich griff über den Tisch und packte ihr linkes Handgelenk. Übergangslos erschien ein Messer in ihrer rechten Hand. Ich organisierte die Szene um nahm ihr das Messer ab und steckte es vor ihr in die Tischplatte. Gleichzeitig änderte ich meinen Griff um ihre linke Hand, der ihr jetzt ziemlich unangenehm sein mußte. „Kannst du ihn auch mit einer Hand auszahlen?“ fragte ich. „Oder soll ich dir den Finger brechen?“

„Langsam, langsam!“ antwortete sie, ohne sich zu wehren. „Hier, Leonard!“ Sie griff in eine Schublade und gab ihm einen Texas-Zweier. Er griff danach und verschwand.

Ich lockerte den Griff um ihren Finger. „Mehr zahlst du nicht? Wo heute alle möglichen Rekrutierer unterwegs sind?“

„Seine richtige Provision bekommt er, wenn du unterschrieben hast“, antwortete sie. „Ich kriege mein Moos auch erst, wenn ich die warmblütige Ware liefere. Und kriege eins aufs Dach, wenn sie den Anforderungen nicht genügt. Hättest du was dagegen endlich meinen Finger loszulassen? Ich brauch’ ihn um deine Papiere auszustellen.“

Ich ließ den Finger los; urplötzlich befand sich das Messer wieder in ihrer Hand und zuckte auf mich zu.Diesmal zerbrach ich die Klinge, ehe ich ihr die Waffe zurückgab. „Tu das bitte nicht nochmal!“ sagte ich.

„Bitte. Außerdem solltest du auf besseren Stahl Wert legen. Das war keine Solinger Klinge.“

„Ich ziehe den Preis für das Messer von deinem Beuteanteil ab, meine Liebe“, antwortete sie ungerührt. „Seit du durch die Tür gekommen bist, hast du im Ziel eines Strahls gestanden. Soll ich ihn auslösen?

Oder hören wir mit dem Herumplänkeln auf?“

Ich glaubte ihr nicht, aber der Vorschlag paßte mir ins Konzept. „Keine weiteren Plänkeleien, Sergeant.

Wie sieht die Sache aus. Dein Läufer hat von interessanten Plänen gesprochen.“

„Kaffee und Kuchen und Tarif der Gilde. GildeHandgeld. Neunzig Tage, mit Option seitens des Auftraggebers, um weitere neunzig Tage zu verlängern. Beuteüberschuß wird fünfzig: fünfzig zwischen Mannschaft und Auftraggeber geteilt.“

„Die Rekrutierer in der Stadt bieten aber Gilde plus fünfzig.“ (Ein Schuß ins Dunkle; die Stimmung schien mir aber danach zu sein. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft.)

Sie zuckte die Achseln. „Wenn das stimmt, halten wir natürlich mit. Welche Waffen kennst du? Wir nehmen keine Anfänger. Diesmal nicht.“

„Ich mache dir in jeder Waffe was vor, von der du Ahnung zu haben glaubst. Wo soll’s denn passieren?

Wer kommt zuerst ran?“

„Mmm, du bist aber forsch! Willst du dich als Waffeninstruktor anheuern lassen? Nehme ich dir nicht ab.“

„Ich habe gefragt: ›Wo soll’s passieren? ‹ Fahren wir flußaufwärts?“

„Du hast noch nicht mal unterschrieben und willst schon geheime Informationen haben!“

„Für die ich zu zahlen bereit bin.“ Ich zog fünfzig Lone-Stars in Zehnern aus der Tasche und legte sie vor ihr auf den Tisch. „Wohin geht es, Sergeant? Ich kaufe dir auch ein gutes Messer als Ersatz für den billigen Stahl, den ich knacken mußte.“

„Du bist eine KP.“

„Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Ich will ganz einfach wissen, ob wir flußaufwärts fahren oder nicht. Sagen wir, bis hinauf nach Saint Louis.“

„Willst du dich als Zweiter Ausbilder eintragen lassen?“

„Was? Himmel, nein! Als Stabsoffizier!“ Das hätte ich nicht sagen dürfen — zumindest nicht so bald. In der Mannschaft, die von unserem Chef betreut wird ist die Rangordnung nur vage ausgeprägt, aber ich war immerhin ein hochstehender Offizier in der Weise, daß ich direkt dem Chef unterstand und niemandem sonst — er allein nahm meine Berichte entgegen und gab mir Befehle. Dies wurde durch die Tatsache unterstrichen, daß ich für jeden außer dem Chef Miß Freitag war — soweit ich mich nicht mit einzelnen auf die vertraulichere Anrede eingelassen hatte. Sogar Dr.

Krasny hatte auf den förmlichen Abstand geachtet bis ich ihn aufforderte, mich beim Vornamen zu nennen. Bisher hatte ich mir aber keine konkreten Gedanken über meinen tatsächlichen Rang gemacht.

Zwar hatte ich außer dem Chef niemanden über mir gehabt, doch hatte es für mich auch keine Untergebenen gegeben. Auf einer regulären Übersichtstafel (für die Kompanie meines Chefs hatte ich so eine Darstellung nie zu Gesicht bekommen) wäre ich wohl ei-ner der kleinen Kästen gewesen, die horizontal vom Mittelstrich zum Befehlshaber führen — das heißt, eine Art Oberstabsspezialist, wenn Ihnen solche bürokratischen Begriffe liegen.

„Das ist ja wirklich toll! Wenn du das untermauern willst, mußt du das vor Colonel Rachel tun, nicht vor mir. Ich erwarte sie gegen dreizehn.“ Beinahe geistesabwesend hob sie die Hand, um das Geld an sich zu nehmen.

Ich schnappte ihr die Geldscheine weg, klopfte sie auf dem Tisch gerade und legte sie wieder hin, diesmal aber ein wenig näher vor mir. „Plaudern wir ein bißchen, ehe sie kommt. Jeder Verein in der Stadt wirbt heute Rekruten an; da muß es schon gute Gründe geben, lieber bei der einen Kompanie einzusteigen, anstatt bei der anderen. Findet der vorgesehene Einsatz flußaufwärts statt oder nicht? Und wie weit ist die Fahrt? Geht es gegen echte Profis? Oder Ahnungslose? Oder Dorftrottel? Ein Entscheidungsangriff? Oder zuschlagen und wieder ausbüchsen?

Oder beides? Plaudern wir ein bißchen, Sergeant.“

Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Geld.

Gleich darauf legte ich weitere zehn Lone-Stars säuberlich auf die fünfzig und wartete.

Ihre Nasenflügel bebten, doch sie griff nicht nach dem Geld. Nach einigen Sekunden stapelte ich einen weiteren Texas-Zehner.

Heiser sagte sie: „Laß das Zeug verschwinden oder gib es mir! Es könnte jemand kommen.“

Ich nahm das Geld und reichte es ihr. „Danke, Miß“ sagte sie und ließ es verschwinden. „Ich glaube, wir fahren mindestens bis Saint Louis flußaufwärts.“

„Gegen wen kämpfen wir?“

„Also … wenn du das weitererzählst, werde ich es nicht nur abstreiten, sondern dir zusätzlich das Herz aus dem Leib reißen und an die Fische verfüttern.

Vielleicht kommt es gar nicht zum Kampf. Anzunehmen ist es, aber es ist keine vorprogrammierte Schlacht. Wir alle werden Leibwächter für den neuen Vorsitzenden sein — den neuesten, sollte ich sagen. Er ist noch gar nicht so recht aus der Taufe gehoben worden.“

(Volltreffer!) „Interessant. Warum heuern auch die anderen Mannschaften neue Leute an? Wirbt der neue Vorsitzende denn alle an? Nur als Palastwache?“

„Miß, ich wünschte, ich wüßte es. Ehrlich, das wüßte ich selbst gern.“

„Vielleicht sollte ich das herauszufinden versuchen. Wieviel Zeit habe ich? Wann legen wir ab?“

Hastig fügte ich hinzu: „Oder fahren wir vielleicht gar nicht mit dem Schiff? Vielleicht hat Colonel Rachel AAF in die Finger bekommen?“

„Ah … verdammt, wieviel geheime Informationen erwartest du für lausige siebzig Stars?“

Ich überlegte. Es machte mir nichts aus, Geld auszugeben, aber ich mußte sicher sein, daß ich ordentliche Ware dafür bekam. Wenn Truppenbewegungen solchen Umfangs im Gange waren, würden die Schmuggler nicht flußaufwärts fahren, zumindest nicht diese Woche. Ich mußte also den verfügbaren Verkehr ausnutzen.

Aber nicht als Offizier! Ich hatte den Mund zu weit aufgerissen. Ich blätterte zwei weitere Zehner heraus und wedelte damit vor ihrer Nase herum. „Sergeant,fährst du auch mit flußaufwärts?“

Sie beäugte die Geldscheine. Ich ließ einen vor ihr auf den Tisch fallen, wo er sofort verschwand. „Ich würde so etwas auf keinen Fall versäumen wollen Schätzchen. Sobald ich dieses Büro geschlossen habe bin ich Kompanie-Sergeant.“

Ich ließ den anderen Schein fallen; er gesellte sich zu den übrigen. „Sergeant“, sagte ich, „wenn ich warte und mit deinem Colonel spreche, und wenn sie mich dann anheuert, dann bestimmt als persönlicher Adjutant oder für Logistik und Versorgung oder ähnliche langweilige Sachen. Ich brauche das Geld nicht und kann ohne die Sorgen leben, die mir so ein Job verschafft; ich möchte vielmehr Urlaub machen.

Kannst du einen ausgebildeten einfachen Kämpfer gebrauchen? Den du zum Korporal oder zweiten Sergeant machen könntest, sobald du deine Rekruten sortiert hast und weißt, welche Posten noch zu besetzen sind?“

Sie musterte mich säuerlich. „Das hat mir gerade noch gefehlt. Eine Millionärin in meiner Kompanie.“

Ich empfand mit ihr; kein Sergeant wünscht sich einen gutbetuchten Offizier in seiner/ihrer Abteilung.

„Ich habe nicht die Absicht, den Millionär zu spielen; ich möchte einfach zur Truppe gehören. Wenn du mir nicht traust, kannst du mich ja in irgendeinen anderen Zug stecken.“

Sie seufzte. „Ich sollte mich auf meinen Geisteszustand untersuchen lassen. Nein, ich bringe dich unter wo ich dich im Auge behalten kann.“ Sie griff in eine Schublade und nahm ein Formular mit der Überschrift BEGRENZTE VERPFLICHTUNG heraus.

„Lies das durch, dann unterschreib! Dann nehme ichdir den Eid ab. Irgendwelche Fragen?“

Ich sah mir den Vordruck an. Das meiste waren Routinesachen über die Kompaniekasse und Haschgeld und ärztliche Versorgung und GildeTarife und Handgeld — dazwischen aber fand sich eine Regelung, die die Zahlung des Handgeldes auf den zehnten Tag nach der Rekrutierung festlegte.

Verständlich. Ich sah darin die Garantie, daß man wirklich in den Einsatz wollte, und zwar sofort und flußaufwärts. Was jedem Söldner-Zahlmeister schlaflose Nächte bereitet, ist die Möglichkeit, daß seine Schäfchen mit dem Handgeld abhauen könnten.

Heute waren sämtliche Schlepper unterwegs, und da hätte ein erfahrener Soldat sich schon fünf- oder sechsmal anwerben lassen und jedesmal Handgeld kassieren können, um sich dann in einen Bananenstaat abzusetzen — es sei denn, die vertraglichen Bedingungen hätten das unterbunden.

Die Verpflichtung lautete auf Colonel Rachel Danvers persönlich, beziehungsweise auf ihren rechtlichen Nachfolger, sollte sie fallen oder zum Kommandieren nicht mehr in der Lage sein. Der Unterzeichner war verpflichtet, ihre Befehle auszuführen, wie auch jene der Offiziere und Unteroffiziere, die sie mir als Vorgesetzte zuwies. Ich erklärte mich einverstanden treu zu kämpfen und keine Gnade zu erbitten, wie es im internationalen Gesetz und in den Kriegsbräuchen üblich war.

Das Ganze war so vage formuliert, daß man schon eine ganze Horde von Anwälten aus Philadelphia hätte anrücken lassen müssen, um die Grauzonen zu definieren — was überhaupt keine Bedeutung hatte da im entscheidenden Augenblick sämtliche Mei-nungsunterschiede dem Unterzeichner eine Kugel in den Rücken einbrachten.

Die Gültigkeitsdauer war, wie der Sergeant schon geäußert hatte, neunzig Tage, wobei der Colonel die Möglichkeit hatte, mit Zahlung eines zweiten Handgeldes die Frist um weitere neunzig Tage zu verlängern. Weitere Verlängerungen waren im Vertrag nicht vorgesehen, was mich doch etwas stutzig machte. Was für eine Art Leibwächterkontrakt mochte das sein, der nur sechs Monate gültig war und dann einfach aufgehoben sein sollte?

Entweder log mir der Rekrutierungs-Sergeant etwas vor, oder jemand anders hatte sie belogen, und sie war nicht schlau genug, die Unlogik zu erkennen.

Egal, es hatte keinen Sinn, sie danach zu fragen. Ich griff nach einem Stift. „Komme ich gleich zum Sanitätsoffizier?“

„Machst du Witze?“

„Was sonst?“ Ich unterschrieb und sagte dann: „Ich schwöre“, nachdem sie mir voller Eile einen Eid heruntergerasselt hatte, der mehr oder weniger dem Vertragstext entsprach.

Sie betrachtete meine Unterschrift. „Jones — was bedeutet das ›F‹?“

„Freitag.“

„Ein blöder Name. Im Dienst bist du Jones. Außer Dienst nenne ich dich Jonie.“

„Wie du willst, Sergeant. Bin ich jetzt im Dienst oder dienstfrei?“

„Du bist gleich dienstfrei. Hier deine Befehle!

Sammelpunkt am Ende der Shrimp Alley! Dort steht ein Schild ›Woo Fang and Levy Brothers Inc.‹. Finde dich dort vierzehn Uhr ein, abmarschbereit! Nimmdie Hintertür! Bis zu diesem Zeitpunkt hast du frei und kannst deine Privatangelegenheiten regeln. Du kannst jedem von dieser Anwerbung erzählen, aber unter Hinweis auf die Disziplinarvorschriften muß ich dich auffordern, Dritten gegenüber keine Mutmaßungen über die Art des Einsatzes zu äußern, den wir planen.“ Diesen letzten Satz spulte sie so schnell herunter, als wäre er eine Aufzeichnung. „Brauchst du Geld für das Mittagessen? Nein, das nehme ich nicht an. Das wäre alles, Jonie. Freut mich, dich in meiner Truppe zu haben. Wir werden eine gute Expedition aufziehen.“ Sie winkte mich heran.

Ich kam der Aufforderung nach; sie legte mir einen Arm um die Hüfte und lächelte zu mir empor. Innerlich zuckte ich die Achseln und sagte mir, daß dies nicht der rechte Augenblick sei, den KompanieSergeant gegen mich aufzubringen. Ich erwiderte das Lächeln, beugte mich hinab und küßte sie. Gar nicht mal übel. Sie roch wenigstens nicht aus dem Mund.

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