Vermutlich hat jeder mehr oder weniger dasselbe Bild vor Augen, wenn er an den Roten Donnerstag und die nachfolgenden Ereignisse denkt. Aber um mich selbst klar zu zeichnen (mir selbst gegenüber wenn das möglich ist!), muß ich schildern, wie ich diesen Tag sah, einschließlich der Wirrnisse und Zweifel.
Wir vier landeten schließlich doch in Janets großem Bett, aber zum gegenseitigen Trost und damit wir es möglichst bequem hatten; an Sex dachte niemand mehr. Mit gespitzten Ohren lauschten wir auf die Nachrichten, unsere Blicke waren auf den Bildschirm des Terminals gerichtet. Immer wieder kamen mehr oder weniger dieselben Meldungen durch — ein fehlgeschlagener Angriff durch Québec, der Vorsitzende des Chicago-Imperiums im Bett umgebracht, die Grenze zum Imperium geschlossen, unbestätigte Sabotageberichte, bleibt von den Straßen, haltet Ruhe! — doch so oft das auch alles wiederholt wurde, wir hielten immer wieder den Mund und hörten zu, auf Details wartend, die die anderen Meldungen mit Sinn erfüllen würden.
Statt dessen verschlimmerten sich die Dinge im Laufe der langen Nacht noch mehr. Gegen vier Uhr früh wußten wir, daß es überall auf der Erde zu Morden und Sabotageakten kam; als das Tageslicht zurückkehrte, gab es unbestätigte Meldungen über Unruhen auf L-4, in der Tycho-Station, in der Stationärstation sowie (aufgrund einer abgebrochenen Übermittlung) auf Ceres. Niemand vermochte zu sagen,ob sich die Unruhen bis nach Alpha Centauri oder Tau Ceti ausgebreitet hatten … doch ein amtlicher Sprecher im Terminal gab seiner Meinung Ausdruck indem er sich lauthals weigerte, seine Meinung zu sagen und Zuschauern riet, keine schädlichen Mutmaßungen anzustellen.
Gegen vier Uhr machten Janet und ich belegte Brote und servierten Kaffee.
Um neun Uhr erwachte ich, weil Georges sich bewegte. Ich stellte fest, daß ich ihm den Kopf auf die Brust gelegt hatte und mein Arm ihn drückte. Ian lag halb aufgerichtet auf der anderen Seite des Bettes, ein Kissen im Rücken — doch obwohl sein Gesicht dem Bildschirm zugewendet war, hatte er die Augen geschlossen. Janet fehlte — sie hatte sich in mein Zimmer zurückgezogen und belegte nun das Bett, das eigentlich für mich bestimmt gewesen war.
Indem ich mich vorsichtig bewegte, vermochte ich mich von Georges zu lösen, ohne ihn zu wecken. Ich verschwand im Badezimmer, wo ich den Kaffee loswurde und mich gleich besser fühlte. Ich warf einen Blick in „mein“ Zimmer und entdeckte die fehlende Gastgeberin. Sie war wach und forderte mich mit Fingerbewegungen auf, zu ihr zu kommen. Sie machte mir Platz, und ich kroch zu ihr unter die Dekke. Sie küßte mich. „Wie geht es den Jungs?“
„Beide schlafen noch. Wenigstens galt das vor drei Minuten noch.“
„Gut. Sie brauchen ihren Schlaf. Beide machen sich unnötig Sorgen; ich nicht. Ich kam zu dem Schluß daß es keinen Sinn hat, am Weltuntergang mit blutunterlaufenen Augen teilzunehmen, und zog mich hierher zurück. Du schliefst wohl schon.“
„Mag sein. Ich weiß nicht mehr, wann ich entschlummert bin. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, dieselbe schlechte Nachricht tausendmal gehört zu haben. Dann bin ich wieder aufgewacht.“
„Du hast nichts verpaßt. Ich habe den Ton leiser gestellt, aber den Schriftlauf am Schirm beibehalten — an der traurigen Geschichte hat sich nicht viel geändert. Marjorie, die Jungs warten darauf, daß die Bomben fallen. Ich aber glaube nicht, daß es dazu kommt.“
„Hoffentlich hast du recht. Warum nicht?“
„Wer wirft H-Bomben auf wen? Wer ist der Feind?
Alle großen Machtblöcke stecken in der Klemme wenn man den Meldungen trauen kann. Bis auf den Zwischenfall, der anscheinend auf einen dummen Fehler eines Québecois General zurückgeht, sind nirgendwo Streitkräfte zum Einsatz gekommen. Es gibt zwar Morde, Brandschatzungen, Explosionen, alle möglichen Sabotageakte, Unruhen, terroristische Untaten aller Art — aber ein Grundmuster wird darin nicht erkennbar. Nicht der Osten steht gegen den Westen, oder die Marxisten gegen die Faschisten, oder die Schwarzen gegen die Weißen. Marjorie, sollte irgend jemand die Raketen losschicken, würde das bedeuten, daß die ganze Welt verrückt geworden ist.“
„Sieht es nicht längst danach aus?“
„Ich glaube nicht. Das Grundmuster in diesem Tohuwabohu besteht darin, daß es keines hat. Jedermann ist das Ziel. Die Unruhen scheinen sich gegen alle Regierungen gleichermaßen zu richten.“
„Anarchisten?“ meinte ich.
„Vielleicht Nihilisten.“
Ian betrat das Zimmer; er hatte Ringe unter denAugen, Bartstoppeln und ein besorgtes Gesicht und trug einen zu kurz geratenen Bademantel. Seine knochigen Knie stachen hervor. „Janet, ich kann Betty und Freddie nicht erreichen.“
„Wollten die denn nach Sydney zurück?“
„Das ist es nicht. Ich komme weder nach Sydney noch nach Auckland durch. Man hört immer nur wieder die verdammte synthetische Computerstimme: ›Im — Augenblick — keine — Leitung — frei — bitte versuchen — Sie — es — später — noch — einmal — vielen Dank — für — Ihre Geduld.‹ Du weißt schon.“
„Autsch. Sabotage auch auf diesem Gebiet?“
„Möglich. Vielleicht ist alles noch viel schlimmer.
Nach dem Versuch rief ich den Tower des Flughafens an und erkundigte mich, was denn mit dem Winnipeg-Auckland-Satellitenrelais los sei. Mein Dienstgrad verschaffte mir endlich eine Verbindung mit dem Flugleiter. Er riet mir, meine kleinen Sorgen mit dem Telefon zu vergessen, weil es viel ernsthaftere Probleme gebe. Alle SBR liegen am Boden fest — zwei wurden im All sabotiert, Winnipeg — Buenos-Aires Zwei-neun und Vancouver-London Eins-null-eins.“
„Ian!“
„Beide Totalverlust. Keine Überlebenden. Zweifellos Druckauslöser, da beide Raketen beim Verlassen der Atmosphäre explodierten. Jan, beim nächsten Start werde ich höchstpersönlich alles überprüfen.
Beim geringsten Zweifel unterbreche ich den Countdown.“ Er fügte hinzu: „Wann das aber sein mag weiß ich nicht. Man kann keine SBR starten, wenn die Komm-Leitungen zum Zielhafen unterbrochen sind — und der Flugleiter sagte, alle Satelliten-ReflektorVerbindungen seien verlorengegangen.“Janet verließ das Bett, richtete sich auf und gab ihm einen Kuß. „Jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen! Auf der Stelle! Natürlich wirst du alles persönlich überprüfen, solange man die Saboteure nicht erwischt hat.
Für den Augenblick wirst du dir das Problem aber aus dem Kopf schlagen, da man dich erst wieder in den Dienst holen wird, wenn die KommVerbindungen wieder stehen. Nimm’s als Urlaub!
Was Betty und Freddie angeht, so ist es natürlich schade, daß wir nicht mit ihnen sprechen können, die beiden sind aber durchaus in der Lage, auf sich allein aufzupassen, und das weißt du natürlich. Zweifellos machen sie sich Gedanken über uns, und das ist natürlich ebenfalls überflüssig. Ich freue mich nur, daß das alles passiert ist, als du zu Hause warst — und nicht irgendwo auf der anderen Seite des Erdballs.
Du bist hier und in Sicherheit, und nur das ist mir wichtig. Wir warten hier einfach ab, bis der ganze Unsinn vorbei ist.“
„Ich muß nach Vancouver.“
„Mein lieber Ehemann, ›müssen‹ tust du überhaupt nichts mehr, außer Steuern zu zahlen und zu sterben.
Man wird nicht gleich Artefakte in die Kanzeln stekken, wenn überhaupt keine SBR starten.“
„›Artefakte!‹“ platzte ich heraus und bedauerte meine Unbedachtheit sofort.
Ian schien mich zum erstenmal wahrzunehmen.
„Hallo, Marj — guten Morgen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen — ich bedaure nur den ganzen Wirrwarr, der eingetreten ist, während du unser Gast bist. Die Artefakte, von denen Jan spricht, sind keine Geräte; sie leben. Unsere Direktion verfolgt die verrückte Idee, daß ein als Pilot entworfenes LebendigesArtefakt die Arbeit besser verrichten könnte als ein Mensch. Ich bin Gewerkschaftsabgeordneter für die Gruppe Winnipeg und muß dagegen angehen. Morgen ist in Vancouver ein Treffen der Manager-Gilde.“
„Ian“, sagte Jan, „ruf den Generalsekretär an! Es wäre dumm, nach Vancouver zu reisen, ohne vorher zurückzufragen.“
„Okay, okay.“
„Aber frage nicht nur nach der Lage. Du sollst den Generalsekretär drängen, Einfluß auf die Direktion dahingehend auszuüben, daß die Sitzung erst nach Beendigung der Krise stattfindet. Ich möchte, daß du hierbleibst und uns beschützt.“
„Das gilt aber auch umgekehrt.“
„Natürlich“, räumte sie ein. „Aber wenn es nötig ist, sinke ich dir ohnmächtig in die Arme. Was hättest du gern zum Frühstück? Mach es nicht zu kompliziert sonst erinnere ich dich an deine Küchenpflichten.“
Ich hörte nicht richtig zu. Das Wort „Artefakt“ hatte meinen Gedanken eine neue Richtung gegeben.
Ich hatte Ian — und seine anderen Freunde und Verwandten — für so zivilisiert und gebildet gehalten daß sie Lebewesen von meiner Art auf jeden Fall als vollwertige Menschen akzeptierten.
Und jetzt mußte ich erfahren, daß Ian sich darauf festgelegt hatte, seine Gewerkschaft gegenüber der Direktion zu vertreten, mit dem Ziel, einen Wettbewerb zwischen meiner Gattung und Menschen zu verhindern.
(Was sollen wir denn tun, Ian? Uns die Kehlen durchschneiden? Wir haben nicht verlangt, produziert zu werden, ebensowenig wie du gefordert hast, geboren zu werden. Mag sein, daß wir keine Menschen sind, aber wir tei-len das uralte Schicksal der Menschen: wir sind Fremde in einer Welt, die wir nicht geschaffen haben.)
„Also, Marj?“
„Äh … Entschuldigung — ich war in Gedanken versunken. Was hast du gesagt, Jan?“
„Ich habe dich gefragt, was du zum Frühstück haben möchtest, meine Liebe.“
„Ach, das ist egal. Ich esse alles, was ich zwischen die Finger bekommen kann. Soll ich mitkommen und helfen? Bitte!“
„Ich hatte gehofft, daß du das sagst. Ian ist nämlich in der Küche nicht sonderlich geschickt, obwohl er seine Dienstverpflichtung kennt.“
„Ich bin ein verdammt guter Koch!“
„Ja, mein Lieber, Ian hat es mir schriftlich gegeben jederzeit für uns zu kochen, wenn ich es wünschte.
Und das tut er auch; er hat noch nie versucht, sich da herauszuwinden. Aber ich muß schon schrecklich hungrig sein, um mich darauf einzulassen.“
„Marj, hör bloß nicht auf sie!“
Ich weiß bis heute nicht, ob Ian kochen kann — Janet aber kann es auf jeden Fall (und ebenso Georges, wie ich später erfuhr). Janet servierte uns — mit bescheidener Unterstützung durch mich — leichte, lockere und milde Käseomelettes, umgeben von dünnen zarten Palatschinken, die nach guter böhmischer Art gerollt und mit Marmelade gefüllt und mit Puderzucker überstreut waren, garniert mit trocken gebratenem Speck. Dazu Orangensaft aus frisch gepreßten Früchten — mit der Hand gepreßt und nicht durch eine Maschine zu Brei zermalmt. Und schließlich Filterkaffee aus frisch gemahlenen Bohnen.
(In Neuseeland gibt es vorzügliche Lebensmittel,während die Küche etwas zu wünschen übrigläßt.)
Georges erschien mit dem sicheren Zeitgefühl einer Katze — in diesem Falle geleitet von Mama-Katze, die Georges majestätisch vorausschritt. Sofort verbannte Janet die Jungtiere aus der Küche, weil sie zuviel zu tun hatte, um auch noch auf die herumkriechenden Kätzchen zu achten. Janet bestimmte außerdem, daß während des Essens die Nachrichten ausgeschaltet blieben und daß die Krise nicht zu den Gesprächsthemen am Tisch gehörte. Das war mir nur recht, da mich die seltsamen und schwerwiegenden Ereignisse nachhaltig beschäftigt hatten, sogar im Schlaf. Janet wies uns nicht zu Unrecht darauf hin daß nur eine H-Bombe unsere Abwehr durchstoßen könnte — eine Explosion, die wir vermutlich gar nicht mehr mitbekommen würden. Man könnte sich also genausogut entspannen und das Frühstück genießen.
Ich genoß es — ebenso die Katzenmutter, die im Gegenuhrzeigersinn um den Tisch strich und jeden von uns informierte, wenn es an der Zeit war, ihr ein Stück Speck zukommen zu lassen — ich glaube, sie bekam den größten Teil des Specks ab.
Nachdem ich das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatte (das nicht vernichtet, sondern wiederverwendet werden sollte; in mancher Beziehung war Janet eben altmodisch), machte Janet einen frischen Topf Kaffee und schaltete die Nachrichten wieder ein. Wir setzten uns zurecht, um die Meldungen zu verfolgen und zu besprechen — diesmal nicht in dem großen Raum, den wir zum Abendessen benutzt hatten, sondern in der Küche, die das eigentliche Wohnzimmer dieser Gemeinschaft war. Janet besaß eine sogenannte „Bauernküche“, obwohl kein Bauer es je so gut gehabthatte: ein großer Kamin, ein runder Tisch für die Familienmahlzeiten mit sogenannten Kapitänsstühlen große, bequeme Freizeitstühle, das Ganze inmitten eines weitläufigen Raums, in dem es keine Verkehrsprobleme gibt, da das Kochen am entgegengesetzten Ende stattfindet. Nun durften auch die jungen Katzen wieder herein, was ihrem Protest ein Ende machte und mit steif emporgereckten Schwänzen paradierten sie über die Schwelle. Ich griff mir ein kuscheliges weißes Tier mit großen schwarzen Flecken; sein Schnurren wirkte wie das einer viel größeren Katze.
Offensichtlich hatte sich Katzenmamas Liebesleben nicht nach den Regeln des Rassebuches vollzogen; von den Kätzchen sahen sich keine zwei ähnlich.
Die Nachrichten bestanden überwiegend aus den schon bekannten Meldungen, allerdings gab es im Imperium eine neue Entwicklung:
Demokraten wurden aufgespürt, von Standgerichten (die hier Provost-Tribunale hießen) verurteilt und auf der Stelle hingerichtet — mit Laser oder Gewehren, da und dort auch mit dem Strick. Ich mußte meine Gedankenkontrolle streng handhaben, um mir das anschauen zu können. Man verurteilte sie bis zum Alter von vierzehn Jahren — wir sahen ein Elternpaar beide verurteilt, das darauf bestand, daß der Sohn der hingerichtet werden sollte, erst zwölf sei.
Der Vorsitzende des Gerichts, ein Polizeikorporal des Imperiums, beendete das Streitgespräch, indem er die Handwaffe zog, den Jungen niederschoß und dann seiner Abteilung Befehl gab, die Eltern und die ältere Schwester des Jungen wegen Landfriedensbruch ebenfalls hinzurichten.
Ian schaltete das Bild aus und stellte den Schriftlaufein, dessen Ton er leiserdrehte. „Von diesen Dingen habe ich genug gesehen“, sagte er kehlig. „Wer immer da jetzt an der Macht ist, nachdem der alte Vorsitzende nicht mehr lebt, scheint mir die gesamte Verdächtigenliste zu liquidieren.“
Er biß sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. „Marj, bestehst du auf deinem dummen Plan sofort nach Hause zurückzukehren?“
„Ich bin kein Demokrat, Ian. Ich bin unpolitisch.“
„Glaubst du, der Junge war politisch? Diese Bluthunde würden dich doch glatt zur Übung erschießen.
Außerdem kannst du gar nicht zurück. Die Grenze ist zu.“
Ich sagte nichts davon, daß ich vermutlich jede Grenze auf der Erde hätte überwinden können. „Ich dachte, sie wäre nur für Leute geschlossen, die in den Norden wollten. Dürfen denn Bürger des Imperiums nicht nach Hause zurückkehren?“
Er seufzte. „Marj, bist du denn nicht klüger als die Katze in deinem Schoß? Begreifst du nicht, daß hübsche junge Mädchen Schaden erleiden können, wenn sie sich auf Spielchen mit bösen Jungen einlassen?
Wenn du zu Hause wärst, würde dein Vater sicher darauf bestehen, daß du das Haus nicht verläßt. Aber du bist hier bei uns, und das erlegt mir und Georges die Verpflichtung auf, für deine Sicherheit zu sorgen.
Was meinst du, Georges?“
„Mais oui mon vieux! Certainement!“
„Und ich schütze dich vor Georges. Jan, kannst du dieses Kind nicht davon überzeugen, daß sie hier herzlich willkommen ist, so lange sie bleiben möchte?
Ich glaube fast, sie gehört zu der Sorte von Frau, die die Selbstbestätigung sucht und in jedem Falle ihreRechnung selbst bezahlen möchte.“
„Das stimmt nicht!“ wandte ich ein.
„Marjie“, sagte Janet, „Betty hat mir aufgetragen ich soll mich um dich kümmern. Wenn du meinst, du fällst uns auf den Wecker, kannst du ja beim Roten Kreuz von Brit-Kan mithelfen. Oder in einem Heim für zornige Katzen. Zufällig aber ergibt es sich, daß wir alle drei lachhaft viel verdienen und keine Kinder haben. Wir können dich uns ebenso problemlos leisten wie eine weitere Katze. Also — wirst du bleiben?
Oder muß ich deine Sachen verstecken und dich durchwalken?“
„Ich möchte nicht durchgewalkt werden.“
„Schade, darauf hätte ich mich gefreut. Das wäre also geregelt, meine Herren; sie bleibt. Marj, wir haben dich angeschwindelt. Georges ist ein gemeiner Kerl — er wird von dir verlangen, zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten für ihn Modell zu sitzen — und er bekommt dich gewissermaßen umsonst, anstatt die üblichen Honorare zahlen zu müssen. Er wird mit dir Gewinne ausweisen.“
„Nein“, sagte Georges. „Ich werde keine Gewinne ausweisen, ich werde aus der ganzen Sache generell gewinnen. Denn sie wird bei mir als Geschäftsausgabe auftauchen, meine liebe Jan. Aber nicht zum üblichen Grundhonorar der Gilde; sie ist mehr wert. Anderthalb?“
„Mindestens. Ich würde sogar sagen, das Doppelte — sei großzügig, da du ihr sowieso nichts zahlen wirst. Hättest du sie nicht gern auf deinem Kampus?
In deinem Labor, meine ich.“
„Ein guter Gedanke — und der ist mir tatsächlich schon durch den Kopf gegangen — vielen Dank, daßdu ihn offen ausgesprochen hast.“ Georges wandte sich an mich: „Marjorie, verkaufst du mir ein Ei?“
Seine Frage ließ mich zusammenfahren. Ich tat, als hätte ich nicht verstanden, was er meinte. „Ich habe keine Eier.“
„Oh, doch! Genau genommen mehrere Dutzend weitaus mehr, als du je für deine eigenen Zwecke brauchst. Ich meine natürlich eine menschliche Eizelle. Das Labor zahlt weitaus mehr für ein Ei als für Sperma — das ist einfache Mathematik. Bist du jetzt schockiert?“
„Nein. Überrascht. Ich dachte, du wärst Künstler.“
„Marjorie“, schaltete sich Janet ein, „ich habe dir gesagt, daß Georges in mehreren Disziplinen Künstler ist — und das stimmt. Zum einen ist er MendelProfessor für Teratologie an der Universität von Manitoba — außerdem Cheftechnologe für das angegliederte Produktions-Labor samt Krippe — und du kannst mir glauben, daß er da wirklich einen hohen Grad von Kunst beweisen muß. Aber auch mit Farbe und Leinwand kann er umgehen. Wie auch mit einem Computerbildschirm.“
„Stimmt genau“, sagte Ian. „In allem, was Georges berührt, ist er Künstler. Aber ihr beiden hättet Marjorie nicht damit überfallen dürfen, während sie noch unser Gast ist. Es gibt Leute, die sich schon beim Gedanken an Gen-Manipulationen schrecklich aufregen — besonders wenn es um ihre eigenen Gene geht.“
„Marj, habe ich dich verwirrt? Das tut mir leid.“
„Nein, Jan. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die beim Gedanken an Lebendige Artefakte oder Künstliche Personen oder dergleichen in Panik geraten. Zu meinen besten Freunden gehörten Künstliche Personen.“
„Meine Liebe, jetzt übertreibst du aber etwas“ sagte Georges leise.
„Warum sagst du das?“ fragte ich und versuchte meine Stimme nicht schrill klingen zu lassen.
„Ich könnte diesen Anspruch erheben, weil ich auf diesem Gebiet tätig bin und eine Anzahl von Künstlichen Personen zu meinen Freunden zählen kann, was mich doch mit Stolz erfüllt. Aber…“
„Ich dachte, eine KP dürfe nie die Leute kennen die sie entworfen haben?“ unterbrach ich ihn.
„Stimmt, und ich habe diese Grundregel auch nie übertreten. Aber ich habe oft Gelegenheit, mit Lebendigen Artefakten und Künstlichen Personen zusammenzukommen — da gibt es Unterschiede — und ihre Freundschaft zu gewinnen. Aber verzeih mir, liebe Marjorie, wenn du nicht in meinem Beruf tätig bist — bist du das?“
„Nein.“
„Nur ein Genetik-Ingenieur oder jemand, der enge Beziehungen zu dieser Industrie hat, kann behaupten unter den Künstlichen Personen Freunde zu haben.
Denn entgegen der allgemeinen Auffassung ist es einem Laien nicht möglich, zwischen einer KP und einer natürlichen Person zu unterscheiden — außerdem wird eine KP wegen der tiefsitzenden Vorurteile unwissender Leute ihre Abweichung beinahe nie freiwillig eingestehen — ich möchte sogar von ›niemals‹ sprechen. Ich freue mich zwar, daß du beim Thema Künstlicher Kreaturen nicht gleich an die Decke gehst, muß deine Behauptung aber als kleine Lüge werten, die uns zeigen soll, daß du von Vorurteilen frei bist.“
„Nun ja … Na, schön. Du kannst es meinetwegen sosehen. Ich verstehe nur nicht, warum KP Bürger zweiter Klasse sein müssen. Ich halte das für unfair.“
„Das ist es auch. Manche Menschen fühlen sich aber bedroht. Frag Ian. Er ist im Begriff, nach Vancouver zu eilen, um zu verhindern, daß KP jemals Piloten werden. Er …“
„Mooooment! Das stimmt nun wirklich nicht! Ich trage die Sache dort so vor, weil meine Genossen aus der Gilde für diese Formulierung gestimmt haben.
Ich bin aber kein Dummkopf, Georges; die Diskussionen und das Zusammenleben mit dir haben mir gezeigt, daß wir einen Kompromiß werden schließen müssen. Im Grunde sind wir längst keine richtigen Piloten mehr, und das gilt schon seit Beginn dieses Jahrhunderts. Der Computer tut die eigentliche Arbeit. Fiele der Computer aus, würde ich mich wie ein braver Pfadfinder anstrengen, den Kasten heil aus dem Himmel zu holen. Ob mir das aber gelingt, steht in den Sternen. Die Geschwindigkeiten, die dabei auftreten, und die Notfälle, die passieren können sind mit menschlichem Reaktionstempo seit Jahren nicht mehr zu bewältigen. Oh, ich werde es versuchen — und das gilt für jeden Genossen aus meiner Gilde. Georges, wenn du aber der Meinung bist, du könntest eine Künstliche Person entwerfen, die schnell genug denken und reagieren kann, um bei der Landung ein Problem auszubügeln, gehe ich gern in Pension. Und genau das wollen wir ja auch erreichen — will die Firma KP-Piloten einsetzen, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen, muß das bei voller Bezahlung und mit allen Nebenleistungen erfolgen. Falls man solche Ersatzwesen bauen kann.“
„Oh, entwerfen könnte ich so ein Wesen — mit derZeit. Und hätte ich dieses Ziel erreicht, könntet ihr Piloten alle zum Angeln fahren — vorausgesetzt, ich dürfte mein Produkt klonen. Aber das wäre keine KP sondern ein Lebendiges Artefakt. Würde ich beauftragt, einen Organismus hervorzubringen, der ein todsicherer Pilot sein müßte, wäre es unakzeptabel wenn er so aussehen müßte wie ein normaler Mensch.“
„Ach, tu das nicht!“
Beide Männer blickten mich verblüfft an, und Janet war förmlich hochgeschreckt. Wieder einmal wünschte ich, ich hätte den Mund gehalten.
„Warum nicht?“ fragte Georges.
„Nun ja — weil ich so ein Schiff nicht betreten würde. Mit Ian zu fliegen, wäre mir viel lieber.“
„Vielen Dank, Marj“, sagte Ian. „Aber du hast ja selbst gehört, was Georges eben gesagt hat. Er meint einen aufgabenorientierten Piloten, der weitaus besser wäre als ich. Denkbar ist so etwas. Himmel, es wird bestimmt dazu kommen! So wie die Vortriebsmaschinen die Bergleute verdrängt haben, wird meine Gilde eines Tages abgelöst werden. Auch wenn mir diese Entwicklung nicht gefällt — ich sehe sie kommen.“
„Na — Georges, hast du schon mit intelligenten Computern gearbeitet?“
„Aber ja, Marjorie. Das Thema künstliche Intelligenz ist mit meinem Arbeitsgebiet eng verwandt.“
„Ja. Dann weißt du auch, daß KI-Wissenschaftler mehrmals verkündet haben, sie stünden vor dem Durchbruch zu einem Computer mit voll entwickeltem Selbstbewußtsein. Aber immer wieder ging etwas schief.“
„Ja. Das ist bedauerlich.“
„Nein — unvermeidlich. Es wird immer wieder fehlschlagen. Ein Computer kann sich seiner selbst bewußt werden — gewiß! Hebt man ihn in seiner Kompliziertheit auf die menschliche Ebene, so ist dieses Bewußtsein eine zwangsläufige Folge. Aber dann stellt die Maschine fest, daß sie kein Mensch ist. Darauf kommt sie zu dem Schluß, daß sie nie ein Mensch sein kann; ihr bleibt nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle zu verweilen und von Menschen Befehle entgegenzunehmen. Und dann dreht sie durch.“
Ich zuckte die Achseln. „Ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gibt. Die Maschine kann kein Mensch sein, niemals. Ian mag nicht in der Lage sein, seine Passagiere zu retten, aber er wird es versuchen. Ein Lebendiges Artefakt dagegen, das kein Mensch ist und deshalb keinerlei Loyalitätsgefühle gegenüber den Menschen hegt, könnte das Schiff nur so zum Vergnügen abstürzen lassen — weil es nämlich die Nase voll hat, als das behandelt zu werden, was es in Wahrheit auch ist. Nein, Georges, ich möchte weiter mit Ian fliegen. Nicht mit deinem Artefakt, das eines Tages den Haß auf die Menschen entdecken muß.“
„Um mein Artefakt geht es hier nicht“, sagte Georges leise. „Vielleicht hast du nicht beachtet, in welcher Form ich über das Programm gesprochen habe.“
„Nein, ich habe nicht darauf geachtet.“
„Im Konjunktiv. Denn was du da eben gesagt hast ist mir natürlich nicht neu. Ich habe mich für diesen Vorschlag nicht eingesetzt und werde es auch nicht tun. Ich kann einen solchen Piloten entwerfen. Aber es wäre mir unmöglich, einem solchen Artefakt die ethische Verpflichtung einzubauen, die der Grundzugvon Ians Ausbildung ist.“
Ian zog ein nachdenkliches Gesicht. „Vielleicht sollte ich bei der kommenden Auseinandersetzung die Forderung erheben, daß jeder KP- oder LA-Pilot hinsichtlich der ethischen Festigkeit überprüft wird.“
„Wie willst du das testen, Ian? Ich wüßte nicht, wie man ethische Verantwortung in einen Fötus eingibt und Marj hat uns klargemacht, warum dieses Ziel auch mit Training nicht zu erreichen ist. Welcher Test sollte da auch eine klare Antwort geben, so oder so?“
Georges wandte sich an mich: „Als Student habe ich mal klassische Geschichten über humanoide Roboter gelesen. Es waren charmante kleine Erzählungen, von denen sich einige auf die sogenannten Robotergesetze stützten, deren Grundvoraussetzung eine eingebaute Arbeitsregel war, die es den Maschinen verbot, Menschen zu schaden, weder direkt, noch durch Untätigkeit. Für solche erfundenen Geschichten war das eine wunderbare Grundlage — aber wie wäre das in der Praxis zu erreichen? Was macht einen selbstbewußten, nichtmenschlichen, intelligenten Organismus — elektronisch oder organisch — dem Menschen gegenüber loyal? Ich weiß nicht, wie man dieses Ziel erreichen sollte. Die Wissenschaftler, die sich mit Künstlicher Intelligenz befassen, scheinen gleichermaßen im dunkeln zu tappen.“
Georges lächelte zynisch. „Intelligenz ließe sich beinahe als die Ebene definieren, auf der der bewußte Organismus fragt: ›Was springt für mich dabei heraus? ‹“ Er fuhr fort: „Marj, in der Frage des frischen Eies, das ich dir abkaufen will, sollte ich dir vielleicht klarmachen, was für dich dabei herausspringt.“
„Hör nicht auf ihn!“ sagte Janet drängend. „Er wirddich auf einen kalten Tisch legen und ohne die geringste romantische Neigung in den Tunnel der Liebe starren. Ich weiß Bescheid, ich habe mich schon dreimal dazu überreden lassen. Und Geld habe ich dafür auch nicht bekommen.“
„Wie kann ich dich bezahlen, wenn wir gemeinsamen Besitz haben? Meine süße Marjorie, der Tisch ist nicht kalt und außerdem gepolstert, und du kannst lesen oder dich an einem Terminal vergnügen oder plaudern. Wir sind heute schon viel weiter als noch vor einer Generation, da man von außen arbeitete und dabei sehr oft einen Eierstock zerstörte. Wenn du …“
„Moment!“ sagte Ian. „Es kommt was Neues über die Röhre.“ Er stellte den Ton lauter.
„…Überlebensrat. Die Ereignisse der letzten zwölf Stunden sind eine Warnung an die Reichen und Mächtigen, daß ihre Zeit zu Ende geht und die Gerechtigkeit siegen wird. Die Hinrichtungen und anderen lehrreichen Lektionen werden fortgesetzt, bis unsere berechtigten Forderungen erfüllt sind. Verfolgen Sie weiter die Sendungen dieses Krisenprogramms …“