24. Kapitel

Beim Frühstück ließen sich weder Goldie noch Anna blicken. Ich aß allein und folglich ziemlich schnell; ich lasse mir beim Essen nur Zeit, wenn ich in Gesellschaft bin. Nur gut so, denn ich stand eben auf, als Annas Stimme aus allen Lautsprechern tönte:

„Bitte Achtung! Ich habe die bedauerliche Pflicht Ihnen bekanntzugeben, daß unser Vorsitzender im Laufe der Nacht gestorben ist. Auf seinen Wunsch wird es keinen Gedächtnisgottesdienst geben. Der Tote ist bereits verbrannt worden. Um neunhundert Uhr wird im großen Konferenzzimmer eine Versammlung stattfinden, in deren Verlauf die Geschäfte der Firma abgewickelt werden. Sie werden ohne Ausnahme aufgefordert, daran teilzunehmen und pünktlich zu kommen.“

Die Zeit bis neun Uhr verbrachte ich mit Weinen.

Warum? Vermutlich war es Selbstmitleid. Jedenfalls wäre der Chef bestimmt dieser Meinung gewesen. Er hatte sich selbst nicht leid getan, und auch ich hatte ihm nicht leid getan: mehr als einmal hatte er mir Selbstmitleid vorgeworfen. Selbstmitleid, so sagte er ist das demoralisierendste aller Laster.

Trotzdem bekümmerte mich mein Schicksal. Immer wieder hatte ich mit ihm gestritten, schon ganz am Anfang als er mich auslöste und zur Freien Person machte, obwohl ich ihm ausgerückt war. Jetzt bedauerte ich jede meiner heftigen Antworten, meine Frechheiten, meine kecken Äußerungen.

Dann sagte ich mir, daß der Chef mich nicht gemocht hätte, wenn ich ein unterwürfiger Dienstwurmgewesen wäre, der keine eigenen Ansichten vertrat.

Er war, wie er war, und ich konnte nicht aus meiner Haut heraus, und wir hatten viele Jahre lang eng zusammengearbeitet und uns dabei nicht einmal an den Händen berührt. Für Freitag ist das ein Rekord. Ein Rekord, den ich nur ungern übertreffen würde.

Ich würde gern wissen, ob er vor all den Jahren, als ich meine Arbeit für ihn begann, wußte, wie schnell ich ihm auf den Schoß gesprungen wäre, wenn er mir das nur irgendwie signalisiert hätte. Wahrscheinlich hatte er es geahnt. Wie dem auch sei obwohl ich ihn nie berührt habe, war er der einzige Vater, den ich je gehabt hatte.

Es war sehr voll im großen Konferenzraum. Kaum die Hälfte der Anwesenden kannte ich von den Mahlzeiten; einige Gesichter waren mir völlig fremd.

Ich schloß, daß viele Leute zurückgerufen worden waren und die Rückreise in dieser kurzen Zeit geschafft hatten. Vorn saß Anna hinter einem Tisch neben einer Fremden. Vor ihr Aktenordner, ein furchteinflößendes Relais-Terminal und sonstige Schreibgeräte. Die Fremde war eine Frau, etwa so alt wie Anna doch bei weitem nicht so aufgeschlossen und nett: sie wirkte eher wie eine strenge Lehrerin.

Zwei Sekunden nach neun Uhr klopfte die Fremde auf den Tisch. „Ruhe bitte! Ich heiße Rhoda Wainwright, Stellvertretende Vorsitzende dieser Firma und Chefberater des verstorbenen Dr. Baldwin. In dieser Funktion bin ich kommissarische Vorsitzende der Geschäftsleitung und Zahlmeister für die Aufgabe, unsere Angelegenheiten abzuwickeln. Sie alle wissen, daß Sie aufgrund persönlicher Verträge mitDr. Baldwin an diese Firma gebunden waren …“

Hatte ich jemals einen solchen Vertrag unterschrieben? Die Worte „der verstorbene Dr. Baldwin“ stimmten mich nachdenklich. War das der echte Name des Chefs? Wie kam es, daß sein Name dem Pseudonym glich, das ich am häufigsten verwendet hatte? Hatte er ihn ausgesucht? Es lag alles so weit zurück.

„… da Sie alle jetzt freie Agenten sind. Wir sind eine Elite-Einheit, und Dr. Baldwin sah voraus, daß jede freie Firma Nordamerikas aus Ihren Reihen neue Mitarbeiter gewinnen wollte, sobald sein Tod Ihnen die Freiheit gab. In jedem der kleinen Konferenzzimmer und im Foyer warten Anwerber auf Sie. Wenn Ihr Name aufgerufen wird, kommen Sie bitte nach vorn, um ihre Unterlagen entgegenzunehmen und zu quittieren. Sie können die Unterlagen sofort durchsehen, aber Sie werden nicht, ich wiederhole: Nicht an diesem Tisch stehenbleiben und darüber verhandeln.

Die Diskussion kann stattfinden, wenn alle anderen ihre Unterlagen erhalten haben. Bitte denken Sie daran, daß ich die ganze Nacht auf gewesen bin …“

Sollte ich mich sofort bei einer anderen freien Firma verdingen? Mußte ich das tun? War ich pleite? Anzunehmen, bis auf die Reste der zweihunderttausend Braunen, die ich bei der blöden Lotterie gewonnen hatte — den größten Teil davon schuldete ich vermutlich Janet über ihre Visa-Karte. Mal sehen. Ich hatte 230,4 Gramm Feingold gewonnen, bei Master Charge als 200 000 Braune eingezahlt, doch in Gold zum Tages-Fixkurs gutgeschrieben. 36 Gramm davon hatte ich bar wieder abgehoben, und … Aber ich mußte auch mein anderes Konto berücksichtigen, das bei derImperial-Bank von Saint Louis geführt wurde. Und das Bargeld und die Visa-Belastungen, die ich Janet schuldete. Und Georges müßte ich eigentlich die Hälfte von …

Jemand rief meinen Namen.

Es war Rhoda Wainwright, die ein zorniges Gesicht aufgesetzt hatte. „Bitte passen Sie auf, Miß Freitag!

Hier sind Ihre Unterlagen. Unterschreiben Sie hier daß Sie alles erhalten haben! Dann treten Sie zur Seite, um den Umschlag zu überprüfen!“

Ich warf einen Blick auf die Quittung. „Ich unterschreibe, nachdem ich alles überprüft habe.“

„Miß Freitag! Sie halten den Verkehr auf!“

„Ich trete zur Seite. Aber ich unterschreibe erst wenn ich weiß, daß der Inhalt dieses Pakets identisch ist mit dem, was ich abgeliefert habe.“

„Schon gut, Freitag“, sagte Anna beruhigend. „Ich habe alles durchgesehen.“

„Vielen Dank“, sagte ich. „Aber ich handhabe das so, wie du mit Geheimdokumenten umgehst — selbst sehen und anfassen.“

Die Wainwright-Ziege war drauf und dran, mich in der Hölle schmoren zu lassen, doch ich machte einige Schritte zur Seite und sah die Dinge durch — ein nicht gerade kleines Paket: drei Pässe auf drei Namen, eine Sammlung von Ausweisen, sehr echt aussehende Papiere, die zu dieser oder jener Identität paßten, und eine Zahlungsanweisung auf „Marjorie Freitag Baldwin“, gezogen auf die South Africa & Ceres AkzeptGesellschaft, Luna City, über den Betrag von 297,3

Gramm 999 — was mich erstaunte, aber nicht so sehr wie der nächste Fund: Adoptionsurkunden, wonach Hartley M. Baldwin und Emma Baldwin das weibli-che Kind Freitag Jones adoptiert hatten, das danach den Namen Marjorie Freitag Baldwin trug, ausgestellt in Baltimore, Maryland, Atlantische Union. Kein Wort von der Landsteiner-Krippe oder John Hopkins das Datum aber war der Tag, an dem ich die Landsteiner-Krippe verlassen hatte.

Und zwei Geburtsurkunden: eine nachträglich ausgestellte Bescheinigung auf Marjorie Baldwin, geboren in Seattle, die andere lautete auf Freitag Baldwin, Kind von Emma Baldwin, Boston, Atlantische Union.

Zweierlei traf auf alle diese Dokumente zu: Sie waren gefälscht und zugleich absolut verläßlich. Der Chef machte keine halben Sachen. „Stimmt alles, Anna“, sagte ich und unterschrieb.

Anna nahm mir die Quittung ab und fügte leise hinzu: „Wir sehen uns später.“

„Gern. Wo?“

„Sprich mit Goldie!“

„Miß Freitag! Bitte Ihre Kreditkarte!“ Wieder die Wainwright.

„Oh.“ Nun ja, nachdem der Chef nicht mehr da war und die Firma aufgelöst wurde, konnte ich die Saint Louis-Kreditkarte natürlich nicht mehr benutzen. „Hier.“

Sie griff danach; ich ließ nicht los. „Bitte den Locher! Oder die Schere! Was immer Sie nehmen wollen.“

„Ich bitte Sie! Ich werde die Karte zusammen mit den vielen anderen verbrennen lassen, nachdem die Nummern überprüft worden sind.“

„Miß Wainwright, wenn ich Ihnen eine Kreditkarte aushändigen soll, die auf meinen Namen ausgestelltist — und Sie sollen sie haben, das ist unbestritten — wird sie vor meinen Augen vernichtet oder unbrauchbar gemacht.“

„Sie regen mich auf! Vertrauen Sie denn niemandem?“

„Nein.“

„Dann müssen Sie hier an Ort und Stelle warten bis alle anderen fertig sind.“

„Oh, das glaube ich nicht.“ Ich vermutete, daß Master Charge Saint Louis eine Phenolglas-Laminierung verwendete; jedenfalls waren die Karten sehr widerstandsfähig, wie es bei Kreditkarten eben sein muß.

Bisher hatte ich darauf geachtet, im HQ von meinen gesteigerten Fähigkeiten nichts bekannt werden zu lassen, nicht weil es hier einen Unterschied gemacht hätte, sondern weil es nicht höflich gewesen wäre.

Hier aber lagen besondere Umstände vor. Ich riß die Karte zweimal durch und übergab ihr die Reste. „Die Nummer werden Sie wohl noch erkennen können.“

„Wie Sie wollen!“ Sie klang so verärgert, wie mir in diesem Augenblick zumute war. „Miß Freitag!“ bellte sie. „Bitte auch die andere Karte!“

„Welche andere Karte?“ Ich fragte mich, wer von meinen Freunden im Verlauf dieser Sitzung jener absoluten Notwendigkeit des modernen Lebens beraubt wurde, einer gültigen Kreditkarte, und nun nur noch den Scheck und ein bißchen Wechselgeld zur Verfügung hatte. Umständlich. Unschön. Ich war sicher daß der Chef den Ablauf so nicht vorgesehen hatte.

„Master … Charge … Kalifornien, Miß Freitag in San José ausgestellt. Bitte raus damit!“

„Mit dieser Karte hat die Firma nichts zu tun. Diesen Kredit habe ich selbst arrangiert.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen. Der mit der Karte gewährte Kredit wird von South Africa & Ceres garantiert — das heißt mit anderen Worten, von der Firma, die hiermit liquidiert wird. Also geben Sie mir die Karte!“

„Sie irren sich. Die Zahlungen werden zwar durch SA&CA abgewickelt, aber die Kreditlinie ist allein die meine. Sie geht das überhaupt nichts an.“

„Sie werden schnell feststellen, wen das etwas angeht! Ihr Konto wird gelöscht.“

„Auf Ihre Gefahr. Wenn Sie sich einen Prozeß an den Hals holen wollen, der Sie das letzte Hemd kostet, bitte sehr! Sie sollten sich aber lieber vorher von den Tatsachen überzeugen.“ Ich wandte mich ab denn ich wollte mich zu keinen weiteren Ausbrüchen hinreißen lassen. Sie hatte mich dermaßen in Wut gebracht, daß ich meinen Kummer über den Tod des Chefs vorübergehend vergaß.

Ich sah mich um und entdeckte Goldie, die bereits entlassen worden war. Sie saß wartend in einer Ecke.

Ich erwiderte ihren Blick, und sie klopfte einladend auf einen leeren Stuhl neben sich; ich ging zu ihr.

„Anna hat gesagt, ich soll mit dir sprechen.“

„Gut. Ich habe für Anna und mich für heute abend ein Zimmer im Cabaña Hyatt reserviert und dabei gleich gesagt, daß vielleicht noch eine dritte Person käme. Möchtest du mitkommen?“

„So schnell? Habt ihr denn schon gepackt?“ Was hatte ich überhaupt zu packen? Nicht viel, da mein Neuseeland-Gepäck noch im Zollverschluß in Winnipeg lag; ich vermutete nämlich, daß die WinnipegPolizei ein Auge darauf hatte, und wollte es dort stehen lassen, bis Janet und Ian aus der Fahndung ge-nommen worden waren. „Eigentlich hatte ich über Nacht bleiben wollen, aber gründlich darüber nachgedacht habe ich noch nicht.“

„Es können noch alle hier schlafen, aber im Grunde sieht man es lieber, wenn wir gehen. Die Firmenleitung — die neue Firmenleitung — will nach Möglichkeit heute noch alles erledigen. Das Mittagessen wird die letzte Mahlzeit sein, die hier zu haben ist. Sollte zum Abendessen noch jemand hier sein, gibt’s kalte Brote. Das Frühstück ist bereits gestrichen!“

„Du meine Güte! Das hört sich nicht gerade nach einer Handhabung an, wie der Chef sie vorgesehen hätte.“

„Und ob! Diese Frau … Der Chef hatte sich mit seinem Partner verständigt — der aber vor sechs Wochen starb. Egal; wir hauen einfach ab. Kommst du mit?“

„Ich nehme es an. Ja. Aber zuerst sollte ich mit den Anwerbern sprechen; ich werde Arbeit brauchen.“

„Tu’s nicht!“

„Warum nicht, Goldie?“

„Ich suche ebenfalls Arbeit. Anna hat mich aber gewarnt. Die Anwerber, die heute hier sind, haben Absprachen mit unserer Freundin Wainwright. Wenn die Leute was taugen, kann man auch im Las VegasArbeitsmarkt mit ihnen sprechen — ohne dieser bissigen Schreckschraube eine Provision zu verschaffen.

Ich weiß, was ich werden möchte — Erste Schwester in einem Lazarett einer ausgezeichneten Söldnerkompanie. Die besten Einheiten sind in Las Vegas vertreten.“

„Dann sollte ich mich wohl auch dort umsehen.

Goldie, ich habe mir noch nie Arbeit suchen müssen.

Ich bin ein bißchen verwirrt.“

„Du kommst schon durch.“Nach einem hastig eingenommenen Mittagessen waren wir drei Stunden später in San José. Zwei AAF flogen laufend die Strecke Pajaro Sands und Nationalplatz; die Wainwright schob uns ab, so schnell es ging — als wir abgingen, sahen wir zwei große offene Lastwagen, jeweils von sechs Pferden gezogen, die vor dem Haus beladen wurden, und Papa Perry wirkte wie immer gehetzt. Ich fragte mich, was aus der Bibliothek des Chefs werden würde — und fühlte eine leicht egoistische Trauer, daß ich vielleicht nie wieder auf ein so umfassendes Wissen zurückgreifen konnte. Ich werde nie eine Koryphäe sein, doch mich interessiert nun mal alles, und ein Terminal, das auf direktem Wege mit den besten Bibliotheken der Welt verbunden ist, stellt für mich einen unbezahlbaren Luxus dar.

Als ich erkannte, was da verladen wurde, fiel mir plötzlich etwas ein, das mich beinahe in Panik versetzte. „Anna, wer war die Sekretärin des Chefs?“

„Er hatte keine. Ich habe ihm manchmal ausgeholfen, wenn er Unterstützung brauchte. Aber selten.“

„Er hatte eine Kontaktanschrift für meine Freunde Ian und Janet Tormey. Was ist wohl daraus geworden?“

„Wenn sie nicht darin steht …“ — sie zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn mir — „ist sie fort — denn ich hatte seit einiger Zeit die Anweisung unmittelbar nach der amtlichen Feststellung seines Todes an sein persönliches Terminal zu gehen und ein bestimmtes Programm durchlaufen zu lassen. Ich weiß, daß es sich dabei um einen Löschbefehl gehandelt hat, auch wenn er es mir nicht ausdrücklich bestätigte. Alle persönlichen Informationen, die in denSpeichern ruhten, wurden gelöscht. Hat es sich bei dieser Anschrift um etwas Persönliches gehandelt?“

„Etwas sehr Persönliches sogar.“

„Dann ist sie fort. Es sei denn, sie steht hier in dem Brief.“

Ich schaute mir an, was sie mir gegeben hatte: einen versiegelten Umschlag, auf dem nur „Freitag“ stand. Anna fügte hinzu: „Das hätte eigentlich in deinem Umschlag sein sollen, aber ich hab’s rechtzeitig verschwinden lassen. Die neugierige Schreckschraube hat alles gelesen, was sie in die Finger kriegen konnte.

Ich wußte aber, daß dies eine private Mitteilung von Mr. Doppelkrücke — jetzt muß man ja Dr. Baldwin sagen — an dich war. Und so etwas sollte ihr nicht unter die Augen kommen.“ Anna seufzte. „Ich habe die ganze Nacht mit ihr gearbeitet. Ohne sie umzubringen. Ich weiß nicht, warum ich darauf verzichtet habe.“

„Wir brauchten sie, um die Schecks zu unterschreiben“, sagte Goldie.

Auf der Fahrt begleitete uns Burton McNye, einer der Stabsmitarbeiter, ein ruhiger Mann, der selten seine Meinung äußerte. Jetzt aber meldete er sich zu Wort: „Es tut mir leid, daß du es nicht getan hast Anna. Schau mich an; ich habe kein Bargeld. Ich habe immer nur mit der Kreditkarte bezahlt. Die Winkeladvokatin wollte mir meinen Abfindungsscheck erst geben, nachdem ich ihr die Kreditkarte gegeben hatte. Und wie löst man eine Scheckziehung auf eine Luna-Bank ein? Bekommt man gleich Bargeld, oder behält die Bank sie erst zum Einzug da? Vielleicht muß ich heute abend auf dem Nationalplatz schlafen.“

„Mr. McNye …“

„Ja, Miß Freitag?“

„Ich bin nicht mehr ›Miß‹ Freitag. Nennen Sie mich Freitag!“

„Dann müssen Sie mich aber Burt nennen!“

„Okay, Burt. Ich habe ein paar Braune bei mir und eine Kreditkarte, an die die Wainwright nicht herankonnte, obwohl sie es versucht hat. Wieviel brauchen Sie?“

Lächelnd tätschelte er mir das Knie. „All die netten Dinge, die ich über Sie gehört habe, stimmen also.

Vielen Dank, meine Liebe, aber ich werde schon damit fertig. Ich gehe zuerst zur Bank of America. Wenn die den Scheck nicht gleich einlöst, bekomme ich vielleicht eine Anzahlung bis zur Bestätigung der Summe. Wenn nicht, begebe ich mich in Wainwrights Büro im Gebäude der Kreditbank, lege mich flach auf ihren Schreibtisch und sage ihr, daß es nun an ihr läge, mir ein Bett zu verschaffen. Verdammt; der Chef hätte dafür gesorgt, daß jeder von uns ein paar hundert Braune auf die Hand bekommt; sie hat es bestimmt absichtlich nicht getan. Vielleicht will sie uns zwingen, gleich bei ihren Freunden neu abzuschließen; ich würde es ihr zutrauen. Wenn sie Ärger macht, bin ich wohl gerade wütend genug, um herauszufinden, ob ich mich noch an Lektionen meiner Grundausbildung erinnere.“

„Burt“, sagte ich, „Sie dürfen niemals mit den Händen gegen einen Anwalt vorgehen. Einem Anwalt muß man mit einem anderen Anwalt kommen, einem klügeren. Hören Sie, wir ziehen ins Cabaña! Wenn Sie auf den Scheck kein Bargeld bekommen, sollten Sie mein Angebot annehmen. Mir ist es keine Last.“

„Vielen Dank, Freitag. Aber ich werde sie zuerst würgen, bis sie nachgibt.“

Das Zimmer, das Goldie reserviert hatte, erwies sich als kleine Zimmerflucht: ein Zimmer mit einem großen Wasserbett und ein Wohnzimmer mit einer Couch, die sich zu einem Doppelbett ausziehen ließ.

Ich setzte mich auf die Couch, um den Brief des Chefs zu lesen, während Anna und Goldie im Bad verschwanden — anschließend mußte ich selbst auf die Toilette. Als ich wieder zum Vorschein kam, lagen die beiden auf dem großen Bett und waren eingeschlafen — was nicht weiter überraschend war, denn beide hatten die ganze Nacht angestrengt gearbeitet.

Ich bewegte mich leise, setzte mich und nahm mir den Brief vor:

„Liebe Freitag da dies meine letzte Gelegenheit ist, Sie anzusprechen muß ich Ihnen Dinge offenbaren, die ich nicht äußern konnte, als ich noch lebte und Ihr Arbeitgeber war.

Ihre Adoption: Sie erinnern sich nicht daran, weil sie gar nicht so abgelaufen ist. Sie werden feststellen, daß alle diesbezüglichen Unterlagen rechtsgültig sind. Sie sind wirklich meine Adoptivtochter. Emma Baldwin ist etwa so real wie Ihre Eltern aus Seattle, das heißt, sie ist für alle praktischen und rechtlichen Belange existent. Sie müssen sich nur vor einem Aspekt hüten: daß Ihre verschiedenen Identitäten sich ins Gehege kommen. Aber im Beruf sind Sie ja schon oft über dieses Hochseil geschritten.

Sorgen Sie dafür, daß Sie bei der Verlesung meines Nachlasses zugegen oder vertreten sind. Da ich LunaBürger bin — “ (Wie bitte?) —, „wird dies in Luna City geschehen, und zwar unmittelbar nach meinem Tod, da es inder Luna-Republik all jene den Anwälten dienenden Verzögerungen nicht gibt, die in den meisten Erd-Ländern anzutreffen sind. Melden Sie sich bei Fong, Tomosawa Rothschild, Fong & Finnegan in Luna City. Und schrauben Sie Ihre Hoffnungen nicht zu hoch; was Sie erben werden, enthebt Sie nicht der Notwendigkeit zu arbeiten.

Ihre Herkunft: dafür haben Sie sich immer besonders interessiert, was auch verständlich ist. Da ihre genetischen Gaben aus vielen Quellen zusammengesetzt wurden und alle Unterlagen längst vernichtet sind, kann ich Ihnen wenig sagen. Ich möchte nur zwei Quellen für Ihr genetisches Muster erwähnen, auf die Sie vielleicht stolz sind, zwei, die in der Geschichte als ›Mr. und Mrs. Joseph Green‹ bekannt geworden sind. In einem Krater bei Luna City steht ein Denkmal von ihnen, das aber die Reise kaum lohnt, denn es gibt nicht viel zu sehen. Wenn Sie bei der Industrie- und Handelskammer von Luna City nach dem Denkmal fragen wird man Ihnen eine Kassette mit einem einigermaßen genauen Bericht über ihr Leben aushändigen. Und wenn Sie sich das Band angehört haben, werden Sie verstehen, warum ich Sie bat, sich mit Ihrem Urteil über Terminatoren zurückzuhalten. Das Morden ist normalerweise ein schmutziges Geschäft — ehrliche Tötungsagenten aber können Helden sein. Spielen Sie sich die Kassette vor, bilden Sie sich selbst ein Urteil.

Vor vielen Jahren waren die Greens Kollegen von mir.

Da ihre Arbeit sehr gefährlich war, hatte ich veranlaßt, daß beide genetische Depots anlegten, vier Eizellen von ihr und ein Quantum Sperma. Als sie umkamen, ließ ich im Hinblick auf posthume Kinder eine Gen-Analyse der beiden durchführen — und erfuhr dabei, daß die Charakterzüge nicht zueinander paßten; eine einfache Befruchtung hätte zur Betonung etlicher negativer Züge geführt.Als dann die Schaffung Künstlicher Personen möglich war, wurden diese Gene selektiv eingesetzt. Ihr Entwurf erwies sich als der einzig erfolgreiche; andere Versuche damit waren entweder nicht lebensfähig oder mußten zerstört werden. Ein guter Genetik-Ingenieur arbeitet etwa wie ein guter Photograph: ein gutes Ergebnis ergibt sich aus der Bereitschaft, rücksichtslos jeden Versuch zu tilgen der nicht vollkommen ist. Weitere Versuche mit dem Material der Greens wird es nicht geben; Gails Eizellen sind aufgebraucht, und Joes Sperma ist vermutlich nicht mehr verwendbar.

Es ist nicht möglich, Ihre Beziehung zu diesen beiden zu definieren, sie liegt aber im Vergleich etwa zwischen Enkelin und Urenkelin, wobei der Rest Ihrer Anlagen aus vielen Quellen stammt. Sie können aber davon ausgehen, daß die Gesamtheit sorgfältig dahingehend ausgewählt wurde, die besten Charakterzüge des Homo Sapiens zu maximieren.

Darin liegt Ihr Potential; ob Sie es auszuschöpfen vermögen, liegt allein bei Ihnen.

Ehe die Sie betreffenden Unterlagen vernichtet wurden befriedigte ich einmal meine Neugier hinsichtlich der Quellen, auf die Sie zurückzuführen sind. Soweit ich mich erinnere, haben Sie folgende Abstammungen:

Finnisch, polynesisch, indianisch, dänisch, irisch, swasi koreanisch, deutsch, hindu, englisch — und alle möglichen anderen Elemente, da die obigen Züge natürlich nicht rein sind. Sie können es sich nicht erlauben, rassistisch zu denken; sie würden sich dabei ins eigene Fleisch schneiden!

Das Fazit aus dem Obigen ist natürlich, daß für Ihren Entwurf unabhängig von der Herkunft nur die besten Materialien ausgewählt wurden. Reines Glück, daß Sie dazu auch noch so schön geworden sind.

(„Schön“! Chef, ich besitze einen Spiegel! War esmöglich, daß das wirklich seine Meinung war? Klar meine Figur ist in Ordnung; aber darin spiegelt sich nur die Tatsache, daß ich eine erstklassige Sportlerin bin — was wiederum die Tatsache belegt, daß ich geplant und nicht geboren wurde. Nun ja, ein angenehmes Gefühl zu wissen, daß er dieser Ansicht war wenn das wirklich stimmt — aber darin war er bestimmt der einzige; ich bin ich, daran ist nichts zu deuteln.)

In einem Punkt schulde ich Ihnen eine Erklärung, wenn nicht gar Entschuldigung. Es war beabsichtigt, Sie durch ausgewählte Eltern als deren naturgeborenes Kind aufzuziehen. Als Sie jedoch nur weniger als fünf Kilogramm wogen, wurde ich ins Gefängnis gesteckt. Zwar konnte ich später fliehen, doch gelang es mir erst nach der Zweiten Atlantischen Rebellion, zur Erde zurückzukehren. Die Narben dieses Durcheinanders tragen Sie noch heute mit sich herum, das ist mir bekannt. Ich hoffe, es gelingt Ihnen eines Tages, Ihre Angst und Ihr Mißtrauen vor ›Menschen‹ abzubauen; Sie gewinnen damit nichts und sind andererseits ziemlich belastet. Eines Tages muß es Ihnen gelingen, auch emotional zu verarbeiten, was Sie intellektuell längst wissen, daß die anderen nämlich ebenso im Räderwerk stecken wie Sie.

Was das Übrige angeht, was kann man da in einer letzten Botschaft sagen? Jene bedauerlichen Ereignisse, meine Verurteilung im falschen Augenblick, hat Sie viel zu verwundbar, viel zu sentimental werden lassen. Meine Liebe Sie müssen sich von Angst, Schuldgefühlen und Scham völlig freimachen. Das Selbstmitleid haben Sie meinem Gefühl nach schon über Bord geworfen — “ (Ach was!) — „aber wenn das nicht der Fall ist, müssen Sie weiter daran arbeiten. Ich glaube, den Versuchungen der Religion ge-genüber sind Sie immun. Wenn nicht, kann ich Ihnen nicht helfen, ebensowenig wie ich Sie vor der Rauschgiftsucht bewahren könnte. Die Religion ist zuweilen ein Quell des Glücks, und das ist etwas, das ich niemandem nehmen möchte. Sie bietet aber einen Trost, der den Schwachen angemessen ist, nicht den Starken — und Sie sind stark. Bei der Religion — bei jeder Religion — liegt das große Problem darin, daß ein Anhänger, hat er erst einmal gewisse Dinge im Glauben angenommen, diese Dinge nicht mehr nach konkreten Belegen bewerten kann. Man kann sich im warmen Feuer des Glaubens aalen oder in der öden Ungewißheit der Vernunft leben — beides zu haben geht jedoch nicht.

Und noch etwas muß ich Ihnen sagen — zu meiner eigenen Befriedigung, aus Stolz heraus. Auch ich gehöre zu Ihren ›Vorfahren‹ — es ist keine wesentliche Erbanlage, doch ein Aspekt meiner genetischen Muster lebt in Ihnen fort.

Sie sind also nicht nur meine Adoptivtochter, sondern zu einem Teil auch meine natürliche Tochter. Was mich sehr stolz macht.

So möchte ich diesen Brief mit einem Wort schließen, das ich nicht sagen konnte, als ich noch lebte — in Liebe Hartley M. Baldwin“

Ich steckte den Brief wieder in den Umschlag, rollte mich auf der Couch zusammen und ergab mich dem schlimmsten aller Laster, dem Selbstmitleid, und diesmal aber gründlich, mit vielen Tränen. Ich wüßte nicht, was am Weinen falsch sein sollte; es schmiert die Seele.

Nachdem ich das hinter mir hatte, stand ich auf wusch mir das Gesicht und kam zu dem Schluß, daßmeine Trauer über den Chef zu Ende war. Ich war erfreut und geschmeichelt, daß er mich adoptiert hatte; ein durch und durch erwärmendes Gefühl, daß auch ein Teil von ihm in meinen Entwurf eingeflossen war — trotzdem aber blieb er der Chef. Eine halbe Stunde läuternder Trauer hätte er mir sicher zugebilligt, aber wenn ich es zu sehr in die Länge zog, würde er böse auf mich sein.

Meine erschöpften Begleiterinnen sägten noch immer an ihren Baumstämmen. Ich schloß die Zwischentür, die zum Glück schalldicht verarbeitet war setzte mich ans Terminal, steckte die Karte in den Schlitz und wählte Fong, Tomosawa, und so weiter deren Kode ich bei der Information eingeholt hatte: die anschließende Direktwahl ist billiger, als sich durchstellen zu lassen.

Die Frau auf dem Schirm erkannte ich sofort. Eine niedrige Schwerkraft ist auf jeden Fall besser als ein BH; wenn ich in Luna City lebte, würde ich bestimmt auch nur einen Monokini tragen. Oh, vielleicht noch hohe Absätze. Und einen Smaragd im Bauchnabel.

„Entschuldigen Sie“, sagte ich. „Irgendwie habe ich South Africa & Ceres gewählt, obwohl ich Fong, Tomosawa, Rothschild, Fong & Finnegan haben wollte.

Mein Unterbewußtsein muß mir diesen Streich gespielt haben. Entschuldigen Sie die Störung, und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe neulich.“

„Hoppla!“ antwortete sie. „Sie haben nicht falsch gewählt. Ich heiße Gloria Tomosawa und bin Seniorpartner von Fong, Tomosawa etc., nachdem Großvater Fong in Pension gegangen ist. Das hindert mich aber nicht daran, Vizepräsidentin der South Africa &

Ceres Akzept-Gesellschaft zu sein; wir bilden gleich-zeitig die Rechtsabteilung der Bank. Außerdem bin ich die Verantwortliche für alle Vermögensangelegenheiten; was zur Folge hat, daß ich Ihren Fall bearbeite. Wir alle hier sind sehr traurig über Dr. Baldwins Tod, und ich hoffe, daß Sie nicht zu bekümmert sind — Miß Baldwin.“

„He, das sagen Sie doch noch mal von vorn!“

„Tut mir leid. Wenn die Leute normalerweise den Mond anrufen, wollen Sie das Gespräch so kurz wie möglich halten, weil die Verbindung so teuer ist. Soll ich alles noch einmal wiederholen, Satz für Satz?“

„Nein. Ich glaube, ich habe verstanden. Dr. Baldwin hinterließ mir einen Brief mit der Nachricht, ich solle bei der Eröffnung seines Testaments anwesend sein oder mich vertreten lassen. Kommen kann ich nicht. Wann wird das Testament eröffnet, und können Sie mir einen Rat geben, wie ich in Luna City einen Vertreter finden kann?“

„Das Testament wird eröffnet, sobald wir aus der Kalifornischen Konföderation den amtlichen Totenschein vorliegen haben, was jederzeit der Fall sein kann, da unser Mann in San José bereits das übliche Schmiergeld entrichtet hat. Und wer Sie vertreten soll — käme ich in Frage? Vielleicht sollte ich hinzufügen daß Großvater Fong viele Jahre lang der LunaAnwalt Ihres Vaters gewesen ist — ich habe ihn also geerbt und erbe nun wohl auch Sie, nachdem Ihr Vater gestorben ist. Es sei denn, Sie wollten andere Verfügungen treffen.“

„Ja, würden Sie das tun? — Miß … Mrs. Tomosawa — was sind Sie: ›Miß‹ oder ›Mrs.‹?“

„Ja, ich übernehme das Mandat gern, und ich bin ›Mrs.‹ Tomosawa. Das ist ja wohl auch angebracht,denn ich habe einen Sohn, der so alt ist wie Sie.“

„Unmöglich!“ (Diese Schönheitskönigin sollte doppelt so alt sein wie ich?)

„Und ob das möglich ist! Hier in Luna sind wir alle sehr altmodisch, ganz im Gegensatz zu den Kaliforniern. Wir heiraten und bekommen Kinder — und stets in dieser Reihenfolge. Ich würde es nicht wagen ›Miß‹ zu sein und einen Sohn in Ihrem Alter zu haben — niemand würde mich als Anwältin beauftragen wollen.“

„Ich meinte vielmehr den Gedanken, daß Sie einen Sohn meines Alters haben. Ich würde Ihnen nicht mal abnehmen, wenn Sie behaupten würden, Sie hätten ein fünfjähriges Kind — oder vierjähriges.“

Sie lachte leise. „Sie sind wirklich sehr nett. Warum kommen Sie nicht herauf und heiraten meinen Sohn?

Er hat sich schon immer eine Erbin gewünscht.“

„Bin ich denn eine?“

Sie wurde ernst. „Hmm. Ich darf das Siegel des Testaments erst brechen, wenn Ihr Vater offiziell tot erklärt wurde, was noch nicht der Fall ist, jedenfalls nicht in Luna City. Aber das ist eine reine Formalität und es wäre sinnlos, Sie zu bitten, mich noch einmal anzurufen. Ich habe den Text auf Veränderungen überprüft, als ich ihn zurückbekam. Dann versiegelte ich ihn und tat ihn in meinen Safe. Ich weiß also, was darin steht. Was ich Ihnen jetzt sage, haben Sie aber erst später heute erfahren. Sie erben, doch vor Glücksjägern werden Sie sicher sein. Sie bekommen kein einziges Gramm in bar. Statt dessen erhält die Bank — das bin ich — Anweisung, Ihre Auswanderung von der Erde zu finanzieren. Wenn Sie sich für Luna entscheiden, bezahlen wir Ihnen das Fahrgeld. WennSie einen Kopfgeldplaneten nehmen, würden wir Ihnen ein Pfadfindermesser aushändigen und für Sie beten. Wählen Sie aber einen teuren Planeten wie Kaui oder Halcyon, zahlt der Fonds Ihnen die Reise und Ihr Eintrittsgeld und stattet Sie mit einem Startkapital aus. Wenn Sie Terra nicht verlassen, fällt die Summe, die Ihnen zugedacht ist, den anderen Verfügungen über das Erbe zu. Ihre Auswanderung aber geht vor. Ausnahme: wenn Sie nach Olympia auswandern, zahlen Sie für alles selbst. Dann kommt aus dem Fonds kein Pfennig.“

„Dr. Baldwin erwähnte einmal so etwas. Was ist denn an Olympia so gefährlich? Ich kann mich an eine Kolonie dieses Namens nicht erinnern.“

„Nein? Na, vermutlich sind Sie zu jung. Dorthin haben sich die selbsternannten Supermänner zurückgezogen. Im Grunde ist es sinnlos, Sie davor zu warnen; die Firma unterhält keinen Schiffsverkehr dorthin. — Meine Liebe, Ihre Komm-Rechnung wird ganz schön hoch ausfallen.“

„Da haben Sie wohl recht. Es würde aber wohl teurer werden, wenn ich noch einmal anrufen müßte.

Mich stört nur die viele tote Zeit, die mitbezahlt werden muß, weil wir doch eine gehörige Verzögerung haben. Könnten Sie mal eben auf Ihren Stuhl bei South Africa & Ceres rüberrutschen? Oder lieber doch nicht; vielleicht brauch ich irgendwann einen juristischen Rat.“

„Ich trage beide Hüte, legen Sie los! Sie können mich alles fragen; heute kostet es nichts. Meine Werbewoche.“

„Nein, ich bezahle für Ihre Dienste.“

„Sie reden wie Ihr verstorbener Vater. Ich glaube,er hat sich auch nie etwas schenken lassen.“

„Er ist gar nicht mein richtiger Vater; ich habe ihn nie so gesehen.“

„Ich weiß Bescheid, meine Liebe; einige der Dokumente, die Sie betrafen, habe ich ausgestellt. In seinen Augen aber waren Sie seine Tochter. Er war ungewöhnlich stolz auf Sie. Es war sehr interessant für mich, als Sie mich zum erstenmal anriefen — ich mußte zwar den Mund halten, aber ich konnte Sie mir mal gründlich anschauen. Worum geht es jetzt?“

Ich erklärte ihr den Ärger, den mir die Wainwright wegen meiner Kreditkarte gemacht hatte. „Master Charge Kalifornien hat mir ein Kreditlimit eingeräumt, das natürlich über meine Bedürfnisse und Möglichkeiten geht. Aber geht das Sie etwas an? Ich habe bisher noch nicht einmal meine erste Einlage aufgebraucht und gedenke dort jetzt auch noch meine Abfindung zum Einzug vorzulegen. Zweihundertsiebenundneunzig Komma drei Gramm, Feingold.“

„Rhoda Wainwright taugt als Anwalt nicht viel; als Mr. Esposito starb, hätte sich Ihr Vater einen anderen Rechtsbeistand suchen sollen. Natürlich geht es sie nichts an, welchen Kredit Master Charge Ihnen einräumt, und sie hat in dieser Bank nichts zu sagen.

Miß Baldwin …“

„Nennen Sie mich ›Freitag‹.“

„Freitag, Ihr verstorbener Vater war Direktor dieser Bank und ist — oder war — ein wichtiger Anteilseigner.

Sie erhalten zwar von seinem Vermögen kaum etwas direkt zugesprochen, aber Sie müßten schon einen gewaltigen ungesicherten Sollsaldo auflaufen lassen und diesen über längere Zeit nicht ermäßigen oder auf unsere Anfragen nicht mehr reagieren, ehe wirIhr Konto sperren würden. Vergessen Sie das Ganze.

Wo das Pajaro Sands geschlossen wird, brauche ich allerdings eine neue Anschrift für Sie.“

„Äh … im Augenblick sind Sie die einzige Anschrift, die ich habe.“

„Ich verstehe. Nun ja, verschaffen Sie mir eine, sobald Sie wieder einen Wohnsitz haben. Andere schlagen sich mit demselben Problem herum, ein Problem das von Rhoda Wainwright unnötigerweise verschärft wurde. Es müßten eigentlich noch andere bei der Eröffnung des Testaments anwesend sein. Sie hätte sie verständigen sollen, hat es aber nicht getan und jetzt haben sie das Pajaro Sands verlassen. Wissen Sie, wo ich Anna Johansen erreichen kann? Oder Sylvia Havenisle?“

„Ich kenne eine Frau namens Anna, die war auch mit im Sands. Sie verwaltete die Geheimdokumente.

Den anderen Namen kenne ich nicht.“

„Sie muß die richtige Anna sein; bei mir steht sie als ›Sachbearbeiterin für Geheimsachen‹ verzeichnet.

Havenisle ist ausgebildete Krankenschwester.“

„Oh! Dann liegen beide hinter einer Tür, die in meinem Blickfeld ist. Sie schlafen. Sie haben die ganze Nacht gearbeitet. Wegen Dr. Baldwins Tod.“

„Mein Glückstag. Bitte sagen Sie den beiden — wenn sie aufwachen —, daß sie sich bei der Testamentseröffnung vertreten lassen sollten. Aber wecken Sie sie nicht extra; ich kann das hinterher noch regeln.

Wir nehmen das hier nicht so genau.“

„Könnten Sie sie vertreten?“

„Wenn Sie es sagen — ja. Aber die beiden sollen mich anrufen. Auch für diese beiden brauche ich neue Anschriften. Wo sind Sie im Augenblick?“ Ich sagte es, wir verabschiedeten uns und trennten die Verbindung. Dann verweilte ich eine Zeitlang reglos vor dem Gerät und versuchte die Ereignisse zu verarbeiten. Gloria Tomosawa hatte mir diese Aufgabe leicht gemacht. Vermutlich gibt es im Leben nur zwei Arten von Anwälten: die, die sich bemühen, einem das Leben leicht zu machen — und Parasiten.

Ein leises Klingeln und ein rotes Licht veranlaßten mich, zum Terminal zurückzukehren. Es war Burton McNye. Ich forderte ihn auf, heraufzukommen, sich aber mäuschenstill zu verhalten. Ich gab ihm einen Kuß, ohne darüber nachzudenken; erst dann fiel mir ein, daß er bisher nicht zu diesem Kreis gehört hatte.

Jetzt war er jedenfalls aufgenommen. Ich wußte nicht mehr, ob er mitgeholfen hatte, mich vor dem „Major“ zu retten — ich mußte ihn bei Gelegenheit mal danach fragen.

„Keine Probleme“, sagte er. „Die Bank of America hat den Scheck angenommen mit dem Vorbehalt der Einlösung und hat mir ein paar hundert Braune ausgezahlt, damit ich erst mal eine Unterkunft finde.

Man gab mir die Auskunft, eine Goldziehung ließe sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden mit Luna City abrechnen. Damit sind meine Probleme aus der Welt — wozu natürlich auch der solide finanzielle Ruf meines früheren Arbeitgebers beigetragen hat.

Sie brauchen mich also nicht hier übernachten zu lassen.“

„Soll ich jetzt losjubeln? Burt, wo Sie jetzt wieder flüssig sind, können Sie mich zum Essen einladen.

Anderswo. Meine Zimmergenossinnen fallen erst mal aus. Vielleicht sind sie schon tot. Die armen Mädchenwaren die ganze Nacht auf den Beinen.“

„Zum Abendessen ist es noch zu früh.“

Für das, was wir dann taten, war es dagegen nicht zu früh. Ich hatte es nicht so geplant, während Burt später sagte, er habe von Anfang an so etwas vorgehabt, schon im AAF, aber ich glaube ihm das nicht.

Ich erkundigte mich nach jenem Abend auf der Farm und natürlich hatte er der Kampfabteilung angehört.

Er behauptete, er habe zur Reserve gehört, sei also nur mal so mitgekommen, aber bisher hat mir noch niemand offen eingestanden, daß er an jenem Abend in Gefahr gewesen sei — ich erinnere mich dagegen deutlich an die Bemerkung des Chefs, daß praktisch alle mitgenommen wurden, weil zu wenige zur Verfügung standen, sogar der junge Terence, der sich damals noch gar nicht rasieren mußte.

Burt erhob keine Widerrede, als ich ihn auszuziehen begann.

Burt war für mich in diesem Augenblick genau das Richtige. Zuviel war geschehen, und ich fühlte mich emotionell zerschlagen. Sex ist ein besseres Beruhigungsmittel als jede Tablette und viel besser für den Körper. Ich begreife nicht, warum die Menschen um den Sex soviel Aufhebens machen. Es ist ja keine komplizierte Sache; einfach das Beste im Leben, noch besser als Essen und Trinken.

Unser Badezimmer war zu erreichen, ohne daß wir durch den Schlafraum gehen mußten; vermutlich waren die Zimmer so angeordnet worden, weil das Wohnzimmer sich ebenfalls zum Schlafen benutzen ließ. Wir machten uns ein bißchen frisch, und ich zog den Superhaut-Einteiler an, mit dem ich Ian im letz-ten Frühling an Land gezogen hatte — und erkannte daß ich danach gegriffen hatte, weil meine Gedanken sentimental bei Ian verweilten — jetzt aber machte ich mir keine Sorgen mehr über Ian und Jan — und Georges. Ich würde sie finden, davon war ich in aller Gelassenheit überzeugt. Selbst wenn sie nie wieder nach Hause zurückkehrten, würde ich sie schlimmstenfalls durch Betty und Freddie aufspüren können.

Burt zeigte die angemessene tierische Reaktion, als ich in meiner Superhaut in Erscheinung trat, und ich ließ ihn gucken und wackelte ein wenig herum und sagte ihm, genau deswegen hätte ich das Ding gekauft: Ich sei eine Frau, die sich ihres Geschlechts nicht im geringsten schämte, und ich wollte ihm danken für das, was er für mich getan habe; meine Nerven hätten angespannt geklirrt wie Harfensaiten und wären jetzt so entspannt, daß sie förmlich am Boden schleiften. Ich hätte beschlossen, ihm das Abendessen zu bezahlen, als Anerkennung.

Er gab zurück, er würde um die Rechnung einen Ringkampf mit mir veranstalten. Ich sagte ihm nicht daß ich in leidenschaftlichen Augenblicken sehr darauf achten mußte, meinen Männern nichts zu brechen; ich kicherte nur. Eine kichernde Frau meines Alters macht sich bestimmt nicht gut, aber was soll ich machen — wenn ich glücklich bin, fange ich an zu kichern.

Natürlich hinterließ ich den beiden Mädchen eine Nachricht.

Als wir ziemlich spät zurückkehrten, waren sie fort. Burt und ich gingen zu Bett, wobei wir uns diesmal die Zeit nahmen, die Doppelcouch auszuziehen. Ich erwachte, als Anna und Goldie auf Zehen-spitzen ins Schlafzimmer gingen. Ich tat aber, als schliefe ich; wir konnten uns morgen früh weiter unterhalten.

Am nächsten Morgen spürte ich dann, daß Anna dicht neben uns stand und gar nicht glücklich aussah — und ich muß ehrlich gestehen, daß mir in diesem Moment zum erstenmal der Gedanke kam, daß Anna vielleicht etwas dagegen hatte, mich mit einem Mann im Bett zu sehen. Ich hatte natürlich schon vor langem erkannt, in welcher Richtung ihre Neigungen lagen, ich wußte, daß sie etwas für mich übrig hatte.

Aber sie hatte sich von sich aus zurückgehalten, so daß ich nicht mehr das Gefühl hatte, bei ihr eine Rechnung offen zu haben; sie und Goldie waren meine Freunde, zuverlässige Freunde, die einander vertrauten.

„Schau mich nicht so mürrisch an, meine Dame!“ sagte Burt mit hoher Stimme. „Ich wollte nur nicht naßregnen.“

„Ich habe nicht mürrisch geschaut“, antwortete sie ernst. „Ich habe mir nur überlegt, wie ich um das Bett herum an das Terminal komme, ohne euch zu wekken. Ich möchte Frühstück bestellen.“

„Für uns alle?“ fragte ich.

„Aber ja. Was wollt ihr haben?“

„Von allem etwas, dazu Bratkartoffeln. Liebste Anna, du kennst mich doch — wenn es nicht schon tot ist bringe ich es um und schlinge es roh herunter, mitsamt den Knochen.“

„Für mich dasselbe“, sagte Burt.

„Was seid ihr für laute Nachbarn.“ Goldie stand gähnend in der Tür. „Plaudertaschen. Geht wieder ins Bett!“ Ich schaute sie an und erkannte zweierlei: Bisher hatte ich sie mir noch nicht gründlich angesehen, nicht einmal am Strand. Und wenn Anna böse auf mich war, weil ich mit Burt geschlafen hatte, so hatte sie dazu keinen Grund: Goldie wirkte auf beinahe unanständige Weise befriedigt.

„Der Name bedeutet ›Hafeninsel‹“, erklärte Goldie „und müßte eigentlich einen Bindestrich in der Mitte haben, weil niemand ihn richtig schreiben oder aussprechen kann. Ich schlage mich also als ›Goldie‹ durchs Leben — was in der Mannschaft des Chefs kein Problem war, weil dort selten mit Namen gearbeitet wurde. Ganz so schlimm wie Mrs. Tomosawa bin ich allerdings nicht dran — als ich mich etwa viermal versprochen hatte, bat sie mich, sie Gloria zu nennen.“

Wir beendeten gerade ein umfangreiches Frühstück, und meine beiden Freundinnen hatten mit Gloria gesprochen, und das Testament war eröffnet worden, wonach sie beide (und zu meiner Überraschung auch Burt) um einiges reicher waren. Wir alle bereiteten unsere Abfahrt nach Las Vegas vor: Drei von uns wollten sich Arbeit suchen, Anna wünschte einfach bei uns zu bleiben, bis wir unsere neue Tätigkeit aufnahmen.

Anschließend wollte sie nach Alabama fahren.

„Vielleicht bin ich das Herumstromern leid. Ich habe meiner Tochter aber versprochen, die Arbeit aufzugeben, und jetzt ist der richtige Moment dazu. Ich kann mich wieder mit meinen Enkeln anfreunden ehe sie zu groß werden.“

Anna war Großmutter? Kann man einen anderen Menschen wirklich gut kennen?

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