5. Kapitel

Neun Wochen später brach ich nach Neuseeland auf.

Eins muß man dem Chef lassen: Der hochnäsige Drangsalierer weiß immer, wovon er spricht. Als Dr. Krasny mich entließ, ging es mir wahrhaft nicht am „gutesten“. Ich war nichts anderes als ein geheilter Patient, der keine Bettpflege mehr brauchte.

Neun Wochen später hätte ich bei den alten olympischen Spielen Medaillen erringen können, ohne ins Schwitzen zu kommen. Als ich im Freihafen von Winnipeg die SBR Abel Tasman bestieg, warf mir der Captain einen interessierten Blick zu. Natürlich wußte ich, daß ich gut aussah, und wackelte in einer Weise mit dem Hintern, wie ich es während einer Mission niemals getan hätte — als Kurier versuche ich normalerweise mit meiner Umgebung zu verschmelzen. Jetzt aber hatte ich Urlaub, und da macht es mir durchaus Spaß, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Anscheinend hatte ich diese Kunst noch nicht ganz verlernt, denn der Captain erschien an meiner Koje, während ich mich noch anschnallte. Vielleicht lag es auch an dem Superhaut-Einteiler, den ich am Leibe trug — eine neue Mode in diesem Jahr und mein erster Ausflug in dieser Aufmachung; ich hatte das Ding im Freihafen gekauft und mich noch im Laden umgezogen. Sicher ist es nur noch eine Zeitfrage, bis sich die Sekten, die den Sex mit Sünde in Verbindung bringen, zu der Ansicht durchringen, daß das Tragen von „Superhaut“ eine Todsünde sei.

„Miß Baldwin, nicht wahr?“ fragte er. „Werden Sie in Auckland abgeholt? Wir haben Krieg, und da ist esnicht gut, wenn eine Frau auf einem internationalen Flughafen allein ist.“

(Ich verzichtete auf die Antwort: „Hören Sie, Bübchen, das letztemal habe ich den Störenfried umgebracht.“)

Der Captain war ungefähr einsfünfundneunzig groß und brachte es auf hundert Kilogramm oder mehr ohne daß er ein Gramm Fett am Leibe hatte. Anfang Dreißig und von einem Blond, wie man es eher bei der SAS erwartete und nicht bei der ANZAC. Wenn er sich beschützerisch geben wollte, so hatte ich nichts dagegen mitzumachen. Ich antwortete: „Ich werde nicht abgeholt, aber ich steige nur in das Shuttle zur Südinsel um. Wie funktionieren diese Gurte?

Ach, bedeuten die Streifen etwa, daß Sie der Captain sind?“

„Ich zeige es Ihnen. Captain, ja — Captain Ian Tormey.“ Er begann mich festzuschnallen; ich ließ ihn gewähren.

„›Captain‹ — ohwei! Ich habe noch nie mit einem richtigen Captain gesprochen!“ Eine solche Antwort ist auch dann keine Flunkerei wenn sie zum alten Ritus zwischen Mann und Frau gehört. Er hatte zu mir gesagt: Ich bin auf der Suche, und du siehst gut aus.

Hast du Interesse? und ich hatte geantwortet: Du siehst akzeptabel aus, aber leider muß ich dir sagen, daß ich heute keine Zeit habe.

Jetzt konnte er die Sache aufgeben, womit die Sache für beide Seiten erledigt war, oder sich dazu durchringen, ein wenig Charme zu investieren, falls wir uns noch einmal über den Weg liefen. Er entschied sich für die zweite Möglichkeit.

Während er meinen Gurt anzog — nicht zu fest doch sicher und ohne die Gelegenheit falsch zu nut-zen — ganz professionell —, sagte er: „Die Verbindung wird heute etwas knapp. Wenn Sie beim Aussteigen etwas warten und das Schiff als letzte verlassen, bringe ich Sie gern an Bord Ihrer Kiwi. Damit kommen Sie schneller ans Ziel, als sich allein durch die Menschenmenge drängen zu müssen.“

(Zwischen den Anschlüssen sind siebenundzwanzig Minuten Zeit, und damit hättest du zwanzig Minuten mir mein Komm-Signal abzuschwatzen. Aber bleib weiter so süß, dann geb’ ich’s dir vielleicht!) „Ja, vielen Dank Captain! Wenn es Ihnen wirklich nicht zuviel Mühe macht?“

„ANZAC-Service, Miß Baldwin. Und ein persönliches Vergnügen.“

Ich fliege gern die Semiballistischen Raketen — der hochbeschleunigte Start, der einem stets das Gefühl vermittelt, die Wiege würde brechen und die Flüssigkeit in der ganzen Kabine verspritzen, die atemlosen Minuten im freien Fall, in deren Verlauf man das Gefühl hat, sich übergeben zu müssen, dann der Wiedereintritt und das endlose Hinabgleiten, das jede Achterbahn in den Schatten stellt. Wo gibt es in vierzig Minuten mehr Spaß, ohne daß man die Kleidung ablegen muß?

Dann kommt die immer wieder interessante Frage:

Ist die Landebahn frei? Eine SBR kann nur einmal zum Landeanflug ansetzen, einen zweiten Versuch gibt es nicht.

In der Reisebroschüre steht, daß keine SBR startet bevor nicht vom Zielflughafen eine Freigabe vorliegt.

O ja, ich glaube an Märchen wie die Eltern meines Chefs. Was macht man gegen irgendeinen Dummkopf, der mit seinem privaten AAF die falsche Lan-debahn wählt und seinen Schlitten stehenläßt? Und was war damals in Singapur? Ich saß in der Dachgarten-Bar und sah zu, wie im Zeitraum von neun Minuten drei SBR landeten. Ich muß zugeben, nicht auf derselben Landebahn, aber auf Strecken, die sich kreuzten! Russisches Roulette.

Trotzdem werde ich weiter damit fliegen; ich habe Spaß daran, außerdem bin ich oft beruflich darauf angewiesen. Allerdings halte ich zwischen Landung und Stop meistens den Atem an.

Auch dieser Schuß machte mir viel Freude, außerdem dauert ein semiballistischer Flug nie so lange daß man müde wird. Als wir gelandet waren, hielt ich mich im Hintergrund, und nach kurzer Zeit kam mein höflicher Wolf aus dem Cockpit. Die Stewardeß reichte mir meinen Koffer, und Captain Tormey mißachtete meine wenig ehrlich gemeinten Proteste und griff danach.

Er führte mich zum Shuttle-Ausstieg, übernahm es meine Reservierung zu bestätigen und mir den Sitz auszusuchen, dann drängte er sich an dem „Nur Passagiere“-Schild vorbei und nahm neben mir Platz.

„Wirklich schade, daß Sie so schnell weiterfliegen — schade für mich, meine ich. Nach meinen Vorschriften muß ich jetzt drei Tage lang pausieren, ehe ich den Rückflug antreten kann — und zufällig habe ich auf diesem Flug nichts vor. Meine Schwester und ihr Mann haben früher hier gelebt, aber sie sind nach Sidney gezogen, und da finde ich hier keinen Anschluß mehr.“

(Ich kann mir auch lebhaft vorstellen, wie du deine Freiheit ausschließlich mit deiner Schwester und deinem Schwager verbringst!) „Oh, das ist ja wirklich schade!Ich weiß, wie Ihnen zumute sein muß. Meine Familie lebt in Christchurch, und ich fühle mich auch immer einsam, wenn ich nicht bei ihr sein kann. Eine große lärmende, anhängliche Familie — ich habe in eine SGruppe geheiratet.“ (Das muß man stets sofort sagen.)

„Oh, wie schön! Wie viele Männer haben Sie denn?“

„Captain, diese Frage stellen die Männer doch immer zuerst. Darin kommt ein Mißverständnis hinsichtlich der S-Gruppen zum Ausdruck. Viele glauben nämlich, ›S‹ bedeutet ›Sex‹.“

„Heißt es das nicht?“

„Meine Güte, nein! Es bedeutet Sicherheit und Schutz und soziale Fürsorge und vieles mehr, Dinge voller Behaglichkeit. Oh, Sex kommt natürlich auch vor. Aber Sex gibt es ja überall. Nur deswegen braucht man keine komplizierte S-Gruppe auf die Beine zu stellen.“ („S“ heißt im Grunde „Synthetische Familie“, die auf diese Weise in der Gesetzgebung der ersten territorialen Nation, der Kalifornischen Konföderation, festgelegt wurde. Aber ich hätte zehn zu eins gewettet, daß Captain Tormey das genau wußte. Wir machten hier lediglich einige StandardVariationen des Großen Kennenlernens durch.)

„Ich finde nicht, daß es Sex überall gibt …“

(Ich weigerte mich, nach diesem Köder zu schnappen. Captain, bei deiner Größe und Schulterbreite, bei deinem rosig-sauberen Aussehen, ich bitte dich! Außerdem hast du beinahe zuviel Zeit für die große Jagd — in Winnipeg und Auckland, um Himmels willen, zwei Orte, an denen es reichlich heiße Höschen zu kühlen gibt. Das solltest du lieber zurücknehmen!)„… aber ich bin Ihrer Meinung, daß das als Grund für eine Ehe nicht ausreicht. Ich werde vermutlich nie heiraten — denn ich will frei sein wie die Wildgänse.

Eine S-Gruppe scheint mir aber ein hübscher Ankerplatz zu sein.“

„O ja.“

„Wie groß ist sie denn?“

„Ach, Sie interessieren sich noch immer für meine Ehemänner? Ich habe drei Männer, Sir, und drei dazugehörige Gruppenschwestern … die Ihnen sämtlich gefallen würden — besonders Lispeth, unsere jüngste und hübscheste. Liz ist eine rothaarige Schottin, die gern mal flirtet. Kinder? Natürlich. Wir versuchen sie jeden Abend zu zählen, aber sie wimmeln ziemlich lebhaft durcheinander. Dazu junge Katzen und Enten und kleine Hunde und ein weitläufiger Garten, in dem fast das ganze Jahr über die Rosen blühen. Ein fröhlicher, betriebsamer Ort, an dem man stets aufpassen muß, wohin man tritt.“

„Hört sich großartig an. Könnte die Gruppe einen zusätzlichen Mann gebrauchen, der nicht oft zu Hause ist, aber eine große Lebensversicherung besitzt?

Wieviel kostet es, sich in die Gruppe einzukaufen?“

„Ich spreche mal mit Anita darüber. Ihr Vorschlag scheint mir aber nicht sonderlich ernst gemeint zu sein.“

Das Geplauder, dem keiner eine mehr als nur symbolische Bedeutung beimaß, ging weiter. Nach einiger Zeit erklärten wir die Partie für unentschieden und ließen uns die Möglichkeit eines Wiederholungsspiels offen, indem wir unsere Komm-Kodes austauschten — er bekam die meiner Familie in Christchurch als Antwort auf sein Angebot, ich könneja auch mal seine Wohnung in Auckland benutzen. Er sagte, er habe den Mietvertrag nach dem Umzug seiner Schwester übernommen, er brauche sie aber normalerweise nur sechs Tage im Monat. „Sollten Sie also in der Stadt sein und benötigen ein Plätzchen, um sich zu waschen und aufs Ohr zu legen, brauchen Sie nur anzurufen.“

„Aber wenn sich nun einer Ihrer Freunde gerade dort aufhält, Ian?“ Er hatte mich gebeten, ihn nicht mehr „Captain“ zu nennen. „Oder womöglich Sie selbst.“

„Das ist unwahrscheinlich, aber wenn es so wäre wüßte der Computer Bescheid und würde es Ihnen sagen — ich jedenfalls würde Sie nur ungern verpassen wollen.“

Ein direkter Vorstoß, doch auf denkbar höfliche Weise. Ich antwortete darauf, indem ich ihm meine Nummer in Christchurch gab und ihm damit indirekt sagte, er könne gern versuchen, mir ins Höschen zu fassen … wenn er den Mut hatte, sich meinen Männern, meinen Mit-Frauen und einer Horde lärmender Kinder zu stellen. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß er anrufen würde. Großgewachsene, gutaussehende Junggesellen in attraktiven, gutbezahlten Berufen brauchen keine so weiten Anläufe zu nehmen.

In diesem Augenblick unterbrach der Lautsprecher seine gemurmelten Ansagen von Starts und Landungen und verkündete: „Mit tiefstem Bedauern teilen wir Ihnen mit, daß vor wenigen Minuten die Stadt Acapulco völlig vernichtet wurde. Diese Nachricht wird Ihnen übermittelt von Interworld Transport. Inhaber der Dreifach-S-Linien — Schnelligkeit, Sicherheit, Service.“Mir stockte der Atem. Captain Ian sagte: „Oh, was für Idioten!“

„Welche Idioten?“

„Ich meine damit das ganze mexikanische Revolutionskönigreich. Wann begreifen die territorialen Staaten endlich, daß sie gegen die Konzernstaaten nichts ausrichten können. Deshalb habe ich sie als Idioten bezeichnet. Und das stimmt auch!“

„Warum sagen Sie das, Captain — Ian?“

„Liegt doch auf der Hand. Ein Territorialstaat selbst wenn es sich um L-4 oder einen Asteroiden handelt, ist doch ein sicheres Ziel. Aber gegen einen Multinationalen zu kämpfen ist gleichbedeutend mit dem Versuch, eine Nebelschwade zerteilen zu wollen.

Wo liegt das Ziel? Kann man gegen IBM kämpfen?

Wo ist IBM? Der eingetragene Hauptsitz ist eine Schließfachnummer im Freistaat Delaware. Das ist kein Angriffsziel. Die Büros und Mitarbeiter und Fabriken von IBM verteilen sich auf über vierhundert Territorialstaaten bodenseits und einige Dutzend Stationen im All; man kann keinen Teil von IBM verwunden, ohne jemand anders ebenso schlimm oder noch schlimmer zu treffen. Kann aber IBM jemanden besiegen, beispielsweise Großrußland?“

„Ich weiß es nicht“, räumte ich ein. „Die Preußen haben es jedenfalls nicht fertiggebracht.“

„Es würde in jedem Falle davon abhängen, ob IBM einen Vorteil darin sähe. Soweit ich weiß, verfügt IBM nicht über Guerillas, die Firma gebietet vielleicht nicht einmal über Sabotagetrupps. So müßte sie die Bomben und Geschosse wohl kaufen. Aber sie könnte sich dabei viel Zeit lassen und ihre Vorbereitungen in aller Ruhe treffen, weil Rußland sich nicht vom Fleckbewegt. Es wird an Ort und Stelle bleiben, ein dickes saftiges Ziel, sei es heute, in einer Woche oder in einem Jahr. Interworld Transport aber hat uns gerade offenbart, wie das Ergebnis aussehen würde. Dieser Krieg ist aus. Mexiko hat sich darauf verlassen, daß Interworld es nicht riskieren würde, eine mexikanische Stadt zu vernichten und damit die öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen. Dabei vergaßen die Trottel von Politiker aber, daß Firmengroßmächte sich nicht annähernd so sehr für die öffentliche Meinung interessieren, wie es die Territorialstaaten tun müssen. Der Krieg ist aus.“

„O ja, das hoffe ich! Acapulco ist — war — ein hübscher Ort.“

„Ja, und das wäre er noch immer, wenn der verkalkte Revolutionsrat Montezuma nicht immer noch fest auf dem Boden des zwanzigsten Jahrhunderts stünde. Jetzt aber wird man sich bemühen, das Gesicht nicht zu verlieren. Interworld wird sich entschuldigen und eine Entschädigung zahlen, ohne großes Aufhebens wird der Montezuma-Rat sodann das Land und die Extraterritorialität für den neuen Raumflughafen an eine neue Firma mit mexikanischem Namen und einem Hauptsitz im Freistaat Delaware abtreten — und die Öffentlichkeit wird nicht einmal erfahren, daß die neue Firma zu sechzig Prozent Interworld und zu vierzig Prozent eben jenen Politikern gehört, die ein wenig zu lange zögerten und die schöne Stadt Acapulco der Vernichtung anheimgaben.“ Captain Tormey zog ein mürrisches Gesicht, und mir wurde plötzlich klar, daß er älter war als ich zuerst angenommen hatte.

„Ian“, sagte ich, „ist ANZAC nicht eine Tochterge-sellschaft von Interworld?“

„Vielleicht rede ich deshalb so zynisch.“ Er stand auf. „Ihr Shuttle macht am Tor fest. Geben Sie mir Ihr Gepäck.“

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