Siebzehnter September

Kurz bevor wir nach Washington Junction kamen, trat bei Donovan eine Krise ein. Sein starkes Herz hatte das Koma hinausgezögert, doch jetzt war es zu spät, ihn nach Phoenix zu bringen. Er wäre nicht mehr lebend hingekommen.

Ich ließ ihn in mein Laboratorium tragen und auf den Operationstisch legen. Die Träger sahen sich neugierig um. Sie hatten keine so komplizierte Ausstattung erwartet. Keiner von ihnen kannte meinen Namen oder wußte etwas von mir. Jedoch Menschen, die in der Wüste leben, sind nicht sehr neugierig oder redselig. Die Hitze, die das Blut verdünnt, macht das Hirn träge, und keiner denkt mehr, als es für die primitiven Funktionen des Lebens nötig ist. Ich lebte zurückgezogen. Niemand fragte mich, was ich täte. Die Wüste ist voll von Einsiedlern und einsamen Menschen mit seltsamen Gewohnheiten.

Ich schickte die Männer fort, dann zog ich ein reines Hemd an, das Janice ins Laboratorium gelegt hatte. Auf dem Schreibtisch fand ich eisgekühlten Kaffee und etwas zu essen. Sie wartete schweigend in ihrem Zimmer, daß ich sie rufen sollte. Das Unglück hatte das eintönige Gleichmaß unserer Tage unterbrochen, und nun hoffte sie wohl, ich würde mit ihr sprechen wollen.

Ich untersuchte den Sterbenden. Sein Puls war ungeheuer schnell, die Herztöne waren so schwach, daß ich sie kaum mit dem Stethoskop hören konnte.

Ich rief Janice. »Wo ist Schratt?« fragte ich. Ich merkte, daß sie nicht geschlafen, sondern auf meine Rückkehr gewartet hatte.

»Er hat den anderen Verunglückten nach Phoenix gebracht«, erwiderte sie.

»Rufe im Hospital an und sage ihm, er möchte sofort herkommen. Und dann komm und hilf mir.«

Sie rannte aus dem Zimmer, um meinem Befehl zu gehorchen.

Ich mußte zu einer Entscheidung gelangen. Ich mußte mich jetzt entschließen. Sofort! Ehe es zu spät war! Ich fühlte mich durchaus nicht mehr erschöpft. Eine solche Gelegenheit hatte es noch nie gegeben. Sie war ungeheuerlich. Dieser Mann lag im Sterben, aber sein Hirn lebte noch. Es war ein außergewöhnliches Hirn, die Wölbung war groß und vollkommen geformt, die Hirnschale breit, die Stirn mächtig.

Ich versuchte mit dem Enzephalographen die Reaktionen. Er wies starke Delta-Abweichungen auf.

Das Hirn eines Tiers hat schwache Reaktionen und wenig Widerstandsfähigkeit. Ein Tier gibt auf, wenn es sterben muß. Das Hirn ist ein minderes Organ seines Körpers, weniger wichtig als seine Verteidigungswerkzeuge. Doch der Mann auf meinem Tisch hatte sein ganzes Leben lang sein Hirn geübt, trainiert, stark gemacht. Hier war das vollkommene Hirn, wie es sich ein Wissenschaftler wünschen konnte!

Wenn Schratt nur hier wäre!

Donovans Schädel war fast haarlos. Das machte es leichter. Er war in einem Koma; dadurch wurde die Anästhesie unnötig.

Ich schaltete den Sterilisator ein und legte ein chirurgisches Skalpell und eine Gigli-Säge hinein.

Als die Instrumente fertig waren, holte ich das Skalpell heraus und machte einen halbkreisförmigen Einschnitt in die Haut, genau über dem rechten Ohr. Ich führte den Einschnitt weiter um den Hinterkopf bis zur oberen Kante des linken Ohrs. Ich zog das Skalpell vorwärts, bis es den obersten Teil des Schädels völlig entblößte. Es gab nur ganz geringe Blutungen der freigelegten Oberflächen.

Dann nahm ich die Gigli-Säge und machte einen Einschnitt in das Knochengewölbe, ganz um den Schädel herum. Um das Hirn nicht zu verletzen, gab ich sehr acht, die Dura Mater nicht zu durchschneiden. Dann hob ich den ganzen oberen Teil der Schädelwölbung ›in toto‹ ab.

Die glänzende Oberfläche der harten äußeren Hirnhaut war noch warm, als mein Finger sie berührte.

Ich machte den halbkreisförmigen Einschnitt wie in die äußere Haut.

Dann zog ich die Hirnhaut vorwärts, und da lag Donovans Hirn vor meinem Blick!

Donovan hörte auf zu atmen. Weiße Asphyxie setzte ein – infolge des Aussetzens der Herztätigkeit. Ich hatte keine Zeit, Stimulantien anzuwenden. Das hätte unersetzliche Minuten gekostet. Ich mußte sein Hirn öffnen, solange er noch lebte. Ich hatte bei dem Affen diesen Fehler gemacht und konnte ihn nicht noch einmal riskieren.

Ich hörte, wie Janice mit Phoenix telefonierte. Schratt war auf dem Heimweg. Sie wiederholte den Bescheid so laut, daß ich ihn hören konnte.

Wenn bloß Schratts Ford nicht zusammenbrach!

Janice kam herein. Sie blieb stehen, als sie mich an dem Körper arbeiten sah. Sie hatte Medizin studiert, mir zuliebe und um die Möglichkeit zu haben, mir näher zu sein. Sie war eine ideale Helferin – kühl, konzentriert, präzis selbst in den gefährlichsten Augenblicken. Doch wie Schratt haßte sie die Arbeit, die ich tat, denn sie zog mich von ihr weg, und sie war eifersüchtig. Ich war mit meinen Geräten und meinen Seziermessern verheiratet.

»Die Gigli-Säge! Rasch!« sagte ich. Ich streckte die Hand aus, ohne Janice anzusehen. Sie stand noch im Türrahmen, und nun zögerte sie. Dann hörte ich, wie sie sich bewegte. Sie trat dicht hinter meine Schulter und reichte mir das Instrument. Ich preßte die Gigli-Säge an das Hinterhauptbein. Meine Arbeit nahm mich so vollständig in Anspruch, daß ich Schratt nicht eintreten hörte.

Endlich merkte ich, daß mich jemand beobachtete. Schratt stand zwei Meter hinter mir und starrte mich an. Sein Gesicht zuckte, er kämpfte mit sich selbst und konnte sich nicht entscheiden, ob er weglaufen oder mir assistieren sollte; doch endlich überwand er seinen Schock darüber, zuzusehen, wie ich einem Menschen sein Hirn stahl!

Ich hob die Hirnschale auf und trennte sie ab, indem ich die Medulla oblongata genau über der Schädelöffnung, durch die sie läuft, abschnitt.

»Wir wären lieber allein, Janice!« sagte ich.

Sie verließ uns sofort – ich fühlte, wie erleichtert sie war, daß sie gehen durfte, und einen Augenblick bedauerte ich, daß ich sie zu Hilfe gerufen hatte. Ich brauchte keine Zeugen!

»Ziehen Sie diese Handschuhe an – und einen Kittel«, sagte ich zu Schratt, während ich mit einem stumpfen Dissektor den Frontalgyrus lockerte, vorsichtig tastend, um die Augen nicht zu verletzen.

Schratt barg impulsiv das Gesicht in den Händen und stand ein paar Sekunden regungslos. Als er wieder aufsah, hatte sich sein Ausdruck verändert. Er hatte gewußt, was ich tat – in dem gleichen Augenblick, als er das Laboratorium betrat. Ich verletzte Ehre und Pflicht und Glauben, doch er weigerte sich nicht, mir zu helfen, obwohl ich nicht die Macht besaß, ihn zu zwingen.

Der verhinderte Pasteur in ihm war durchgebrochen, und Schratts Berufung war stärker als sein Gewissen. Ich wußte, daß er nachher alle Qualen der Reue erleiden würde, Verzweiflungsanfälle, die er in Tequila ertränken mußte. Auch er wußte es, jedoch er half mir.

Er trat zum Tisch und zog die Handschuhe an. Ohne sich damit aufzuhalten, einen Kittel anzuziehen, griff er nach dem Messer. Seine Hände, schwer und grobfingerig, wurden fein und geschickt. Er arbeitete sehr schnell.

»Ich werde die Medulla oblongata hier einschneiden müssen«, murmelte er, und als ich nickte, tat er es.

Ich nahm Blutserum vom Kocher, befestigte die Gummiröhre an der rotierenden Pumpe und drehte das ultraviolette Licht an.

»Fertig?« fragte Schratt.

Ich nickte, nahm ein dampfendes Handtuch vom Sterilisator und hielt es über das Hirn, das Schratt nun aus der unteren Hirnschale hob. Er trug es hinüber zu der Glasschale und tauchte es im Serum unter, befestigte die Gummiröhren an den vertebralen und internen Carotyd-Arterien und setzte die Pumpe in Bewegung.

»Beeilen Sie sich«, sagte Schratt und zog die Handschuhe aus. »Man kann jede Sekunde nach der Leiche kommen.« Sein Gesicht sah plötzlich wieder grau und faltig aus. Er deutete auf den Toten. »Bringen Sie ihn lieber in Ordnung. Stopfen Sie Watte in den Schädel – sonst könnten die Augen einfallen.«

Ich füllte die Schädelhöhle mit Baumwollbandagen, legte die Schädeldecke auf und befestigte sie mit Leukoplast. Dann zog ich die Kopfhaut wieder über den Schädel, bandagierte den Kopf sorgfältig und war vorsichtig genug, ein paar Tropfen von Donovans Blut in die Binden sickern zu lassen, als sei es durchgedrungen aus der Wunde, die durch den Unfall entstanden war.

Ich wandte mich rasch um, ich wollte sehen, ob das Hirn noch lebe. Schratt hielt mich auf. »Wir haben alles getan, was wir konnten«, sagte er. »Lassen Sie uns die Leiche hier herausbringen! Oder wollen Sie, daß man – das da sieht?« Und er wies mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf das Hirn. »Wenn wir den Körper in die Sonne hinaustragen, zersetzt er sich schnell. Ich will keine Leichenschau.« Die Aufregung hatte meine Urteilskraft verwirrt, und ich fügte mich Schratts Anweisungen. Er schien sich jedoch seiner neuen Autorität nicht zu freuen.

Jahrelang war Schratt durch meine Gegenwart gehemmt gewesen, das wußte ich. Er hatte seinen eigenen Ehrgeiz, seinen eigenen Trieb verloren und neidete mir die Beharrlichkeit, mit der ich meine Forschungen durchführte. Doch jetzt nützte er seine Überlegenheit nicht aus, obwohl er endlich die Oberhand hatte. Feige wich er der Möglichkeit aus, sich einmal für die Demütigungen zu rächen, die ich ihm unwillkürlich durch all diese Jahre zugefügt hatte.

Wir legten Donovans Körper auf eine Bahre, bedeckten ihn mit einem Laken und trugen ihn nach draußen. Die Hitze würde schnelle Arbeit tun. Dann gingen wir zurück ins Laboratorium und räumten auf.

»Schreiben Sie den Totenschein und den Befund, ehe die Ambulanz herkommt«, sagte ich ruhig.

Er antwortete nicht, und ich konnte erraten, daß seine Reue schon begonnen hatte!

Nun mußte er sein Verbrechen schwarz auf weiß registrieren, einen Schein ausstellen, der ihn zu jeder Zeit ins Gefängnis bringen konnte. Das Gefängnis fürchtete er nicht so sehr – aber er hatte den letzten Faden Selbstachtung verloren.

»Es tut mir leid. Ich könnte es ja selbst schreiben, aber ich habe keine Amtsbefugnis dazu. Außerdem war es ja Ihre Aufgabe, sich der Opfer des Absturzes anzunehmen.«

»So, so, jetzt werde ich erpreßt«, sagte er mit einem düsteren Lächeln, und ich verstand, was er meinte. Er war jetzt gefährlich. Er war imstande, uns beide in einem Anfall seiner pathologischen Depressionen ans Messer zu liefern.

»Möchten Sie etwas zu trinken?« fragte ich.

Er sah erstaunt auf, las meine Gedanken und schüttelte den Kopf.

»Sie brauchen mich nicht betrunken zu machen, damit ich den Schein ausstelle«, murmelte er und ging hinüber zum Schreibtisch. »Wie ist der Name des Toten?«

Als ich ihn nannte, wurde er blaß. »W. H. Donovan«, wiederholte er und setzte sich zitternd nieder. Ich wartete, bis er sich faßte. »Wir haben also Donovans Hirn gestohlen!«

Plötzlich lachte er auf, wandte sich zum Schreibtisch, nahm eine Feder und zog ein Blankoformular für den Bericht an die Polizei aus der Tasche. »Ich lasse den Namen lieber offen«, sagte er, »und ich hoffe nur, die Hitze zerstört die Leiche schnell, ehe jeder Arzt im ganzen Lande herkommt und seine Nase da hineinsteckt.«

Er schrieb und reichte mir das Papier.

»Todesursache: Starke Blutung und Schock, der Amputation beider Beine vorangehend«, las ich.

»Sie können selbst sehen, daß es wahr ist, was ich geschrieben habe.«

Er sprach großtuerisch, um seine Unsicherheit zu verbergen, und ging hinüber zur Tür. »Ich werde veranlassen, daß er von Phoenix aus abgeholt wird.«

Dann setzte er seinen großen Hut auf und ging hinaus, ohne mich anzusehen oder mir Adieu zu sagen. Er war wieder einmal mit mir fertig. Draußen hielt er einen Augenblick an, um mit Janice zu sprechen. Sie haben eine merkwürdige kleine Verschwörung, und ich habe mir nie die Mühe genommen, mich einzumischen; auch jetzt interessierte es mich nicht, was sie miteinander zu reden hatten, aber ich ging doch in mein Schlafzimmer und rief nach ihr.

Janice kam sofort herein.

»Du müßtest etwas schlafen.« Sie machte diesen Vorschlag sehr unsicher. Zum erstenmal seit Jahren sagte sie mir, was ich tun sollte. Sie pochte zögernd an die Tür meines Bewußtseins, mit dem schüchternen Versuch, sich in Erinnerung zu bringen.

»Die Ambulanz aus Phoenix wird die Leiche abholen«, sagte ich. »Und wenn irgend jemand kommt, störe mich nicht – wer es auch sei.« Ich sank auf das Bett. Ich brauchte wirklich Schlaf.

Schon während ich mich zur Wand drehte, fühlte ich, wie der Schlaf meine Gedanken auslöschte.

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