Dritter Oktober

In derselben Nacht – gestern nacht – ging ich in Schratts Zimmer hinter der Garage. Ich war zu Ende mit meiner Kunst – ich mußte ihn sprechen.

Das Hirn hatte meinem Befehl gehorcht und die Worte wiederholt, die ich ihm zu denken befahl. Wie aber konnte ich seine eigenen Gedanken übersetzen, die zweifellos auf dem Papierstreifen niedergekritzelt waren?

Es war drei Uhr morgens. Der Himmel war klar. Die Kälte ließ den Sand unter meinen Füßen knistern.

Ich trat ohne zu klopfen in Schratts Zimmer. Er schlief fest, sein Mund stand offen. Sein Gesicht war dünner, aber er sah gesund aus. Die gedunsene Haut hatte sich gefestigt und in seine rauhen Wangen war etwas Farbe gekommen. Janices heiliger Einfluß hatte ihn vermutlich vom Alkohol ferngehalten.

Plötzlich schlug er die Augen auf und starrte mich an, als sei ich ein Geist. Als ich seinen Namen nannte, setzte er sich auf, aber er starrte mich weiter an.

»Kommen Sie mit«, sagte ich. Meine Stimme klang rauh.

Ich mußte Schratt erschreckt haben, denn ich las in seinen Augen Furcht und Mißtrauen. Ich blickte in einen bodenlosen Abgrund: Er hatte Angst, ich könnte ihn aufschneiden, um ihn in eine meiner Versuchsröhren zu stecken. Er hielt mich für fähig, alles zugunsten meiner Forschungen zu tun.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte ich.

Der erschreckte Blick wich nicht aus seinen Augen, doch er kroch aus dem Bett und zog einen schmutzigen alten Bademantel über. Er schien ernsthaft nachzudenken, denn seine Stirn war gefurcht. Endlich setzte er sich hin und sagte mit verzweifelter Entschlossenheit: »Ich interessiere mich nicht für Ihre Experimente, Patrick.«

Er hatte sich dafür entschieden, sich an meiner Arbeit nicht zu beteiligen. Er war jetzt, da er in meinem Hause wohnte, mehr von mir losgelöst, als er es früher war, wenn er aus dem Laboratorium stürmte, entschlossen, mich nie wiederzusehen.

»Sie müssen mir helfen, Schratt. Ich komme ohne Sie nicht weiter.«

Das war die schmeichelhafteste Bitte, die ich mir ausdenken konnte.

Er war sichtlich bewegt, doch er zog den Bademantel fester um seinen fetten Körper und schüttelte, immer noch trotzig, den Kopf.

Für ihn wie für mich war die ganze Welt ein Laboratorium. Ich handelte, er aber schreckte vor neuem Wissen zurück. Er hatte sich in mönchische Abgeschiedenheit zurückgezogen, hatte als Wissenschaftler entsagt.

»Sie wissen, ich verabscheue Ihre Forschungen, Patrick. Sie können der Menschheit nicht helfen! Sie können nichts anderes als das Unheil fördern. Sie würden die Welt zur Barbarei zurückführen!«

»Ich bin Spezialist, und Sie auch«, erwiderte ich – ich wollte ihm helfen, sich selbst aus diesen Begriffen herauszuargumentieren. »Die Zivilisation kann ohne Spezialistentum nicht existieren.«

»Ich interessiere mich nicht für die Zivilisation. Wir wissen so wenig von unseren Seelen, daß wir zu Mechanik, Physik und Chemie unsere Zuflucht nehmen. Wir verlieren unsere Bewußtheit der Menschenwürde, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Sie machen aus dem menschlichen Wesen einen hochspezialisierten Steinzeitmenschen, vom Egoismus regiert. Sie schaffen ein mechanisiertes, synthetisches Leben und töten den Geist, der den Menschen über das Tier hinaushebt. Sie glauben nur an Ihre Versuchsretorten! Sie töten den Glauben! Ich bin froh, daß nur wenige Menschen wie Sie existieren! Ihre Forschungen haben Sie immer mehr rationell gemacht – bis Sie sich weigern werden, eine einzige Tatsache anzuerkennen, die sich nicht im Laboratorium beweisen läßt. Ich habe Angst, Patrick, Sie schaffen eine mechanische Seele, die die Welt zerstören wird.«

Ich hörte geduldig zu. Schratt hatte offenbar über das alles gründlich nachgedacht, und es nun auszusprechen tat ihm offenbar wohl.

»Große Mathematiker und Physiologen kommen unvermeidlich einmal zu dem Punkt«, sagte ich ruhig, »an dem ihr Verstand Dingen begegnet, die außerhalb des menschlichen Begreifens liegen – an etwas Göttliches. Sie können dem nur ins Gesicht sehen, indem sie an Gott glauben. Die meisten Wissenschaftler werden religiös, wenn sie dieses Stadium der Forschung erreichen.«

Schratt blickte mich erstaunt an. Das hätten seine eigenen Worte sein können. Als er sah, daß ich ohne Ironie gesprochen hatte, nickte er, doch immer noch zweifelnd – er mißtraute mir als einem Konvertiten, der sich seiner Philosophie zugewandt hatte.

»Wie dem auch sei«, begann ich sofort wieder – ich fühlte seinen Verdacht, daß ich ihn betröge –, »um zu diesem Stadium der Unterwerfung unter das große heilige Unbekannte zu gelangen, muß der Mensch erst die ganze Sphäre durchwandeln, die zu erforschen er fähig ist. Irgendwo, wo unsere Intelligenz ihre Ganzheit hat, endet die Straße unserer Forschungen. Wir umgaukeln das Unbegreifliche, um beim Konkreten anzugelangen. Wir gebrauchen ein Symbol für das Unendliche, teilen es durch konkrete Begriffe, fügen ein Plus, ein Minus hinzu, als könnten wir die Gewalt des Grenzenlosen sichtbar machen. Wir benützen das Unendliche, als sei es greifbar. Aber niemand versteht seine Natur. Wir durchdringen Regionen, die jenseits unseres Verstandes liegen, und kehren mit Lösungen unserer Probleme zurück. Wem tun wir weh? Niemandem, nicht einmal uns selbst! Ich kann meine Forschungen nicht aufgeben, weil mich die Furcht davon abhält weiterzugehen. Am Ende der Straße, die ich wandere, steht Gott, der nicht in Formeln, sondern in einsilbigen Worten spricht. Ich möchte dicht genug bei ihm stehen, um sein Ja oder Nein zu hören!«

Schratt sah mit abwesenden Augen durch mich hindurch.

»Die Erlösung wird durch Taten verdient, nicht durch Verneinung«, schloß ich.

Ich schritt zur Tür und wartete.

Ich hörte Schratt murmeln, und nach einer Minute kam er aus seinem Zimmer. Er folgte mir ins Laboratorium, immer noch zweifelnd und in Abwehrstellung. »Was wollen Sie mir zeigen?«

»Das Hirn hat Verbindung mit mir«, sagte ich. Ich führte aus, wie der Auslöser angeschlossen war. Das Hirn schlief, die Lampe war dunkel.

Ich klopfte an das Glasgefäß, und die Lampe begann zu glühen.

Schratt stand und starrte auf die elektrische Birne – er wollte nicht zeigen, wie sehr er von mir zu hören wünschte, auf welchem Wege ich das zustandegebracht hatte.

Ich erzählte ihm, wie ich mich mit dem Hirn in Verbindung gesetzt und ihm das Morse-Alphabet beigebracht hatte. Schratt hörte zu und regte sich nicht, wie ein Mensch, der vor etwas Übernatürlichem steht.

Ich klopfte an das Glas und befahl dem Hirn, an einen Baum zu denken, dreimal.

Das Enzephalogramm zeigte unmißverständlich kongruente Kurven und wiederholte sie dreimal.

Schratt sank auf mein Bett und nickte. Er vergaß seinen Entschluß, sich nicht für das Experiment zu interessieren. Er starrte voll Ehrfurcht auf das Gefäß, die Instrumente, den Enzephalographen. Schratt ist ein Genie. Er hat noch niemals das Zeugnis seiner Augen angezweifelt. Nur ein außerordentlicher Geist kann etwas Neues auf einmal begreifen. Er tat es. Er begriff.

Auch ich setzte mich. Ich gab ihm Zeit, mit seiner Erregung fertig zu werden. Endlich stand er auf, ging hinüber zu dem Gefäß und fuhr vorsichtig mit seinem dicken Zeigefinger an der elektrischen Verbindung zum Enzephalographen entlang. Als die Birne plötzlich aufglühte, nickte er und murmelte etwas. Sein rauhes, gedunsenes Gesicht leuchtete von einem inneren Schein.

»Das Hirn lebt«, sagte er, als habe er eine kosmische Wahrheit entdeckt. »Kein Zweifel – es lebt! Wir müssen einen Weg finden, seine Botschaften entgegenzunehmen.«

Er setzte sich schwerfällig nieder, die Augen halb geschlossen, und dachte nach. Er schien durchaus nicht entmutigt durch die Hoffnungslosigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.

Er ließ den Papierstreifen durch seine Finger laufen und prüfte ihn genau. »Alpha-, Beta- und Delta-Frequenzen«, sagte er. »Aber sie sind nicht zu entziffern.«

Er ließ den Streifen fallen und gab die Idee auf, die Kurven zu lesen. »Es gibt keine Möglichkeit, den Kode hierfür zu finden«, sagte er endlich. »Sie haben es versucht, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Sie haben einen falschen Weg eingeschlagen«, sagte er, »und Sie wußten es ...«

Ich versuchte, meine Theorie zu verteidigen, damit er beweisen mußte, daß ich unrecht hatte.

»Wenn man jede Gedankenwelle auf dem Papierstreifen registriert«, sagte ich, »und sich mit den Kurven vertraut macht, müßte man fähig sein, das Enzephalogramm von Donovans Hirn mit dem eigenen Gedankenwortschatz zu vergleichen. Angenommen, ich registriere mein Enzephalogramm des Wortes ›Pferd‹. Müßte dann nicht Donovan, wenn er dasselbe Wort denkt, die gleiche Kurve produzieren? Wenn ich nun die Kurven vergliche, könnte ich dann nicht die Bedeutung herauslesen? Warum könnten wir nicht auf ähnliche Art die Botschaften von Donovans Hirn dechiffrieren? Tonwellen und Gehirnwellen zeichnen sich ähnlich ab. Gehirnwellen bewegen sich zwischen 1/2 und 60 Schwingungen pro Sekunde, Tonwellen zwischen 10 und 16 000. Der Ton hat größere Variationen als der Gedanke.«

Ich wußte, daß ich unrecht hatte, aber ich wollte hören, wie er die Theorie widerlegte.

Schratt schüttelte den Kopf. »Eine Tonwelle hat eine feste Frequenz, die Gedankenwellen aber sind bei jedem Individuum verschieden. Mein Hirn produziert nicht die gleichen Wellen wie das Ihre, und sogar der täglich wechselnde Gesundheitszustand beeinflußt die mikrovoltische Leistung der Zellen. Der Fluß einer jeden Idee ist abhängig von der Mikro-Spannung, die das Hirn produziert, und diese wechselt von Minute zu Minute. Sie wechselt, wenn man sich aufregt, wenn man krank, wenn man gesund ist. Nein! Wir müssen die Theorie aufgeben, das Enzephalogramm wie eine telegrafische Meldung zu lesen!«

Er hatte recht. Aber welche andere Möglichkeit gab es?

»Wir könnten höchstens versuchen, uns auf telepathischem Wege mit ihm in Verbindung zu setzen«, überlegte er.

Ich war erstaunt über ihn. Ich hätte eine so wenig orthodoxe Methode nie erwogen – mich einem unbekannten Medium zu nähern, indem ich ein unbekanntes Mittel gebrauchte.

Ich mußte wohl mißbilligend den Kopf geschüttelt haben, denn er fuhr fort: »Warum nicht? Lassen Sie uns diese Idee a priori benützen, wir können nicht auf das langsame Zusammentragen experimenteller Beweise warten! Das Hirn produziert Mikro-Kurzwellen. Die umgebende Luft ist ständig elektrisch geladen – mit 9000 Frequenzen. Unsere Hirnwellen senden Schwingungen aus, die das elektrische Feld der Atmosphäre stören, die ihrerseits die Wellen zum Empfänger trägt. Das denkende Hirn ist ein Sender, das andere Hirn ein Empfänger.«

»Welches andere Hirn?« fragte ich.

»Das Ihre«, sagte er.

Er starrte mich an, schnaubte und nickte, runzelte die Brauen und nickte wieder, als hätte er seine Theorie schon bewiesen.

»Sie haben mir eben eine theoretische Analyse des Phänomens der Telepathie geliefert«, sagte ich trocken, »und sie ist primitiv.«

»In der Vereinfachung liegt Klarheit«, erwiderte er ernst, ohne Überheblichkeit.

Überheblichkeit setzt der Weisheit eine Grenze – und Schratt ist das Gegenteil bis zum Punkt der Selbstverneinung.

Ich dachte über die Erklärung nach.

Hirn Nummer Eins der Sender, Hirn Nummer Zwei der Empfänger, die umgebende Luft das elektrische Feld.

Alles das ließe sich beweisen. Der Enzephalograph bewies die Tatsache, daß das Hirn Mikro-Spannungen aussandte. Das elektrische Feld der Umgebung kann gemessen werden. Doch wie stand es mit dem Empfänger, dem zweiten Hirn? Wie konnten wir wissen, daß es die ausgesandten Spannungen in Gedanken zurückverwandeln konnte, die in einem anderen Hirn entsprungen waren?

Immerhin, es gab öffentliche Zeugnisse genug – und meine eigene Erfahrung bestätigte sie –, daß Telepathie kein Unsinn ist.

Ein Gedanke, der im Hirn Nummer Eins entsteht, kann von der Person Nummer Zwei empfangen werden. Es ist glaubwürdig, daß unser Hirn wie eine Radiostation arbeitet.

»Angenommen, daß Ihre Theorie von der Auswirkung der Telepathie wahr ist – wie können wir sie auf unser Problem anwenden?« fragte ich.

»Versuchen Sie es«, sagte Schratt. »Versuchen Sie, Ihre eigenen Gedanken auszuschalten. Dann könnten sich vielleicht Donovans Gedanken auf Sie übertragen.«

»Ich könnte mir allerhand einbilden. Ich brauche einen hieb- und stichfesten Beweis«, sagte ich ungeduldig.

»Es gibt eine Menge berühmter Medien«, schlug er vor.

»Wir könnten an einen Schwindler geraten«, erwiderte ich. Ich hatte von Schratt etwas Besseres erwartet als diesen ungesunden Vorschlag. »Wir sind in einem Laboratorium, nicht bei einer spiritistischen Séance.«

Schratt ging hin und her, murmelte etwas zu sich selbst, schüttelte den Kopf. Er versuchte, die Wahrheit zu finden – und statt ihm zu helfen, hatte ich seine tastenden Vorschläge verworfen!

»Geben Sie mir Zeit!« sagte er. »Wir werden das Richtige finden!«

Er ging zur Tür und verließ mich, ohne Adieu zu sagen.

Der Morgen war angebrochen. Die Dämmerung erhellte den Himmel. Ich fühlte mich müde. Meine Gedanken waren nicht zusammenhängend. Dieser Schwächezustand, sagte ich mir, könnte meine Empfänglichkeit steigern. Schratts Theorie konnte sich auswirken!

Ich schob einen Stuhl dicht an das Hirn. Es war wach. Die Lampe brannte.

Ich starrte auf die graue Masse von Nervengewebe, deren Energien Gedanken in elektrische Ströme verwandelten. Ich versuchte, die Bahn frei zu machen für die Botschaft, die Donovan vielleicht für mich bereit hatte.

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