Elfter November

Erschöpft war ich eingeschlafen – das Doppelleben, das ich führte, sog an meiner Kraft und meiner Nervenenergie.

Ein jammernder, erstickter Ruf klang in meinen Traum hinein und weckte mich. Er kam aus dem Wohnzimmer. Der Schrei schwoll zu einem irren Aufbrüllen an – als wenn jemand vor Schrecken wahnsinnig würde.

Ich hatte die Stimme nie zuvor gehört.

Ich sprang zur Tür. Die Glühbirne flackerte, als wäre auch das Hirn von seltsamer Erregung geschüttelt. Als ich an dem Glasgefäß vorbeilief, schaltete ich den Enzephalographen an, damit ich die Reaktion des Hirns später studieren konnte.

Der irre Aufschrei erstickte rasch. Statt dessen hörte ich einen schweren Fall, als ob ein Körper auf den Boden rollte und die Möbel umstieße.

Ich schaltete die Wohnzimmerlampe ein und sah Schratts mächtigen Körper auf dem Teppich. Er hatte seine eigenen dicken Finger um seine Kehle gekrallt und würgte sich. Sein rasselnder Atem, sein rotes Gesicht, seine vortretenden Augen zeigten, daß er am Ersticken war.

Ich versuchte, seinen Griff an seiner eigenen Kehle zu lockern, aber ich konnte die Finger nicht aufbiegen.

Während ich mich um Schratt bemühte, riß mich unerwartet eine Hand zurück und drehte mich um – ich sah in Franklins entsetztes Gesicht. Durch den Angriff überrascht, schlug ich zu, um mich zu verteidigen, und Franklin stolperte zurück, sein Gesicht mit den Armen schützend.

Ich ging schnell wieder zu Schratt, der ohnmächtig geworden war. Seine Hände hingen lahm zu beiden Seiten herab. Ich befahl Franklin mir zu helfen, und wir legten ihn auf die Couch.

Schratts Puls raste mit fast verdoppeltem Schlag, sein Herz klopfte schwer, und ich fürchtete, er könne an einem Schlaganfall sterben. Ich öffnete hastig seinen Kragen und sein Hemd und schickte Franklin nach etwas Eis.

Als ich mit dem Eisbeutel zurückkehrte, legte ich diesen auf Schratts Herz. Bald verlangsamte sich das furchtbare Herzklopfen und der Puls wurde wieder normal. Schratt seufzte und schlug die Augen auf. Er starrte mich entsetzt an. Ich sprach ihm beruhigend zu und zwang ihn, etwas Milch zu schlucken, aber seine Zähne klapperten so, daß er die Hälfte verschüttete.

Schratt war im Begriff gewesen fortzugehen. Sein Gepäck stand neben der Tür, sein Mantel lag auf einem Stuhl. Ich war erstaunt, daß er sich bei Nacht wegschleichen wollte, und konnte mir nicht erklären, warum er überhaupt durch das Haus gekommen war, führte doch der nächste Weg aus seinem Zimmer durch den Garten.

»Was soll das?« fragte ich und deutete auf das Gepäck.

Ich stand auf – und Schratts Gesicht erstarrte. Ich begriff nicht, was ihn quälte. Dann folgte ich seinem Blick – und verstand.

Die Tür zum Kasten mit der Hauptsicherung für Haus und Labor war erbrochen. Schratts Hut lag auf dem Boden daneben.

Ich begriff plötzlich, und eine kalte, mörderische Wut erfüllte mich. »Sie wollten das Hirn töten!« schrie ich. Ich verlor fast die Herrschaft über mich.

Er starrte mich an. Ich hatte ihn noch mehr erschreckt.

»Und Sie versuchten, mich zu erwürgen!« sagte er mit zitterndem Mund. Ich hatte ihn niemals so außer sich gesehen.

Ich erschrak. Er dachte, ich hätte ihn angegriffen!

Ruhig und genau erklärte ich, wie ich ihn gefunden hatte. Ich hatte ihn tatsächlich davor bewahrt, Selbstmord zu begehen!

»Niemand kann sich selbst erwürgen«, sagte Schratt verächtlich. »Sie wissen, das ist unmöglich, Patrick!«

Schratt erhob sich und stand unsicher auf seinen Füßen.

»Ich werde morgen früh mit Ihnen sprechen«, krächzte er.

Als ich ihm helfen wollte, lehnte er meinen Beistand ab.

Ich kehrte ins Laboratorium zurück. Die Glühbirne war dunkel, das Hirn schlief. Das Enzephalogramm zeigte hochgradig unregelmäßige Delta-Wellen.

Ich setzte mich hin und versuchte, mir den Zwischenfall zu rekonstruieren. Der Hilfeschrei hatte mich geweckt. Ich konnte mich ganz deutlich an den Klang der Stimme erinnern – und es schien nicht Schratts Stimme gewesen zu sein. Immerhin, es ist schwer, eine Stimme zu erkennen, wenn sie von Entsetzen erstickt wird. Es mußte Schratt gewesen sein! Wen sonst hätte ich hören können?

Um einen Verdacht zu zerstreuen – dessen Konsequenzen zu verwickelt gewesen wären, um sie gleich zu verfolgen – ging ich in Franklins Zimmer.

Er warf seine wenigen Habseligkeiten in einen schäbigen alten Handkoffer. Mein Auftauchen schien ihn zu erschrecken.

Sein plötzlicher Entschluß, mich nach so vielen Jahren zu verlassen, ließ mich an mir selbst zweifeln.

»Du willst auch fort, Franklin? Mitten in der Nacht?« fragte ich.

Franklin setzte sich langsam auf sein Bett, mich mit demselben hilflosen Entsetzen betrachtend, das Schratt gezeigt hatte.

Um Franklin zu beruhigen, sagte ich ihm, es stehe in seinem Belieben, jederzeit fortzugehen, aber ich würde es sehr bedauern. Er wurde etwas gefaßter, und ich fragte ihn, ob er Dr. Schratt gehört hätte, als dieser um Hilfe schrie.

Zu meiner Erleichterung nickte er. Doch als ich ihn fragte, weshalb er mich von Schratt weggerissen hätte, gestand er mir furchtsam, daß er mich angetroffen habe, wie ich Schratt würgte.

»Dr. Schratt hatte einen kataleptischen Anfall«, erklärte ich kurz. »Ich habe ihm nur geholfen.«

Franklin nickte, aber ich sah wohl, daß er mir nicht glaubte. Als ich ins Labor zurückging, war ich unsicher und erregt.

Ich versuchte, die Fäden der Komplikationen zu entwirren. Franklin hatte also auch Schratts Hilferuf gehört. Er hatte mich so heftig zurückgerissen, daß mich sein Griff an meiner Schulter noch schmerzte. Er hätte nie gewagt, mich anzurühren – es sei denn im krassesten Notfall.

Kein Mensch kann sich selbst erwürgen.

Schratt hatte recht, als er feststellte, daß ich etwas Absurdes sagte. Es schien ohne Frage festzustehen, daß ich ihn angegriffen hatte ... Hat das Hirn inzwischen schon so viel Macht erlangt, daß es mir befehlen konnte zu morden? Wenn es so war – wo lag dann die Grenze dieser Macht? Wie die menschliche Energie im Augenblick tödlicher Gefahr ihren Höhepunkt erreicht, war es vorstellbar, daß das Hirn, alle seine Kräfte zu Hilfe nehmend, mich zu seiner Rettung herbeigerufen hatte.

Es wußte um Schratts Absicht, den elektrischen Strom abzuschalten. Die Maschine und der elektrische Kreislauf sind für das Dasein des Hirns ebenso lebensnotwendig wie Herz und Lunge für den Normalmenschen. Als Schratt sich der Hauptsicherung näherte, fühlte das Hirn sich tödlich bedroht.

Wir verstehen fast nichts von den unvoraussagbaren Phänomenen der menschlichen Gehirnenergie. Wir wissen nur, daß elektrische Energien durch die Billionen Zellen reisen, welche die graue Materie des Hirns bilden.

Isolierte Zellen haben die Fähigkeit, neue zu produzieren, deren Funktionen unbekannt sind. Unsere gegenwärtigen Begriffe reichen nicht aus, um ihren Zweck zu erklären.

Während ich schlief, erhielten meine Empfänger-Neuronen einen starken Anreiz von Donovans Nervenzentrum. Seine Kraft, durch neue Zellen gesteigert, war stark genug, die motorischen Neuronen zu beeinflussen und mich zu zwingen, ihm zu Hilfe zu kommen. Erst als Franklin mich zurückriß, erwachte ich aus meinem mörderischen Traum.

Das Hirn hatte keinen Einfluß auf Schratt, denn es schlief nicht wie ich. Das führte zu dem Schluß, daß das Hirn nur Personen beherrschen kann, die schlafen oder willens sind, sich zu unterwerfen. Die Stimme, die ich in meinem Traum hörte, war die Donovans – unhörbar, außer für das heimliche Ohr meines Geistes.

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