Achtundzwanzigster November

Heute bin ich zum erstenmal nach einer Woche wieder imstande, meinen Bericht fortzusetzen. In der Nacht, als ich Yocums Hütte niedergebrannt hatte, träumte ich von nichts, dessen ich mich erinnern kann, aber Schratts Stimme wiederholte einen einzigen Satz immer wieder, ohne aufzuhören. Der Satz hatte für mich keinen Sinn, klang jedoch die ganze Zeit durch meinen Schlaf, und mich ergriff ein kalter Schrecken, als drohten mir die Worte mit tödlicher Gefahr:

Auf zwei sich spreizenden Zweigen saßen zwölf zwitschernde Spatzen –

zwölf zwitschernde Spatzen saßen auf zwei sich spreizenden Zweigen.

Es war unverkennbar Schratts Stimme, die diesen Unsinn sprach. Sie verfolgte mich bis zum Morgen.

Ich stand auf. Auf dem Fußboden lag ein Zettel, den ich in der Nacht geschrieben hatte: ›Anton Sternli, Pasadena, Byronstraße 120‹ war deutlich in Donovans Handschrift darauf zu lesen.

Und hinter den Namen hatte ich ›Fünfhundert Dollar‹ geschrieben, und danach die Zahl: 142 235.

Ich kleidete mich an und ging fort, um den Mann zu finden.

Er wohnte nicht Byronstraße 120, sondern Byronstraße 210. Daraus ging hervor, daß Donovans Gedächtnis nicht unfehlbar ist. Er kann Schnitzer machen wie ein gewöhnlicher Mensch.

Als ich klingelte, öffnete ein junges Mädchen von vierzehn Jahren die Tür. Ich fragte nach Herrn Sternli, und sie führte mich in eine kleine Bibliothek, in der ein alter Mann, gebeugt und weißhaarig, allein saß. Er war fast blind, seine Augen konnten mich nicht in ihr Blickfeld bekommen, aber er trug keine Brille. Er sah ungefähr nach der Richtung, aus der meine Stimme kam, und tastete sich am Schreibtisch entlang, als er mir entgegenging.

»Ich bin Dr. Cory«, sagte ich. »W. H. Donovan schickt mich.« Meine Worte hatten eine sonderbare Wirkung. Er hielt inne. Seine blicklosen Augen schweiften nervös umher.

»Herr Donovan ist tot«, sagte er unsicher.

»Natürlich«, erwiderte ich. »Er starb in meinem Hause in Washington Junction.«

Sternli bat mich, Platz zu nehmen, und tastete sich zum Schreibtisch zurück. »Was kann ich für Sie tun, Herr Doktor?« fragte er.

»Donovan bat mich, die Verbindung mit Ihnen aufzunehmen. Er wünschte, daß ich Ihnen fünfhundert Dollar bringen sollte.«

Ich zog das Geld aus der Tasche und legte es auf den Tisch, doch Sternli war zu kurzsichtig, um meine Bewegung zu sehen. Er sah mich betroffen an, als habe er nicht recht verstanden, und wiederholte dann: »Fünfhundert Dollar.«

Ich stand auf und legte das Geld vor ihn hin. Er beugte sich darüber, um es anzusehen. Plötzlich lächelte er und sagte in scherzhaftem Ton: »Es kommt gerade zur rechten Zeit. Normalerweise kommt Geld immer zur rechten Zeit oder zu spät – aber niemals zu früh. Ich habe meine Brille zerbrochen und könnte mir kaum eine neue leisten. Die Gläser sind schrecklich teuer – ich bin nämlich fast blind.«

Er nahm eine zerbrochene Linse vom Tisch und sah mich durch das Glas an. »Sie verübeln es mir hoffentlich nicht, daß ich Sie so anstarre? Das ist der Rest meiner Brille – ich hatte mich daraufgesetzt!« Reuevoll kicherte er.

Dann saßen wir schweigend, bis er mit freundlicher Stimme fragte: »W. H. dachte an mich, ehe er starb? Dann muß ich ihn mein Leben lang falsch beurteilt haben!«

Er schüttelte den Kopf und legte behutsam das Stück Brillenglas nieder. »Was hat er Ihnen sonst gesagt?«

»Nichts. Er war nicht in der Verfassung zu sprechen.«

»Sagte er Ihnen nicht, wer ich bin?« fragte er. Sofort fügte er hinzu, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen: »Ich war Herrn Donovans Sekretär – viele Jahre lang. Um genau zu sein – all die Jahre lang, in denen ein Mann arbeiten kann, um sich ein sorgenfreies Alter zu schaffen.«

Der Raum war ärmlich eingerichtet, außer den Reihen kostbarer Bücher, die sorgsam auf soliden Regalen geordnet waren. Die Wände waren schmutzigbraun vor Alter.

»Hat er Ihnen keine Vergütung gegeben?« fragte ich höflich.

Sternli nickte und lächelte. »Die Erinnerung an interessante Zeiten – jawohl. Aber Geld? Nein! Das hätte er nie getan. Und deshalb bin ich so überrascht, daß er in einem Augenblick an mich dachte, in dem jeder Mensch an sich selbst denken sollte. Tod war ein Wort, das in Herrn Donovans Gegenwart nicht ausgesprochen werden durfte. Wir sprachen nur einmal davon, und da sagte er: ›Ein Testament machen heißt sein Leben aufgeben. Am besten läßt man den Gedanken gar nicht in den Kopf hinein, sonst bohrt er im Bewußtsein wie die Termiten in einem Haus. Sie fressen alles heimlich weg – und eines Tages, wenn man es am wenigsten erwartet, kracht einem das Dach auf den Kopf. Zu mir soll keiner vom Tod sprechen!‹«

Sternli wandte mir sein Gesicht zu, und ich sah, er war nicht so alt, wie ich gedacht hatte. Er konnte nicht mehr als Fünfzig sein, aber seine Akademiker-Erscheinung, seine liebenswürdigen Manieren, vor allem sein weißes Haar machten ihn zwanzig Jahre älter.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Doktor Cory?« fragte er.

Ich zögerte – doch meine Neugier gewann die Oberhand.

»Nun ja ... können Sie mir etwas über Roger Hinds erzählen?«

Er blickte scharf auf – ein seltsamer Blick in diesen kurzsichtigen Augen, die keinen Mittelpunkt erfaßten. Dann lächelte er.

»Roger Hinds ist der Name, den W. H. für ein Bankkonto benutzte«, sagte er. »Ich habe selbst Geld darauf deponiert. Ich entsinne mich sogar noch der Summe der ersten Einzahlung. Achtzehnhundertdreiunddreißig Dollar und achtzehn Cent. W. H. schätzte mein Gedächtnis für Dinge, die an sich unwichtig sind.«

»Sie meinen, Roger Hinds existierte niemals?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht doch, aber ich sah ihn nie. W. H. korrespondierte auch nicht mit ihm. Immerhin ... er interessierte sich sehr für alle Leute, die Hinds heißen, und sammelte Informationen über sie. Ich weiß nicht warum. Einer aus dieser Familie ist seit kurzem ziemlich berüchtigt. Sie können den Namen in den Zeitungsschlagzeilen finden – er ist des Mordes angeklagt. Ein sehr grausamer Mord. Er geschah am ersten August dieses Jahres, um neun Uhr dreißig nachts.«

Er berührte mit seiner mageren Hand die Stirn.

»Ich kann einfach nichts vergessen, was ich einmal gehört oder gelesen habe«, sagte er entschuldigend. »Cyril Hinds! Er ist im Kreisgefängnis, falls Sie das interessiert.«

In dieser seltsamen Vermengung der Wirklichkeit und des fast Übernatürlichen wußte ich nicht, wo mein eigenes Denken begann und wo Donovans Befehle endeten. »Er erwähnte den Namen Hinds nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß.

Sternli sah mich an und hob langsam das zerbrochene Stück Glas zum Auge. Mir wurde klar, daß ich in einen Widerspruch geraten war. Donovan mußte zu mir über Hinds gesprochen haben, sonst konnte Sternli es nicht verstehen, schließlich hatte ich den Namen zuerst erwähnt.

Ich stand auf.

Sternli hielt mir ziemlich schüchtern die Hand hin.

»Ich danke Ihnen, Dr. Cory. Es war freundlich von Ihnen, mir das Geld zu bringen. Aber sollten wir nicht Howard Donovan von diesem Geschenk unterrichten? Er ist der Erbe – er könnte etwas dagegen haben, daß ich es bekomme.«

Das war natürlich das letzte, was ich wünschen konnte – Howard Donovan und seinen Anwälten einen Wink geben, woher das Geld kam! Ich log also: »Es gehört ihm nicht. Es war in einem Briefumschlag mit Ihrem Namen. Donovan gab es mir, ehe er starb.«

Das klang nicht sehr glaubhaft, aber man konnte mir auch nicht beweisen, daß es eine Lüge war.

»Ich danke Ihnen sehr herzlich«, sagte Sternli. »Wenn ich Ihnen mit irgend etwas dienen kann, so lassen Sie es mich bitte wissen! Ich habe viel freie Zeit übrig – leider Gottes!«

Er nahm meinen Arm, um mit mir zur Tür zu gehen. Plötzlich fühlte ich, daß Donovan noch etwas durch mich zu sagen wünschte.

»Ich wollte noch um den Schlüssel bitten«, sagte ich in der Tür.

Sternli blickte mich an, erstaunt darüber, daß ich eine so wichtige Sache beim Hinausgehen zur Sprache brachte.

»Den Schlüssel ... welchen Schlüssel?« fragte er unsicher.

Ich nahm den Zettel mit seinem Namen und der Zahl aus meiner Tasche und zeigte ihn Sternli. Er hielt ihn so dicht an die Augen, daß er sie fast damit berührte. Als er ihn sinken ließ, war sein Gesicht vor Staunen gerötet.

»W. H.'s Schrift!« murmelte er. Er tastete sich in das Zimmer zurück und kam mit einem Schlüssel wieder. Er war klein und flach, der Schlüssel für einen Safe.

Beunruhigt durch die ziellosen Anweisungen, die mir das Hirn gegeben hatte, ging ich zur Stadt zurück. Donovan machte Fehler; sein Gedächtnis war nicht präzis. Die Nummer des Safes hatte er aufgeschrieben, er hatte aber vergessen, in seiner Botschaft den Schlüssel zu erwähnen. Sicherlich hatte er beabsichtigt, mich davon in Kenntnis zu setzen, denn die Nummer gehörte zu dem Schlüssel. Doch seit kurzem war etwas nicht in Ordnung mit seinem Denkprozeß. Früher war er ganz präzis gewesen.

Ich notierte mir Stunde und Datum, wann ich in der Nacht vor dem 23. November die Instruktionen erhalten hatte. Ich mußte Schratt fragen, ob in den Reaktionen des Hirns Unregelmäßigkeiten um diese Zeit festzustellen waren. Ist das Organ krank? Beginnt die geistige Zersetzung?

Es ärgerte mich, daß sich das Hirn erst erinnerte, seine Botschaft zu vervollständigen, als ich aus Sternlis Wohnung wegging.

Beim Weitergehen kreuzte ich eine Straße, in der Arbeiter Gräben zogen. Die Maschinen machten einen betäubenden Lärm, sie hoben die Erde aus und warfen sie auf ein bewegliches Band, das sie zu den Lastwagen hinüberschaffte.

Ich paßte nicht auf, wohin ich ging. Auf Donovan konzentriert, versuchte ich ihn zu zwingen, mir alles Nötige über den Schlüssel und die Safenummer mitzuteilen.

Donovan konnte sich jederzeit, wenn es ihm beliebte, mit mir in Verbindung setzen, ich aber war abgeschnitten von ihm. Es war ein einseitiges Verbindungssystem, doch da das Hirn ständig stärker wurde, mußte es meine Gedanken bald ganz frei empfangen können.

Ich ging in einem Trancezustand, nur von dem Willen erfüllt, daß Donovans Hirn mich hören sollte – meine ganze Konzentrationskraft war angespannt. Plötzlich hörte ich das Kreischen von Bremsen hinter mir. Instinktiv hielt ich an und stolperte – etwas Schweres schlug mir in den Rücken. Das Ächzen und Klappern der großen Eisenschaufel war dicht bei meinem Ohr.

Als ich fiel, umhüllte mich eine ungeheure Welle von Angst. Ich verlor das Bewußtsein.

Es war Nacht, als ich erwachte.

Noch bevor ich die Augen aufschlug, sagte mir der schwache Geruch antiseptischer Mittel, daß ich im Krankenhaus sei. Die bräunlichen Wände sahen mir bekannt aus. Man hatte mich in die ›Zedern vom Libanon‹ gebracht, wo ich als Interner gearbeitet hatte. Janice saß an meinem Bett, sie beobachtete mich reglos. Als ich mich rührte, kam sie sofort und beugte sich über mich. Man hatte meinen Brustkorb in zwanzig Pfund Gips gepackt. Ich lag absolut still und untersuchte in Gedanken meinen Körper Zoll um Zoll, bis ich überzeugt war, daß es sich um nichts Ernsthaftes handeln konnte.

Ich konnte den Kopf ein wenig bewegen, die Finger krümmen, die Arme heben.

Janice betrachtete mich angstvoll. Sie war nicht sicher, ob ich schon ganz bei Bewußtsein war, denn ich hatte die Augen noch geschlossen. »Schmerzen?« fragte sie leise.

Wieder lauschte ich auf meinen Körper. Ich fühlte mich, als sei ich in der Luft aufgehängt – nicht, als sei mein Rücken in eine Gipsform gepreßt, sondern als sei er von zarten Händen gehalten.

»Ich fühle überhaupt nichts«, sagte ich schließlich.

Meine Worte beunruhigten sie mehr, als wenn ich vor Schmerzen geschrien hätte. »Erschütterung der Wirbelsäule«, sagte sie.

Ich schloß die Augen. Ich hätte Höllenqualen ausstehen müssen, wenn diese Diagnose stimmte. Janice stand auf, um den Arzt zu holen, jedoch ich hielt sie zurück.

»Ich kann Zehen und Finger bewegen«, sagte ich, »ich bin nicht gelähmt. Ich muß aus einem anderen Grunde keine Schmerzen haben. Bin ich betäubt worden?«

Ich wußte, sie würde es verneinen – und so war es auch.

»Du hattest Schmerzen, als du bewußtlos warst«, sagte sie, »stundenlang! Schreckliche Schmerzen!«

Sie sprach ruhig – sie teilte mir ihre Beobachtung der Symptome mit, wie ein Arzt dem anderen. Sie verstand genug von Medizin, um ebenso überrascht und beunruhigt zu sein wie ich. Wirbelsäulenerschütterung ist gewöhnlich von heftigen Schmerzen begleitet.

»Was ist mir denn passiert?« fragte ich.

»Das Dümmste, was passieren konnte!« sagte sie heiter. »Du bist in einen Graben gefallen und die Baggerschaufel hat dich fast zerquetscht.«

Sie sah sehr gut aus, ich bemerkte, wie anziehend sie in der Schwesterntracht war. Der bleichsüchtige Hautton war weg. Ich war halb überzeugt, daß sie gar nicht krank gewesen war; nur unsere unglückliche Ehe hatte sie so niedergedrückt.

»Ist das die Tracht, die hier die Patientinnen tragen?« sagte ich mit einem Blick auf ihre Uniform.

»Ich bekam die Erlaubnis, diesen Fall selbst zu übernehmen.«

Sie sprach mit einem Eigensinn, wie er langer Überlegung entspringt.

Ich schloß wieder die Augen.

Dann durchbohrten mich die Schmerzen.

Ich versuchte, den Gipsverband abzuschütteln, der plötzlich schwer war wie ein paar Tonnen Stahl. Meine Hand schloß sich im Krampf, und die Fingernägel bohrten sich in das Fleisch der Handflächen.

»Kodein!«

Ich versuchte, mich ihr verständlich zu machen. Doch ich hörte meine eigene Stimme nicht. Ich versank in einem klappernden Lärm, der aus der Richtung meines Rückenmarks zu kommen schien und meine Ohren mit einem immer lauter werdenden schnatternden Geheul erfüllte.

Ich wußte: Derartigen Schmerzen entkommt man nicht durch die Flucht in die Bewußtlosigkeit. Sie würden jeden Zustand durchdringen. Ich wußte es während der ganzen Zeit, als ich mich in diesem Anfall wand, das Wissen darum machte meine Schmerzen noch unerträglicher. Und seltsamerweise schwang in meine Qualen immer wieder dies sinnlose Verschen: »Auf zwei sich spreizenden Zweigen saßen zwölf zwitschernde Spatzen – zwölf zwitschernde Spatzen saßen auf zwei sich spreizenden Zweigen ...«

Die Schmerzen hörten so rasch auf wie sie gekommen waren. Ich sah Janice, die sich ängstlich über mich beugte. Sie wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich schwamm wieder, von weicher Luft getragen. Sogar die Erinnerung an meine Schmerzen war weg.

Die Tür ging auf, und ein Arzt kam. Hinter ihm rollte eine Pflegerin einen Tisch mit Gläsern und Instrumenten herein.

»Hallo«, sagte er mit berufsmäßiger Heiterkeit. »Noch immer Schmerzen?«

Er füllte eine Spritze mit Morphium.

»Danke, ich brauche es nicht«, sagte ich fest.

Der Mann sah erstaunt aus. »So schnell kann der Schmerz doch noch nicht aufgehört haben«, sagte er.

»Ich bin selbst ganz überrascht«, antwortete ich und sah an meinem Körper bis zu den Füßen hinunter.

Nirgends fühlte ich etwas. Als wäre ich nur ein Hirn, spürte ich kaum meine Arme oder Beine, nicht einmal meinen verletzten Rücken.

»Würden Sie bitte meine Nervenreaktionen prüfen?«

Er stach mit einer Nadel in den Arm, aber ich empfand keine Schmerzreaktion. Mein Gefühl war das eines Patienten unter spinaler Anästhesie. »Sind Sie sicher, daß Ihre Diagnose richtig ist?« fragte ich.

Er hielt sie für richtig.

Ich schloß die Augen. Ich mußte mir klar überlegen, was mir geschehen war. Ich hörte den Arzt mit Janice flüstern und aus dem Zimmer gehen.

Sobald er fort war, bat ich sie, Schratt ans Telefon zu rufen. Sie zögerte, und ich mußte meinen Auftrag wiederholen.

Wenige Minuten später sprach ich mit Schratt.

»Nun, wie geht's, Patrick?« fragte er, erleichtert, meine Stimme zu hören. »Janice hat mir von dem Unfall erzählt.«

Janice stand am Fenster und wandte mir den Rücken zu.

»Ich wollte Sie fragen«, sagte ich langsam – ich wartete darauf, daß die Schmerzen jeden Augenblick wiederkehren könnten –, »ob sich das Hirn in den letzten achtundvierzig Stunden anders benommen hat.«

Zuerst antwortete er nicht. Schließlich sagte er: »Ich wollte Sie nicht beunruhigen, solange Sie krank sind ... aber es scheint Fieber zu haben. Ich kann nicht herausbekommen, warum. Die Temperatur steigt schnell und fällt dann, sobald es schläft, wieder auf normal.«

Plötzlich fielen mich die Schmerzen mit erhöhter Wut an. Ich glaubte sie nicht ertragen zu können. Selbst meine Schädelknochen schmerzten, als stieße eine Faust von innen dagegen.

»Wecken Sie das Hirn«, schrie ich ins Telefon. »Wecken Sie es auf! Klopfen Sie ans Glas! Erschrecken Sie es! Lassen Sie es nicht schlafen!«

Der Hörer fiel mir aus der Hand. Ich biß auf meine Unterlippe, bis mir das Blut den Mund füllte. Janice griff zur Morphiumspritze, aber der Schmerz verdunstete wie Dampf.

Ich nahm den Hörer wieder auf und hörte Schratt zum Telefon kommen.

»Jetzt ist das Hirn wach, Patrick. Die Lampe brennt.« Dann: »Was hat es Ihnen getan?«

Mein Kopf sank auf das Kissen. Ich wußte, was geschehen war, und versuchte es Schratt zu erklären.

»Es leidet meine Schmerzen, wenn es wach ist«, sagte ich mit Beherrschung, »es leidet statt meiner die Schmerzen. Es scheint meinen Thalamus durchdrungen zu haben. Seine Rinde empfängt jetzt die Reflexe meines Nervensystems. Die Schmerzen meines Körpers sind Erlebnisse in Donovans Großhirn. Es nimmt immer mehr von mir Besitz. Früher hat es nur meine Bewegungsnerven beherrscht, doch jetzt hat es den Teil meines Hirns in Besitz genommen, der den Schmerz registriert.«

Schratt atmete so laut, daß ich es hören konnte.

»Wenn es so fortfährt«, sagte er, »wird es bald Ihren Willen kontrollieren.«

»Nun, und wenn?« Ich versuchte leichthin zu sprechen. »Manche Menschen haben mehr für die Wissenschaft geopfert als ihre Identität.«

»Ja«, sagte er und hängte plötzlich ab.

Tastend legte ich den Hörer wieder auf den Haken.

»Jetzt werde ich mich ganz gut fühlen«, sagte ich zu Janice. Ich vergaß, daß sie unsere Unterhaltung gehört hatte. Schratts Stimme war so laut gewesen, daß auch sie sie vernehmen mußte.

Janice starrte mich an, ihre Augen waren groß vor Verzweiflung und Entsetzen. Ich hatte nicht gewußt, wieviel sie wußte, aber jetzt, da sie einige der Folgen verstand, konnte sie den Abgrund der Zerstörung ermessen, in den mich das Experiment geführt hatte.

Während der letzten Tage haben mich die Schmerzen weniger gepeinigt, aber ich bin immer noch in meinem Gipsgefängnis. Selbst wenn ich aufstehe, muß ich zwanzig Pfund Last mit mir herumtragen.

Das Hirn hat mir einige Adressen gegeben: eine von Alfred Hinds in Seattle und eine von Geraldine Hinds in Reno. In der letzten Nacht hat es die Namen ständig wiederholt.

Einmal versuchte ich, durch Telepathie gezwungen, aus dem Bett aufzustehen; Janice aber hörte mich stöhnen und gab mir eine Spritze Morphium, welche die Verbindung mit dem Hirn sofort trennte. Es war, als würde eine Telefonleitung abgeschnitten. Wenn ich unter Morphium stehe, kann das Hirn nicht zu mir gelangen. Es scheint nicht begreifen zu können, warum ich seine Befehle nicht befolge.

Es weiß nicht, daß ich einen Unfall hatte. Ich habe versucht, Donovan davon zu verständigen. Ich lag ganz still und versetzte mich selbst in eine Trance der Konzentration wie ein Yogi, und versuchte ihm die Botschaft zu übermitteln. Es gelang mir nicht.

In meinen Träumen und seit kurzem sogar während des Tages kommt immer wieder der lächerliche Satz in meinen Sinn: »Auf zwei sich spreizenden Zweigen ...«

Diese unaufhörliche Wiederholung quält mich ebenso wie der Schmerz. Es muß doch ein Sinn darin liegen ... Das Hirn muß einen Zweck haben, es immerfort zu wiederholen.

Ich rief Schratt an und sprach mit ihm darüber. Er schien sehr erstaunt, als ich ihm den Satz sagte, beharrte aber dabei, daß er ihn noch nie gehört habe.

Ich fragte Janice. Sie dachte einen Tag darüber nach und kam endlich zu dem Schluß, es müsse ein Sprüchlein sein, um jemand vom Lispeln zu kurieren. Das klingt plausibel. Warum aber wiederholt das Hirn diese Zeilen?

Janice und ich vermieden es, das Hirn zu erwähnen. Sie wartet, daß ich zuerst spreche, ich aber habe nicht die leiseste Absicht, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Sie weiß bereits zu viel; es stört mich zu sehen, wie sie darüber nachgrübelt.

Was Janice auch durch den Sinn geht – es steht auf ihrem Gesicht geschrieben. Sie wäre der schlechteste Geheimagent der Welt.

Aber ich gewöhne mich wieder daran, sie um mich zu haben. Tatsächlich: Wenn sie auf ein paar Stunden weggeht und eine andere Pflegerin ihren Platz einnimmt, fühle ich mich unsicher, als könnte etwas passieren und nur sie könne mir helfen.

Wenn sie nicht da ist, werde ich manchmal ganz sentimental im Gedanken an sie. Ich entsinne mich des Tages, als ich von Santa Barbara zum Krankenhaus zurück wollte und sie mich im Wagen mitnahm.

Wie oft wartete sie geduldig, um mich herumzufahren!

Sie war immer bereit, mich ein Stück weiterzubringen. Das scheint ihre Bestimmung im Leben zu sein.

Sie ist geduldig. Sie war es immer. Und beharrlich.

Sie hatte sich entschlossen, mich zu heiraten. Sie tat es. Sie wollte mich weghaben von Washington Junction – hier bin ich. Nun sitzt sie bei mir und wartet – sie will mich zurückgewinnen.

Sie weiß, wann sie dasein soll und wann sie mich alleinlassen muß. Sie ist wie ein feiner Voltmesser, der die leichtesten Veränderungen der Spannung berichtet. Wieviel Glück könnte sie manchem Menschen bringen, statt ihre Kraft an mich zu verschwenden!

Ich muß eines Tages mit ihr darüber sprechen.

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