Auf dem Wege zum Gerichtsgebäude kaufte ich mir in einem Tabakladen ein Dutzend Upman-Zigarren.
Jahrelang habe ich keine Zigarren geraucht. Ich verabscheute den kalten, feuchten Geschmack. Ich machte diesen Einkauf auf Befehl.
Sofort steckte ich mir eine Zigarre an, aber ich hatte nicht den geringsten Genuß davon. Als ich versuchte, sie wegzuwerfen, hielt meine Hand sie jedoch fest. Ich mußte fortfahren, langsam zu paffen, als hätte ich eine große Freude daran.
Ich rauchte mit meiner linken Hand, was ungewöhnlich ist, denn ich rauchte meine Zigaretten mit der rechten.
Donovan war Linkshänder!
Wenn ich herausbekäme, welche Zigarren Donovan rauchte, so hätte ich einen Teil des Beweises, den ich brauche. Habe ich denn meinen Geschmackssinn verloren? Gestern abend hatte ich plötzlich Abscheu vor Fleisch und bestellte mir zu Tisch lauter Gemüse. Es hatte gar keinen Geschmack. War Donovan Vegetarier? Ich muß nachfragen. Sternli wird es wissen.
Ich inhalierte den Zigarrenrauch tief, und es war, als inhalierte ich geschmacklosen Wasserdampf. Empfängt Donovans Hirn diese Eindrücke meiner eigenen fünf Sinne? Oder hat dieser Zustand von Schizophrenie meine physischen Eindrücke getötet, weil das Hirn meine Geschmacks- und Geruchsempfindungen übernommen hat? Das Hirn dringt langsam vor, hat aber unwiderstehlich jeden Teil meines Kleinhirns umschlossen.
Eines Tages kann es vielleicht meine Handlungen völlig bestimmen. Die Impulse, die meine Handlungen veranlassen, werden in Washington Junction erzeugt, während mein Körper durch die Welt schweift – sozusagen ferngeleitet!
So könnte im Zukunftsstaat der Mensch von einem erwählten Superhirn befehligt und wie ein Roboter von einer Zentralstation geleitet werden ...
Das Gefängnis umfaßt sechs obere Etagen im Justizgebäude, einem rechteckigen Bau am Broadway und Temple.
Ich betrat das Zimmer mit der Aufschrift: »Besucher-Anmeldung.« Dann brachte mich ein Beamter in Hemdsärmeln neun Etagen nach oben zum Büro des Direktors.
Mein hemdsärmeliger Begleiter mußte eine gewisse Neugierde in meinen Augen gesehen haben, denn er begann zu schwatzen wie ein Fremdenführer. Er informierte mich, daß mehr als zweitausend Sträflinge hier seien – im größten Gefängnis der Welt. Achtzehnhundert Männer und zweihundert Frauen, sagte er stolz.
Auf dem neunten Gang stiegen wir aus und überquerten einen Korridor zum Privatbüro des Direktors. Wir gingen durch ein Vorzimmer, dessen Wände mit Photos tapeziert waren, alle von der Farm des Sheriffs, auf der Gefangene einen großen Teil ihrer Strafzeit verbringen.
Der Direktor war ein Mann von etwa Fünfzig. Er sah in seiner grauen Uniform sehr schmuck aus. Er schien mich zu erwarten. Der Mann in Hemdsärmeln verschwand, und der andere wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Dann stand er auf und ging zu einem zweiten Schreibtisch, der unbenutzt aussah. Er war von schwerem schwarzen Holz, schön geschnitzt, und offenbar da, um die Besucher zu beeindrucken. Auf der Schreibunterlage stand eine blaue Vase mit einer einzigen Dahlie. An der Wand dahinter hing eine große elektrische Uhr mit dem Namen des Juweliers auf dem Zifferblatt, also ein Geschenk für geleistete Dienste. Photos von Offizieren und ihren Frauen schmückten die Wände. Es war ein Raum, in dem ein Mann die größte Zeit seines Lebens zugebracht hatte.
Der Direktor setzte sich gewichtig in einen hochlehnigen Sessel.
»Herr Fuller hat mich angerufen«, sagte er. »Er bat mich, ich solle Sie mit Hinds sprechen lassen.«
Nachdenklich sah er durch seine Brille. Er machte den Eindruck eines Gelehrten, der nicht in eine Uniform gehörte.
»Ja. Ich bat Herrn Fuller, mit Ihnen zu sprechen«, antwortete ich.
»Herr Fuller ist der erfolgreichste – und auch der teuerste – Strafanwalt unseres Staates«, begann er wieder. »Ich möchte gern wissen, was ihn veranlaßt, einen so hoffnungslosen Fall zu übernehmen.«
»Hat Hinds gestanden?«
»O nein – diese Sorte gesteht nie«, erwiderte er ruhig. »Aber Hinds selbst hat kein Geld. Wenn ich recht verstand, haben Sie großes Interesse an diesem Fall. Haben Sie Herrn Fuller als Anwalt für Hinds engagiert?«
Er lächelte mich wohlwollend an, und ich war überzeugt, daß unsere Unterhaltung irgendwo im Nebenraum aufgenommen wurde.
»Ich bin Pathologe«, sagte ich, »und habe außerordentliches Interesse für Fälle wie Hinds'. Steht dem etwas entgegen, daß ich ihn sprechen kann?«
Der Beamte überlegte. Er war etwas enttäuscht, denn er hatte eine Antwort auf seine Frage erwartet. Doch da Fuller es nicht für richtig gehalten hatte, ihn zu unterrichten, lag für mich kein Grund vor, mehr zu sagen als mein Anwalt.
»Ich weiß, daß Sie nicht mit Hinds verwandt sind«, sagte der Gefängnisdirektor. Er hatte Erkundigungen eingezogen.
Wir saßen einen Augenblick schweigend, bis er wieder anfing:
»Hinds ist hier im Gefängnis sehr unbeliebt. Er macht uns viele Schwierigkeiten. Ich mußte ihn sogar ein paar Tage in Einzelhaft stecken, da er einen Beamten geschlagen hatte. Das kommt in meinem Gefängnis selten vor. Die Beamten sind freundlich und höflich. Die sämtlichen anderen Gefangenen können Hinds nicht leiden.«
Der Direktor sah auf und lächelte ein wenig, mit der Miene eines Professors, der stolz auf seine Klasse ist.
»Meine Jungens verabscheuen Feigheit. Grausamkeit nehmen sie nicht übel. Zu einem Massenmörder sehen sie sogar auf. Aber diese feige Art zu morden!«
Er war auf dem besten Wege, einen Vortrag über Kriminal-Psychologie zu halten. Gefängnisbeamte sind ebenso wie Ärzte überladen mit den Geschichten ihrer Fälle und müssen ab und zu ein Ventil haben. Ich habe selten einen Arzt getroffen, der nicht schriftstellerte. Gefängnisbeamte sind ebenso schlimm.
Ich mußte höflich zuhören, denn es stand in seiner Macht, mir den Zutritt zu Hinds zu verweigern.
»Sie kennen ihn gut?« fragte er wie nebenbei.
»Nein«, sagte ich, froh, daß er nicht gefragt hatte, ob ich Hinds überhaupt kannte.
»Hm – und er kennt Sie auch nicht!« sagte er und lächelte. »Das macht Ihre Bitte sehr ungewöhnlich.«
»Ich schreibe ein Buch über Psychopathologie«, erwiderte ich, um ihm einen annehmbaren Grund zu geben.
Er nickte. »Kennen Sie die Klage?« fragte er. Als ich nicht antwortete, erklärte er: »Er hat mit seinem Wagen eine Frau überfahren – absichtlich.«
Er studierte mein ausdrucksloses Gesicht und fügte hinzu: »Und das Grausamste daran ist: Er fuhr zurück und dann nochmals über sie weg, ihr Gesicht zerquetschend! Dann gab er Gas. Aber wir haben ihn bekommen. Der Wagen hinterließ deutliche Reifenspuren.«
»Seine Geliebte?« fragte ich.
»Seine Mutter«, antwortete der Direktor.
Und als sei diese Enthüllung zu brutal für ihn, der doch an grausame Morde gewöhnt war, fuhr er fort: »Natürlich erinnert er sich nicht, jemanden überfahren zu haben. Er sagt, er kam von einem Bierabend und war leicht betrunken. Ein seltsames Zusammentreffen, daß es gerade seine Mutter war, die er tötete!«
»Das Motiv?« fragte ich wieder.
Der Beamte zuckte die Achseln und wurde plötzlich verschlossen. Als Hüter einer sonderbaren Auslese Gefangener verlangte man von ihm, unparteiisch zu sein, doch gegen Hinds schien er eine starke persönliche Abneigung zu hegen.
Nach einer gewissen Zeitdauer beeinflußt die Gefängnisatmosphäre die Wärter wie die Sträflinge gleichermaßen. Nach ein paar Jahren Dienst beginnen auch die Wärter die Welt in einem anderen Licht zu sehen. Recht und Unrecht werden zu abstrakten Begriffen, und es entwickelt sich ein starkes Verständnis für die Motive der Verbrechen.
Nur ein Mann, der mit seinen Händen gearbeitet hat, kann den Arbeiter verstehen. Nur wer auf Schiffen gefahren ist, versteht Männer, die das Meer lieben. Jeder künftige Richter sollte eine Lehrzeit als Gefängniswärter durchmachen. Die Justiz sollte nicht nur theoretisch gelehrt werden.
Doch in Hinds' Fall verdammten die Sträflinge wie die Wärter den Mörder gleichermaßen.
»Darf ich Hinds sehen?« fragte ich.
Der Direktor stand auf und drückte auf einen Klingelknopf.
»Ich mußte ihn absondern – sonst hätten ihn die anderen Gefangenen umgebracht. Ich habe niemals einen solchen Haß unter ihnen gesehen. Sie würden sein Essen vergiften, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten!«
Ein Beamter trat ein und salutierte gemächlich.
»Bringen Sie Dr. Cory zum fünfzehnten Stockwerk«, sagte der Direktor, »und lassen Sie Hinds holen.«
Der Mann salutierte wieder, und wir verließen das Zimmer.
Wir gingen hinüber zum Aufzug. Die eisenvergitterte Tür glitt zurück.
»Fünfzehn«, sagte der Beamte zu dem farbigen Liftjungen. Er sah mich aus den Augenwinkeln an, als nähme er es mir übel, daß ich Hinds besuchen wollte.
Wir kamen an. Die Tür öffnete sich in einen großen Raum, in dem Tische mit zehnzölligen Scheidewänden längs der Mitte die Besucher von den Sträflingen trennten.
»Warten Sie hier. Ich muß ihn aus Highpower holen«, sagte der Beamte unfreundlich.
Highpower ist der zehnte Stock, wo die Mörder gefangengehalten werden.
Ich setzte mich auf eine Bank und las die Aufschrift über der Scheidewand: »Diese Seite ist für Anwälte.«
Auf der anderen Seite stand: »Gefangene.«
Der Raum war ziemlich voll. Gefangene in blauen Overalls traten ein, setzten sich und sprachen mit leiser Stimme. Die Anwälte nahmen die Hüte nicht ab, und alle schienen es eilig zu haben.
Der Raum summte von Stimmen. Im gelben Licht sahen die Gesichter bleich aus.
Mein Polizist kehrte zurück. Hinds war bei ihm.
An der eisenverrammelten Tür, die von zwei Beamten bewacht wurde, ließ man Hinds frei. Der eine Wärter, der ihn begleitet hatte, deutete finster auf mich, dann drehte er sich rasch um und ging weg, als fürchte er, durch die Nähe Hinds' die Pest zu bekommen.
Er trat zu mir und sah mich leer an.
»Mein Name ist Patrick Cory«, sagte ich über die Breite des Tisches und streckte ihm die Hand hin, die er übersah. Er setzte sich mir gegenüber und sah mich an, als sei ich der Gefangene und er der Besucher von draußen.
Er war ein recht hübscher Junge, vielleicht fünfundzwanzig, gut gewachsen, schlank und muskulös. Das glatte blonde Haar war zurückgekämmt, die blauen Augen waren klar, sein Mund aber war hart und fast lippenlos. Nicht ein weicher Zug war in seinem Gesicht. Er war der Prototyp des enttäuschten jungen Menschen, der in einer sonderbaren Auffassung von Tapferkeit das Leben nicht sehr achtet.
Dieser Junge würde bis zu den Stufen des Galgens zynisch sein. Er würde auf dem Wege zum Henker scherzen und seine Rolle bis zum Tode spielen. Ebensogut konnte er plötzlich seine großtuerische Verächtlichkeit verlieren und in einen Abgrund der Angst fallen, die in einer Sekunde einen Wurm aus ihm machte, der sich am Boden wand.
Wenn er vorhatte, den Unzurechnungsfähigen zu spielen, so würde er diesen Plan durchführen, bis er wirklich verrückt war und in eine Anstalt gebracht werden mußte.
Doch da er beliebte, sich für einen Helden zu halten, und sein Dünkel stärker war als sein Lebenswille, behandelte er die ganze Welt mit Verachtung. Er war ein Fanatiker ohne Ursache – und mit Fanatikern zu diskutieren ist sinnlos.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Roger Hinds kennen.«
Er hatte eine andere Eröffnung des Gesprächs erwartet. Er mißtraute mir, weil er voll Argwohn gegen die Tricks war, durch die das Gesetz ihm vielleicht ein Bekenntnis ablocken konnte.
»Ja«, sagte er mürrisch, »ich hatte einen Onkel, der sich erhängt hat – wenn es der ist, den Sie meinen.«
»Wie lange ist das her?« forschte ich.
»Ehe ich geboren wurde – aber ich erinnere mich, daß meine Mutter von ihm sprach.«
Die Erwähnung seiner Mutter berührte ihn gar nicht.
Einen Augenblick saßen wir schweigend. Hinds blickte auf seine Hände, die dünn und weiß waren, mit breiten Nägeln.
Ich war ganz ich selbst, ohne jeden Zwang des Hirns, und konnte fragen, was meine Neugierde mir eingab.
»Kennen Sie Warren Horace Donovan?«
»Persönlich nicht«, sagte Hinds. »Ist das der, der vor ein paar Wochen im Flugzeug abstürzte? Ich las es in der Zeitung.«
Er starrte noch immer auf seine Hände, meine Fragen interessierten ihn nicht. Wir manövrierten wie zwei Fechter, jeder wartete, daß der andere anfing.
»Ich bin hier, um Ihnen zu helfen – soweit ich kann.« Sofort wurde er aggressiv.
»Ich brauche keine Hilfe. Wenn sie mich hängen wollen – okay. Aber sie kriegen mich nicht klein. Sie behandeln mich lausig, aber mir ist es gleich.«
Er hielt seinen Widerstand aufrecht, indem er alle haßte.
»Herr Fuller wird Sie verteidigen«, sagte ich.
»Das hat er mir gesagt. Er soll 'ne große Nummer sein. Ich möcht' wissen, wer ihn engagiert hat.«
Er sah mich fragend an, aber schnell kehrte der mürrische Ausdruck in sein Gesicht zurück. Er wollte sich nur auf sich selbst verlassen. Wenn ihm jemand helfen wollte, so wurde sein Selbstvertrauen bloß geschwächt. Zänkisch kehrte er Ursache und Wirkung um, um sich selbst ins Recht zu setzen.
»Sie können mir nichts tun. Ich hab' die Alte nicht vorsätzlich überfahren. Sie können's nicht beweisen. Sogar diese große Kanone, der Anwalt, kann auch bloß die Wahrheit sagen.«
Plötzlich grinste er. »Sie haben Sie hergeschickt, damit Sie mich zum Sprechen bringen! Also, hauen Sie ab und erzählen Sie ihnen, daß ich sie nicht mit Absicht überfahren hab'.«
Er wiederholte seine Worte, um seine Unschuld zu bestätigen. Er zeigte seine Verteidigungswaffen. Wenn er sich weigerte zu gestehen, war das Gesetz machtlos, dachte er.
»Wenn Sie unschuldig sind, wird man Sie freilassen.«
»Wird ihnen nichts anderes übrigbleiben. Ich hab' noch 'ne Masse Sachen vor. Ich würde verdammt ungern schon sterben.«
Sein dünner Mund schloß sich hart und die Muskeln seiner Kinnbacken sprangen heraus.
»Sagen Sie ihnen nur, sie bringen mich nicht zur Strecke! Und wenn sie mich wieder ins Loch stecken und mich halb totschlagen und mir verdorbenes Essen geben und all die Jungens hier auf mich hetzen! Ich kenn' ihre Tricks! Sie können mir nichts tun! Und sie werden's zu büßen haben – lassen Sie mich 'mal hier raus sein!«
Er stand auf. Die Besprechung war vorbei, was ihn betraf. Durch mich hatte er der Welt mitgeteilt, wie sehr er sie verachtete.
»Und wenn sie mich hängen – kleinkriegen sie mich nicht«, sagte er laut und ging, den Kopf hoch, zu dem Wärter zurück – er wußte, der ganze Raum sah ihm nach.
Dieser Junge ist ein Mörder – wenn je einer zum Mörder geschaffen wurde. Aber er hat einen schlechten Start im Leben gehabt, keiner nahm sich die Mühe, die Kräfte in ihm zu entwickeln, die ihn zurückgehalten hätten. Er ist nicht allein zu verdammen – obwohl auch kein Grund vorliegt, ihn zu verteidigen.
Er wird wieder morden, wenn er glaubt, daß ihm jemand im Wege ist.
Der Fahrstuhl brachte mich hinunter.
Was hat aber Donovan mit dem Burschen zu tun? Wenn Cyril Hinds sein unehelicher Sohn wäre, so könnte ich Donovans Haltung verstehen. Nun, vielleicht weiß Fuller die Wahrheit.