NATHANIEL FULLER
Der Name ist mehrmals in Donovans Botschaften vorgekommen. Im Telefonbuch gibt es zwei Nathaniel Fuller. Einen bei der Tankstelle am Olympia-Boulevard, den zweiten, einen Rechtsanwalt, im Subway-Terminal-Haus in der Hillstraße.
Ich war überzeugt, das Hirn meint den Rechtsanwalt.
Ich rief das Büro Fuller, Hogan und Dunbar an und bat um eine Unterredung. Fullers Sekretärin fragte nach meinem Anliegen, aber ich konnte ihr nichts darüber sagen, da ich es selbst nicht kannte.
»Wer hat Sie denn an Herrn Fuller empfohlen?« fragte sie.
Ich nannte W. H. Donovans Namen, und sofort wurde sie sehr höflich.
Ein paar Sekunden später war Fuller am Telefon.
Er bat mich, jederzeit im Laufe des Nachmittags zu kommen. Er stellte keine Frage. Er scheint ein guter Anwalt zu sein.
Es war ein schöner, warmer Spätsommertag. Ich nahm eine Taxe nach der unteren Stadt. Zum erstenmal seit Jahren fühlte ich mich befreit und glücklich. Die Spannung, die mich so lange hielt, die mich niemals frei atmen ließ, die mich trieb und trieb, selbst wenn ich schlief, hatte sich plötzlich gelöst.
Ich spielte mit der Idee, bald wegzugehen. Ich brauchte Ruhe. Vielleicht über Weihnachten nach New Orleans. Vielleicht würde ich Janice mitnehmen. Seltsam beunruhigt analysierte ich meine Gedanken. Plötzlich schloß ich Janice in meine Zukunftspläne ein, ich vergaß unsere Mißverständnisse und Spannungen. Versuchte ich unbewußt, Donovans Hirn zu entfliehen? War mir angst geworden vor meinem Experiment?
Ich sagte dem Mädchen hinter Fullers Empfangstisch meinen Namen.
Sie griff sofort zum Telefon. Wenige Sekunden später kam Fuller heraus. Er war klein und stämmig, von einem teuren Schneider bekleidet, und sein graues Haar war sorgsam frisiert.
In meinem Gipsgestell bot ich einen sonderbaren Anblick, aber er ließ sich kein Erstaunen anmerken, sondern führte mich geradenwegs in ein Zimmer mit einem Schild an der Tür: Bibliothek, Bitte Ruhe!
Das Schweigen, das uns plötzlich umschloß, war unnatürlich, als wären die Wände besonders schalldicht. Obwohl früh am Nachmittag, waren die venezianischen Jalousien heruntergelassen. Neonröhren warfen ein indirektes Licht in den Raum, das unsere Züge schattenlos machte. Es war eine Beleuchtung, in der Fuller den Ausdruck im Gesicht seines Klienten gut beobachten konnte.
Er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf einen Stuhl mir gegenüber an dem langen, glasbedeckten Konferenztisch. »W. H. hat Sie geschickt?« sagte er mit freundlicher, keineswegs streitbarer Stimme und sah mich mit liebenswürdiger Gemächlichkeit an.
»Ja. Er nannte Ihren Namen, ehe er starb.«
»Was hat er Ihnen gesagt?« murmelte Fuller.
»Sie waren einer seiner Anwälte, wenn ich recht verstand«, entgegnete ich. »Und er sagte mir, ich könne zu Ihnen frei heraus sprechen, falls ich je einen Rechtsbeistand brauchen sollte.«
»Und jetzt brauchen Sie einen?« fragte er und sah mich gerade an. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte, daß Sie den Mordfall Hinds übernehmen«, sagte ich.
Er lehnte sich zurück in seinen Stuhl, der langsam auf seinen dünnen Beinen schaukelte.
»Hinds ist des Mordes ersten Grades schuldig. Es ist einer der grausamsten Fälle, die ich in meinen letzten zwanzig Jahren als Strafanwalt gehört habe.« Er blickte herunter auf den Tisch und sprach langsam, als wolle er Zeit gewinnen.
Vielleicht verbarg der schalldichte Raum Mikrophone? Vielleicht waren die Neonlampen da, um photographische Aufnahmen zu ermöglichen? Ein paar Diktaphone standen herum und ein Apparat zur Stimmwiedergabe. Vielleicht wurde jedes Wort, das ich sprach, als wächserner Beweis gegen mich aufgenommen?
»Ich bin bereit, Ihnen einen Bonus von fünfzigtausend Dollar außerhalb Ihres normalen Honorars zu zahlen, wenn Sie Hinds' Freisprechung erreichen!« sagte ich.
Er saß und schwieg und dachte einen Augenblick scharf nach. Er nahm mein Angebot nicht ernst, sondern versuchte einen Ausweg zu finden, wie er mich schnell loswerden könne, ohne mich zu beleidigen. Der Betrag war phantastisch, unverhältnismäßig hoch, sogar für diesen Fall.
In meinem billigen, schlechtsitzenden Anzug machte ich nicht den Eindruck eines Mannes, der imstande ist, einem Anwalt fünfzigtausend Dollar zu zahlen.
Ich sah auf die Glasplatte des Tisches, und unsere Augen trafen sich wie in einem Spiegel. Es schien einer seiner Tricks zu sein, die Leute auf diese Art zu beobachten. Ich ärgerte mich.
»Freispruch? Sie meinen ... Freispruch durch die Geschworenen?« antwortete er, um Zeit zu gewinnen. Er griff nach der Klingel.
Ich zog ein Päckchen Geldscheine aus der Tasche und legte es vor ihn hin. Er zog die Hand von der Klingel zurück.
Unsicher versuchte er mich in eine Diskussion zu verwickeln, um mehr über mich zu erfahren.
»Wollen Sie mir bitte Ihren Grund nennen, Dr. Cory?«
»Nehmen Sie an, ich bekämpfe die Todesstrafe«, antwortete ich.
Er nickte. Das war eine Basis, auf der man verhandeln konnte. Viele Menschen auf der Welt sind bereit, ihrer Überzeugung durch Geld Nachdruck zu verleihen.
»Ich verstehe. Sie wünschen, daß Hinds verschont wird – als Exempel sozusagen. Vielleicht retten wir ihn vor dem Henker, und später könnte er entlassen werden.«
»Sie mißverstehen mich«, sagte ich. »Ich wünsche, daß Hinds freigesprochen wird – daß die Geschworenen ihn für unschuldig erklären.«
»Sie widersprechen Ihrer ersten Erklärung – daß Sie nur sein Leben zu retten wünschen«, antwortete Fuller unsicher. Er sah nicht klar, auf was ich aus war.
»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu argumentieren«, antwortete ich, denn ich wußte, daß das Hirn Hinds sofort auf freiem Fuß haben wollte.
»Aber es besteht nicht der geringste Zweifel an seiner Schuld!« rief Fuller aus. »Und ich gebe mich niemals mit hoffnungslosen Fällen ab!«
Ich stand auf, bereit, wegzugehen.
Fuller sagte hastig: »Sie müssen mir ein paar Tage geben, um den Fall zu studieren. Ich hoffe, es wird sich ein Weg finden. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich die Verteidigung nicht übernehmen!«
»Ich bin überzeugt, Sie werden es tun«, sagte ich.
»Wäre es Ihnen recht, den Betrag des Honorars zu deponieren, bis die Verhandlung vorüber ist?« fragte er.
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Rufen Sie mich morgen im Roosevelt-Hotel an, und Sie können den Scheck haben.«
Er begleitete mich zur Tür. Ich blieb im Empfangsraum stehen.
»Können Sie mir die Erlaubnis verschaffen, Hinds zu sehen?«
»Freilich. Ich vermute, er ist mit Ihnen verwandt?« fragte Fuller höflich.
»Nein«, entgegnete ich.
Fuller verbarg sein Erstaunen. »Also ein guter Freund von Ihnen?«
»Um die Wahrheit zu sagen«, antwortete ich, »ich habe Hinds nie im Leben gesehen und erst vor ein paar Tagen seinen Namen gehört.«
Diesmal war Fuller sprachlos.