Das Telefon klingelte um sieben Uhr. Es weckte mich.
Ich fühlte mich erfrischt und vollkommen Herr meiner selbst.
Schratt hatte recht getan, meinem Befehl nicht zu gehorchen. Ich durfte nicht die Nerven verlieren! Nun war ich dankbar für seine Hartnäckigkeit.
Howard Donovan war am Telefon. Chloe, sagte er, weigerte sich, ihren eigenen Arzt kommen zu lassen. Sie wolle mich dort haben. Ob ich wohl sofort kommen könnte? Er fürchtete, sie würde einen neuen Anfall haben, wenn ich es ablehnte.
»Ich habe mir die Freiheit genommen«, sagte er, »Ihnen meinen Wagen zu schicken, um Sie abzuholen.«
Ich versprach zu kommen.
Pulse rief an. Er müsse mich dringend sprechen.
Ich sagte ihm, daß ich zum Mittagessen im Hotel sein würde.
Howard Donovans Wagen kam und brachte mich nach Encino.
Howard erwartete mich auf den Stufen des Hauses. Sein Gesicht sah geschwollen aus, die Augen waren rot vom fehlenden Schlaf, und er murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Dann führte er mich nach oben zu Chloes Schlafzimmer und hielt sich dabei in respektvollem Abstand, als fürchtete er sich.
Er ging nicht mit mir in Chloes Zimmer.
Die Vorhänge waren halb zugezogen und das Sonnenlicht fiel im scharfen Winkel auf die rote Seidendecke eines vierpfostigen spanischen Bettes. Chloes weißes Gesicht lag auf einem spitzenbesetzten gelben Seidenkissen. Sie sah mich still an, als habe ihre Erregung sich totgelaufen.
Auf einem Tisch neben ihrem Bett war das Frühstück serviert. Das Silber blitzte hell, und das Tablett war blumengeschmückt – aber das Essen war unberührt.
»Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang gebrochen.
»Wieder in Ordnung?« fragte ich, einen Stuhl dicht an das Bett ziehend.
Chloe sah mich mit dunklen Augen an, die das übrige Gesicht unbedeutend machten. Langsam zog sie eine dünne Hand unter der Decke hervor und berührte mit einer scheuen Geste die meine. Ihre Finger waren kalt; ihr Puls mußte unter sechzig sein. Sie brauchte Koffeininjektionen.
»Wer sind Sie?« fragte sie ruhig.
»Dr. Patrick Cory«, sagte ich.
Sie hielt mich mit ihrem Blick fest.
»Gestern abend«, flüsterte sie, »haben Sie mir angst gemacht! Sie sprachen wie mein Vater. Sie zogen den linken Fuß nach. Sie schrieben seinen Namen genau wie er. Und Sie sagten Dinge, die nur er und ich wußten!«
Sie lächelte, ihre Unsicherheit hinter einer Tapferkeit verbergend, die nur durch gute Erziehung entwickelt wird.
»Woher wußten Sie ... das mit der Markensammlung? Das konnte Ihnen mein Vater nicht gesagt haben!«
»Vielleicht las ich es in einer Illustrierten«, antwortete ich, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nein!« Sie versank in tiefe Gedanken. Als sie wieder sprach, sprach sie mit sich selbst; sie hatte meine Gegenwart vergessen.
»Ich weiß, daß mein Vater nicht gestorben ist. Ich wußte, er würde wieder erscheinen – als er selbst oder als ein anderer. Ich habe ihn erwartet.«
Mit einer scharfen Wendung des Kopfes sah sie mich an, ihre Augen waren weit geöffnet. »Ich bin überzeugt, Sie haben die Wahrheit gesagt, als Sie uns versicherten, mein Vater habe nicht zu Ihnen gesprochen. Aber jetzt handelt er durch Sie!«
Sie hatte eine Erklärung für das Phänomen. Sie nahm als selbstverständlich an, daß auch ich es verstehen würde.
»Haben Sie Ihren Vater geliebt?« fragte ich.
»Ich haßte ihn«, erwiderte sie. »Und ich glaubte schon, die Gerechtigkeit sei aus dieser Welt verschwunden – weil Gott selbst so ungerecht zu sein schien!«
Sie war aufgeregt. Ihre Augen mit den geweiteten Pupillen waren leer. Die Welt ließ kein Bild auf ihrer Netzhaut zurück, und sie lauschte einer Stimme, die nur sie vernehmen konnte.
»Sie gaben Fuller den Auftrag, Cyril Hinds zu verteidigen, aber Sie wissen nicht warum!« sagte sie in stillem Triumph. Und plötzlich lachte sie irr. Ich erwartete einen zweiten Anfall, aber er kam nicht. »Mein Vater möchte Cyril Hinds vom Strick des Henkers retten, um dem Tode ein Leben zu entreißen, als Austausch für ein Leben, das er in den Tod trieb! Wie man eine Büchse Fleisch gegen eine andere austauscht, oder wie man zehn Dollar zurückzahlt, die man sich geborgt hat! Als ich sieben Jahre alt war, gab er mir eine Lektion fürs Leben – seine Philosophie in wenige Worte zusammengefaßt: In dieser Welt ist der Kampf um das Geld der Kampf um das Leben. Der Reiche lebt ein konzentriertes Leben, das vielen anderen Leben entspricht. Mit bezahlten Helfern, Sklaven, Dienern, Sekretären, Schmarotzern bringt er in kurzer Zeit zustande, wozu der Arme mindestens ein Jahr braucht. Das Leben des Reichen ist hundertmal so lang als das des Armen. Mit Geld lebt man länger als die andern. Geld ist das Leben selbst –«
Ich wußte, warum sie mich so dringend sprechen wollte. Meine seltsame Handlung gestern abend hatte sie überzeugt, daß ich ihr vom Schicksal gesandt sei.
Ihr Leben lang hatte sie unter der Tyrannei ihres Vaters gelitten und auf die Jahre seines Abstiegs gewartet. Doch er hatte sich ihr durch einen plötzlichen Tod entzogen. Sie wollte einfach nicht glauben, daß er mit dem Leben fertig sei. Sie wollte, daß er wiederkehre! Sie wußte nichts, gar nichts vom künstlichen Leben des Hirns – aber sie fühlte, daß irgend etwas geschehen war.
Ich bewegte meine rechte Hand, biß mich auf die Lippen und spürte den Schmerz. Also saß ich selbst hier, nicht Warren Horace Donovan.
»Meines Vaters richtiger Name war Dvořak. Er kam aus einer kleinen Stadt in Böhmen, im Jahre 1895. Er änderte seinen Namen in Donovan, lebte in San Juan und arbeitete in einer Eisenwarenhandlung.
Meine Mutter, Katherine, war die Tochter des Inhabers, und der beste und einzige Freund meines Vaters war Roger Hinds, der Bahnhofsvorsteher.«
Chloe berührte immer noch meine Hand, als brauche sie diesen Kontakt. Plötzlich sah sie mich an und sagte mit klarer Stimme: »Ich habe niemals zu jemandem über Roger Hinds gesprochen, seit meine Mutter mir von ihm erzählt hat. Nicht einmal Howard weiß es. Ich behielt das Geheimnis für mich, weil ich meine Mutter liebte, niemanden sonst in meinem ganzen Leben! Und nur ich und Roger Hinds haben sie geliebt!«
Sie sprach mit unleugbarer Überzeugung.
Ich unterbrach sie. Ich wollte nicht, daß sie sich in Erinnerungen verlor, die zu einer gefährlichen Besessenheit geworden waren.
»Eine Kiste großer Klappmesser lag unbestellbar auf der Station. Ihr Vater kaufte sie und verkaufte die Ware an die Farmer, und das war der Anfang seines Versandunternehmens. Ich habe davon gelesen.«
Sie nickte. »Was aber nicht in den Zeitungen stand, war das: Er legte den Grundstein zu seinem Unternehmen mit Geld, das er sich von Roger Hinds borgte, von dem Mann, den meine Mutter liebte!«
Sie sprach mit plötzlich überquellender Entrüstung, als sei es ihr eigener Liebster gewesen, nicht der ihrer Mutter.
»Roger bewunderte meinen Vater, und mein Vater kannte seine Macht über Roger. Eines Tages bat er ihn, um ihn zu ruinieren, um eine Summe Geldes, die Roger nicht besaß – was er genau wußte.«
»Achtzehnhundertunddreißig Dollar und achtzehn Cent«, sagte ich mit flacher Stimme. Chloe nickte ungeduldig, ohne sich über mein unheimliches Wissen zu wundern.
»Das kann sein. Roger nahm es aus der Stationskasse, als mein Vater ihm versprach, es ihm am nächsten Tage zurückzugeben. Er vertraute meinem Vater so blind, daß ihn nicht das geringste Schuldgefühl bedrückte. Und um Roger Hinds zu vernichten, hielt mein Vater das Geld absichtlich zurück!«
Ihre Stimme war so entsetzt, als habe sich das alles erst gestern zugetragen, nicht vor vierzig Jahren.
Sie hatte ihre Lebenskraft aus dem Entschluß gezogen, ihre Mutter zu rächen. Da nun ihr Vater gestorben war, hatte sie nichts mehr, wofür sie leben konnte. Sie wollte nicht an seinen Tod glauben. Sie wartete auf ein Wunder, bereit, Zuflucht in einer Welt zu suchen, die der unsern fern ist. Selbstmord verlangt Plan und Entschluß; in die Unwirklichkeit der Traumwelt zu treiben, erfüllt den gleichen Zweck, und ist leichter und angenehmer.
Ich mußte vorsichtig sein – sie durfte sich nicht zu sehr aufregen über diese Geschichte, die sie mit so viel Überzeugung erzählte.
»Sind Sie denn sicher, daß er es absichtlich tat?« fragte ich.
»Absolut!« sagte Chloe nachdrücklich. In ihrer Seele war kein Raum für den kleinsten Zweifel.
»Mein Vater wollte heiraten – und fand den Weg dazu durch Roger versperrt. Das war ein Schlag für sein Selbstbewußtsein! Was und wer immer ihm in den Weg trat, mußte vernichtet werden! Er liebte Roger, soweit er fähig war, jemanden zu lieben. Er hatte ihn wirklich gern, aber zu seiner Empörung war Roger auf etwas aus, was er selbst wollte! Und Donovan fühlte sich betrogen.«
Nach Chloes Erzählung hatte Donovan das Geld absichtlich zurückgehalten, bis eine Kassenprüfung den Fehlbetrag aufdeckte. Hinds verlor seine Stellung, und dann gab ihm Donovan das Geld zurück. Er ließ Roger eine Quittung unterschreiben, aus der hervorging, daß er, Donovan, es war, der seinen Freund vor dem Gefängnis gerettet hatte. Als Hinds sich von dem Schlag erholte, schoß er auf Donovan, dessen Wange nun auf immer durch die Narbe gezeichnet war. Dann ging er verzweifelt fort und erhängte sich. Er hatte Katherine nichts gesagt. Er schämte sich über den Verrat seines Freundes.
Nach ein paar Monaten heiratete Katherine Donovan. Sein ständiges Werben hatte ihren Widerstand gebrochen. Sie verließen sogleich die Stadt und ließen sich in Los Angeles nieder.
Nach einiger Zeit erfuhr sie die Wahrheit. Donovan erzählte sie ihr mit voller Absicht, als er merkte, daß sie Roger immer noch liebte. Von diesem Augenblick an hielt er sie nur noch durch Angst. Er zwang sie, ihm Kinder zu gebären. Katherine war ein Stück seines Besitzes – sie durfte ihn nicht verlassen. Er ertrug es nicht, etwas zu verlieren, was ihm einmal gehört hatte.
Die Frau führte ein Schattendasein, ihr Geist war gebrochen. Ihre einzige Vertraute war ihre Tochter, und sie nährte den Haß des Kindes gegen den eigenen Vater.
Mehrere Kinder Katherines – in Abscheu und Ekel gezeugt – wurden tot geboren. Nur Howard, das erste, und Chloe, das letzte, blieben am Leben. Howard wurde unter der Faust seines Vaters fast erdrückt – niemals durfte er etwas tun, was ihm sein Vater nicht befohlen hatte. Der Sohn bekam kein Taschengeld, und auch seine Frau und Chloe hatten nie bares Geld in der Hand. Geld ist Freiheit – es macht die Menschen unabhängig!
Howard bekam keinen Hausschlüssel. Er mußte an der Haustür läuten wie ein Händler, und die Dienstboten kontrollierten sein Kommen und Gehen. Sie wagten nicht, den Jungen zu decken, denn auch sie wurden durch einen Stab von Hausspitzeln beobachtet.
Donovan war allgegenwärtig. Er benützte alle Augen und Ohren für seine Informationen. Wer immer für Donovan arbeitete, mußte seine Persönlichkeit völlig aufgeben.
Als Howard fünfzehn war, fing er an, Marken zu sammeln. Um sich das Geld zum Einkauf zu beschaffen, stahl und verkaufte er kleine Gegenstände aus dem Haus des Vaters – Schmucksachen, Silber, Löffel und Bücher.
Donovan mißgönnte seinem Sohn das Interesse an diesen bunten Papierstückchen, aber er duldete es, weil ihn der Junge überzeugte, er vergrößere die Sammlung durch klugen Markenhandel.
Als Howards Interesse in seinem Vater Eifersucht erweckte, begann er einen Wettbewerb in dieser Liebhaberei seines Sohnes und kaufte sich selbst eine kostspielige Sammlung.
Mit siebzehn brachte Howard den Mut auf, wegzulaufen. Um sein Abenteuer zu finanzieren, stahl er die wertvollsten Marken seines Vaters. Er hinterließ einen Brief, in dem er seine Gründe erklärte, floh nach Paris und studierte an der Sorbonne. Er entwickelte großen Fleiß, machte seine Prüfung als Volkswirtschaftler und kehrte dann nach den Staaten zurück, um eine Stellung zu finden.
Doch er verlor einen Posten nach dem anderen; er merkte nicht, daß sein Vater jedes Druckmittel anwandte, um Howards Arbeitgeber zu zwingen, ihn zu entlassen.
Donovan wollte seinen Sohn zu Hause haben, und wie immer, erreichte er, was er sich vornahm.
Eines Tages kehrte Howard gebrochen und verzweifelt ins Vaterhaus zurück. Dort fand er statt des erwarteten Zorns Donovan mit offenen Armen bereit, den verlorenen Sohn aufzunehmen. Die Umarmung war symbolisch: Er hielt den Sohn wieder in seinen Klauen!
Von da an arbeitete Howard für seinen Vater – ohne Gehalt oder eine offizielle Position. Von Zeit zu Zeit gab ihm Donovan Geld, wie eine milde Gabe für einen armen Verwandten. Er verzieh Howard niemals seine einzige unabhängige Tat. Er konnte nicht vergeben.
Jedoch der Sohn hatte etwas von Donovans Hartnäckigkeit und List geerbt. Er beabsichtigte, den Vater mit der einzigen Waffe zu schlagen, die ihm zur Verfügung stand – mit der Zeit! Wenn er wartete, bis sein Vater alt war, würde seine Zeit schon kommen! Und er wartete, schweigend und geduldig. Jeden Tag wurde er stärker und Donovan älter!
Als Chloe vierzehn war, starb ihre Mutter. Zur Überraschung der Tochter nahm der Vater sich den Verlust sehr zu Herzen. Der Tod war in Donovans Königreich eingebrochen und hatte ohne Erlaubnis ein Stück seines Besitzes fortgenommen. Wieder schien es Donovan, als sei ihm ein großes Unrecht geschehen.
Für diese Selbstsucht haßte ihn Chloe nur noch mehr. In ihren Augen hatte er ihre Mutter getötet. Chloe sehnte sich nach Rache für diesen langsamen Mord und fand einen sicheren Weg dazu – dem Namen ihres Vaters Schande zu machen.
Mit vierzehn hatte sie Liebschaften mit den Dienern, und sie war listig genug, dafür zu sorgen, daß Donovan es entdeckte. Wütend und tief getroffen, sandte er sie in Mädchenpensionate, die praktisch Gefängnisse waren, aber sie fand immer einen Weg, durchzubrennen.
Als sie sechzehn war, heiratete sie einen Preisringer, mit achtzehn einen Boxer, mit neunzehn den Chauffeur ihres Vaters.
Doch dann kam ihr plötzlich die teuflische Idee, ihre Ähnlichkeit mit der Mutter zu vergrößern. Sie hungerte sich zwanzig Pfund ab, ließ ihre Nase umformen und fing an, das Ebenbild von Katherine zu sein. Sie wollte ihren Vater durch diese Ähnlichkeit erschrecken.
Aber das gelang ihr nicht. Donovan durchschaute die Pläne seiner Kinder, und nachdem er einmal ihre Absichten ergründet hatte, dachte er an einen Gegenschlag. Seine Entscheidung wurde durch die Diagnose seines Arztes – daß er unheilbar krank sei – beschleunigt.
Er wollte seine Kinder entwaffnen. Er hatte nur einmal im Leben etwas getan – eine Kleinigkeit für ihn –, was er bedauerte: Er hatte Roger Hinds betrogen. Wenn er das wiedergutmachte – was für eine Ursache hätte dann noch jemand, ihn zu hassen? Sein Geist war so primitiv, daß er seiner alltäglichen Grausamkeiten selbst gar nicht gewahr wurde. Donovan hielt sich für den einen Gerechten in einer verräterischen Welt.
Um einen eventuellen Rückzug zu decken, hatte Donovan seit Jahren Geld beiseitegelegt. Für dieses heimliche Konto benutzte er Hinds' Namen, unbewußt durch sein Schuldgefühl bedrückt. Er liquidierte seine Besitztümer und gab seine Herrschaft an seinen Sohn ab. Niemand hatte sie ihm weggenommen!
Der nächste Schritt war, seine Schuld an Roger Hinds gutzumachen, der seit vierzig Jahren begraben war.
Er suchte Hinds' Verwandte; er entdeckte aber nur wenige. Er hatte im Sinn, sie mit Vermögen zu beschenken, da für ihn Geld und Glück gleichbedeutend waren.
Als er einen Hinds im Gefängnis fand, des Mordes angeklagt, sah er seine große Chance. Hier war ein Leben zu erhandeln – für das, das er ausgelöscht hatte.
Auf seinem Weg zu Geraldine Hinds stürzte das Flugzeug in Reno ob, und damit hatte sein Schicksalspielen ein Ende, wenigstens gegenwärtig.
Während Chloe und ich sprachen, setzte ich im Geiste die einzelnen Stücke der Geschichte zusammen, stellte die Verbindungen her, fügte die fehlenden Teile hinzu und fand die Gründe zu den angedeuteten Ereignissen. Unklarheiten, die mich vorher verwirrt hatten, waren jetzt geklärt. Auf einmal kannte ich Horace Donovan besser, als wenn ich selbst sein Leben gelebt hätte – und ich erschrak.
Er hatte alles zerstört, was sich seinem Willen entgegensetzte. Jetzt, da der Tod eine Schranke gezogen hatte, überstieg sie sein Wille. Er war stärker als der Tod!
Ich sah alles klar – alles, was ich zu meinem Experiment brauchte. Was übrig blieb, konnte durch kalte Analyse festgestellt werden, nicht durch empirisches Forschen.
Ich mußte dieses Hirn begraben – zehn Fuß unter der Erde! Ich mußte seine widernatürliche Existenz beenden!
»Ich möchte, daß Cyril Hinds stirbt«, sagte Chloe verächtlich in heiserem, wütendem Flüstern. »Er darf nicht frei ausgehen! O nein, diesen Triumph darf mein Vater nicht haben!«
Ich lächelte ihr zu, legte meine beiden Hände auf die ihren und betete im stillen um Gedankenfreiheit und eigenen Willen für gerade diesen Augenblick.
»Es geschehen uns nur die Dinge, die wir begehren«, sagte ich. »Und da wir weiser werden, können wir einem Teil unseres Gefühlslebens entfliehen, wenn wir wollen. Schenken Sie diesem Mann nicht die Huldigung Ihres Hasses! Sie waren überempfindlich gegen jede seiner Launen. Seien Sie einmal empfindsam für sich selbst!«
Chloe wandte sich um und blickte mich an, als sähe sie mich zum erstenmal. In ihren Augen spiegelte sich ein längst vergessener Wunsch, der in dem langen Kampfe verlorengegangen war. Sie hatte ein krankhaftes Entzücken im Leiden gefunden; ihr vergessener Wunsch war, einmal das Glück in der Freude zu finden.
Sie stand an einem Kreuzweg, wo das richtige Wort sie auf den richtigen Weg schicken würde, das falsche aber in ein geistiges Chaos.
Ich beugte mich vor, um ihren Blick mit all meiner Willenskraft festzuhalten, und sagte: »Versprechen Sie mir, von hier fortzugehen. Nach Rio, nach Buenos Aires. Irgendwohin, wo die Menschen eine andere Sprache sprechen und nicht von Ihrem Vater reden, sondern nur über Sie, über Sie selbst! Sie sind wichtig! Nur Sie! Niemand als Sie!«
Meine Worte schienen den Haß und die Rachsucht auszulöschen. Der Ausdruck ihres blassen Gesichts – es war eine Maske der Verzweiflung gewesen – wurde weicher. Die Lippen verloren den harten, gekränkten Zug.
»Lassen Sie den Schmerz Ihren Lehrmeister des Verstehens sein«, sagte ich. »Dann werden Sie das Leben nicht hassen, sondern es in der Freude des Verstehens lieben lernen!«
Chloe lächelte, schloß die Augen. Ihr Körper entspannte sich.
Ich hielt ihre Hand in meiner, bis sie einschlief und ihr Atem leicht wurde. Dann kehrte ich ins Hotel zurück.
»Ein Herr wartet, der Sie sprechen möchte«, sagte der Portier und zeigte auf Yocum, der in einer Ecke der Halle stand.
Mit einem Schmunzeln auf dem dünnen Gesicht kam Yocum auf mich zu. Er trug einen auffallenden Anzug mit dickwattierten Schultern, Lackschuhe und einen teuren grauen Filzhut mit enorm breiter Krempe.
»Hallo, Doktor!« begrüßte er mich und streckte mir mit jovialer Geste die Hand entgegen.
»Was wünschen Sie?« fragte ich kurz. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde zu einem entwaffnenden breiten Grinsen.
»Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie gut es mir geht!«
Seine Stimme war stärker geworden, denn er hatte sich besser ernährt, aber die tiefen Löcher in seinen Wangen zeigten das Ende seiner Tage an wie ein Stundenglas. Ich gab ihm nur noch ein paar Monate. »Sie sollten in ein Sanatorium«, sagte ich.
Yocum zuckte die wattierten Schultern.
»Nun ja – vielleicht tue ich es auch! Aber erst will ich mich ein bißchen amüsieren! Wissen Sie, es ist, als ob man lange gehungert hat ... Ich möchte essen, ehe ich wieder faste!«
Er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen, abschätzend, als wäre ich ein Wagen aus zweiter Hand.
»Sie sehen wohlhabend aus«, sagte er befriedigt.
Der Besuch hatte einen allzu offenkundigen Zweck!
Ich nahm ihn in eine Ecke, wir setzten uns. Ein plötzlicher Einfall zuckte mir durch den Sinn. Vielleicht hatte ich Verwendung für ihn.
Yocum kreuzte sorgsam die Beine, um seine Hose nicht zu drücken. Dann zog er eine Photographie aus der Brusttasche; sie war gelb von Rauch. Es war das Bild Donovans in der Leichenkammer.
»Ich fand es in der Asche meines Hauses«, sagte Yocum angelegentlich, zeigte es mir und steckte es wieder in seinen Rock.
»Und was wünschen Sie von mir? Soll ich es kaufen?« fragte ich.
»Seien Sie nicht unfair, Doktorchen«, sagte er frech, »Sie haben mir bis jetzt mein Haus noch nicht bezahlt!«
Ich stand auf, ohne zu antworten, und da er nur ein armseliger Bösewicht war, wurde er bleich. »Sie müssen wissen, Doktor«, sagte er drohend, »ich kann dieses Bild immer noch an Howard Donovan verkaufen!«
»Ich wünschte, Sie täten es«, erwiderte ich, und meine Stimme klang so gleichgültig, daß Yocum Angst bekam.
»Ich kann da nicht folgen«, sagte er ratlos. »Noch vor ein paar Tagen haben Sie gern dafür bezahlt, und jetzt ...«
Ich setzte mich wieder. »Ich bin Ihrer überdrüssig«, sagte ich. »Sie handeln wie ein Esel, der nicht weiß, wann er sich selbst umbringt. Gehen Sie doch und erzählen Sie es Howard Donovan! Angenommen, man fährt nach Washington Junction und findet das Hirn. Was weiter? In diesem Fall sind Sie derjenige, der wegen Erpressung eingesperrt wird!«
»O nein! Ich nicht!« sagte Yocum prahlerisch. »Sie haben mir das Geld freiwillig gegeben!«
»Erzählen Sie das nur dem Richter – Sie werden schon sehen, ob er Ihnen glaubt. Nebenbei ...«, ich starrte ihn an, um ihn einzuschüchtern, »es wäre gar keine schlechte Idee, Sie verhaften und mir mein Geld wiedergeben zu lassen!«
»Das Geld?« stammelte er. Sein Gesicht zerbrach in kleine Flächen, die nur noch von einem Netz tiefer grauer Linien zusammengehalten wurden. »Sie können nichts beweisen!«
»Oh, ich habe noch Ihre Negative«, sagte ich.
»Sie haben mein Haus niedergebrannt!« Er versuchte anzugreifen, um meinen Angriff abzuwehren.
»Können Sie das beweisen? Wem wird man glauben – Ihnen oder mir? Sie haben doch schon eine Strafakte oder etwa nicht?«
Das war ein Schuß in den Nebel, aber er schien getroffen zu haben.
»Photos!« murmelte er. »Mit diesem Beweis kann man niemanden überführen!«
»Sie werden erzählen müssen, woher Sie das Geld für Ihren neuen Anzug haben und für den Wagen, den Sie kauften. Wie wollen Sie es erklären? Die Negative und das Hirn in Washington Junction sind der einzige Beweis«, sagte ich langsam und gewichtig, um es ihm recht deutlich einzuprägen. Dann stand ich auf.
Mit zitternder Hand nahm er das Bild wieder heraus.
»Gut – Sie haben gewonnen!« sagte er tonlos und zerriß es in kleine Stücke. »Vergessen Sie das Ganze, Doktor!«
»O nein, das werde ich nicht tun! Sie werden von mir hören!«
Ich machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen. Er starrte mir hilflos nach. Als ich mich nochmals umwandte, war er weggegangen.