6

Die Abenddämmerung war nahe.

»Dies wird unsere fünfte Fleischladung«, sagte ich.

»O ja«, antwortete Cuwignaka verbittert.

»Moment!« rief ich.

Cuwignaka hob ebenfalls den Kopf. Wir befanden uns in einer langen, ziemlich flachen Senke, deren Hänge an der Stelle, wo wir den Glatthorn bearbeiteten, ziemlich steil aufragten, links etwa zwanzig Fuß, rechts sogar dreißig Fuß hoch.

Ich spürte ein Beben in der Erde unter unseren Füßen.

»Sie kommen«, sagte Cuwignaka. Hastig beugte er sich zu den Lederfesseln nieder, die zwischen den Vorderbeinen unserer Kaiila gespannt waren, um ihnen eine Flucht unmöglich zu machen, und nahm den Tieren das gewundene Leder ab. Wir hatten die Kaiila bereits von den beiden Transportgestellen befreit.

»Wie viele sind es?« fragte ich.

»Zweihundert, vielleicht dreihundert«, sagte Cuwignaka und stieg leichtfüßig auf den Rücken seiner Kaiila.

Deutlich konnten wir es hören. Es wehte durch die Senke herbei: das dumpfe Dröhnen, verstärkt durch den schmalen Lehm- und Felskorridor, in dem wir uns befanden.

»Steig auf!« rief Cuwignaka. »Beeil dich!«

Ich blickte auf das Fleisch. Beinahe im gleichen Augenblick erschien an der nächsten Biegung des Einschnittes ein Kailiaukbulle, dahinstürmend, mit der Schulter gegen die Schluchtwand prallend, beinahe ausgleitend auf dem weichen Boden, die roten Augen weit aufgerissen, etwa zweitausendfünfhundert Pfund schwer.

Ich sprang zur Seite, und das Ungeheuer galoppierte an mir vorbei. Ich hätte es beinahe berühren können. Meine Kaiila schrie auf und versuchte mit wirbelnden Hufen die Seite der Senke zu ersteigen, ehe ich sie herumziehen konnte, sich aufbäumend, abgleitend, stürzend und zur Seite rollend.

Ein zweiter bellender Kailiauk stürmte vorbei.

Ich ergriff die Zügel meiner Kaiila. Die Senke war voller Staub. Der Boden bebte unter unseren Füßen. Das Dröhnen wurde zu einem ohrenbetäubenden Donnern, das zwischen den Erdwällen widerhallte und überall zu sein schien. Cuwignakas Kaiila schrie und stieg auf die Hinterhand. Zum Glück behielt er das Tier im Griff. Als meine Kaiila wieder auf die Beine kam, stieg ich auf und drückte es zur Seite, fort von den herbeigaloppierenden Pte. So flohen Cuwignaka und ich nur wenige Meter vor der Tierhorde, die wie ein einziger zorniger Angreifer mit gesenkten Hörnern durch die Senke flutete.


Etwa hundert Meter von der Senke entfernt, standen wir im Gras. Ich hatte meiner Kaiila beruhigend die Hand an den Hals gelegt. Sie zitterte noch immer. Die Masse der in Panik geratenen Kailiauk, die durch die Senke gestürmt waren, befanden sich schon gut einen Pasang entfernt. Hier und dort liefen noch einzelne Tiere herum, von denen einige bereits wieder langsamer wurden, stehenblieben und zu grasen begannen.

»Wir wollen in die Senke zurückkehren«, sagte Cuwignaka und stieg auf.

Ich folgte seinem Beispiel. Im Schritt führten wir unsere Kaiila in den engen Einschnitt. Der Boden war aufgewühlt von den Hufen. Zahlreiche Abdrücke waren sechs oder sieben Zoll tief.

»Vermutlich waren die Tiere am anderen Ende der Senke isoliert worden«, sagte Cuwignaka. »Dann holte man den Bullen heraus und jagte ihn die Senke entlang, damit er dort erlegt werden konnte, wo wir ihn fanden.«

»Ist das wirklich anzunehmen?« fragte ich.

»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte Cuwignaka. »Manchmal suchen Tiere in einer solchen Senke Schutz oder beginnen beim Erreichen der Vertiefung im Kreis zu gehen, um eine Zeitlang zu verweilen, vielleicht bis zum Morgen.«

»Es war eine Falle«, meinte ich.

»Nicht genau«, sagte Cuwignaka. »Wir erhielten den Befehl, die Kaiila abzuschirren. Man forderte uns auf, sie ganz in der Nähe anzubinden.«

Ich nickte.

»Uns sollte also nichts geschehen«, fuhr Cuwignaka fort.

Langsam durchritten wir den Einschnitt.

»Das Fleisch ist fort«, sagte Cuwignaka gleich darauf. »Zerrissen, zertrampelt, verstreut.«

Hier und dort sah ich Fleischbrocken, die in den Boden gedrückt worden waren.

»Einen Teil könnten wir retten«, sagte ich. »Wir müssen ihn nur einsammeln und später im Lager waschen.«

»Das wollen wir den Fliegen überlassen«, sagte Cuwignaka.

»Die Transportgestelle sind ebenfalls vernichtet«, stellte ich fest.

»Ja.«

Die Stangen waren zerborsten und zersplittert, die Querstreben zertreten, die Häute eingerissen. Überall lagen Schnurstücke und Zügelteile herum.

Ich sah mir den aufgewühlten Boden der Senke an, das halb in den Sand getrampelte Fleisch, die Überreste der Transportgestelle. Der tote Stier war mehrere Fuß weit mitgezerrt und betrampelt worden und lag plattgedrückt und halb vergraben im Schmutz. Schon ein einziger Kailiauk vermag eine geradezu beängstigende Kraft und Schnelligkeit zu entwickeln. Die Gewalt, die eine Herde aufbringt, übersteigt mein Vorstellungsvermögen.

Cuwignaka stieg ab und begann die Lederschnüre und Geschirreste der zerstörten Transportgestelle einzusammeln, die sich noch verwerten ließen.

»Ich helfe dir«, sagte ich, stieg ab und folgte seinem Beispiel. Unsere Kaiila bewegten sich kaum und blieben bei uns.

»Der Kopf ist noch da«, sagte Cuwignaka und deutete auf den Schädel des Tiers, das wir ausgenommen hatten.

»Ja.«

»Wenn wir hier fertig sind, bringen wir ihn aus der Senke. Nach oben auf die Ebene.«

»Schön«, sagte ich. »Da kommt jemand.«

Wir blickten nach rechts, wo sich die Senke seitlich fortkrümmte. Langsam, im Schritt kam ein Kaiilareiter in Sicht.

»Hci«, sagte Cuwignaka.

Hci zügelte sein Tier einige Meter vor uns. Bis auf die Reithose und die Mokassins war er nackt. Um den Hals trug er die Kette mit Sleenkrallen. Quer über die Oberschenkel hatte er seinen Bogen gelegt, an seiner linken Hüfte hing der Köcher. Seine Pfeile, die man aus den toten Tieren gezogen hatte, nachdem sie den Besitzer identifiziert hatten, waren sicher schon wieder vom Blut gereinigt. Nur die Federspitzen wiesen oft noch Blutspuren auf.

»How, Cuwignaka!« sagte Hci.

»How, Hci!« antwortete Cuwignaka.

Hci sah sich in der Senke um. »Ihr habt das Fleisch verloren«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka.

»Das ist nicht gut. Außerdem sind eure Transportgestelle zerstört worden.«

»Ja.«

»Ich habe euch gleich gesagt, daß ihr zu dicht an der Herde gearbeitet habt«, sagte Hci. »Ich hatte euch befohlen, diesen Ort zu verlassen.«

Cuwignaka war zornig, antwortete aber nicht. Wir wußten, daß Hcis Äußerungen bis zu diesem Punkt durch Bloketu und Iwoso bestätigt werden konnten.

»Aber ihr habt nicht auf mich gehört«, fuhr Hci fort. »Vielmehr habt ihr aktiven Ungehorsam gegenüber einem Jagdaufseher geübt.«

»Warum hast du das getan?« fragte Cuwignaka.

»Jetzt habt ihr Fleisch verloren.«

»Du hast es vernichtet«, sagte Cuwignaka. »Du hast das Fleisch vernichtet.«

Hci saß gelassen auf dem Rücken seiner Kaiila. »Dafür könnte ich euch beide umbringen«, sagte er. »Aber ich sehe davon ab.«

Hci sprach sicher die Wahrheit. Wir hatten ein Messer bei uns, ein Schnittmesser. Hci war beritten und verfügte über seinen Bogen.

Langsam ritt Hci auf uns zu und hielt seine Kaiila erst wieder an, als er dicht bei uns war. Er deutete auf den Kailiaukkopf. »Der muß aus der Senke geholt werden«, sagte er.

»Ja«, sagte Cuwignaka.

Ohne Eile ritt Hci sodann an uns vorbei, die Senke empor; die Hufe seiner Kaiila schlugen einige Steine los.

Wir beendeten unsere Arbeit und fügten die zerrissenen Zügelleinen und Schnüre zu Rollen zusammen, die wir uns über die Schulter warfen.

»Ich muß die Isbu verlassen«, sagte Cuwignaka.

»Warum?«

»Ich bin eine Schande für meinen Bruder«, sagte Cuwignaka.

»Der Kopf dürfte schwer sein«, sagte ich. »Wenn wir ihn aus der Senke holen wollen, sollten wir gleich damit beginnen.«

»Ja.« Und gemeinsam schleppten wir den Kopf zur Steppe empor und setzten ihn etwa fünfzig Meter vom Beginn der Senke ab.

»Warum tun wir das?« fragte ich.

»Der Kailiauk ist ein edles Tier«, erwiderte Cuwignaka. »Die Sonne soll über ihm scheinen.«

»Das ist sehr interessant«, sagte ich.

»Was?«

»Na, die Sache mit dem Kopf. Anscheinend war es dir wie Hci sehr wichtig, den Kopf aus der Schlucht zu holen, damit er in der Sonne liege.«

»Natürlich.«

»Begreifst du nicht? Damit ist doch bewiesen, daß ihr beide Kaiila seid, du nicht weniger als er. Ihr gehört beide den Isbu an.«

»Aber ich bin eine Schande für sie.«

»Wieso?«

»Ich habe Fleisch eingebüßt«, sagte Cuwignaka.

»Du hast kein Fleisch eingebüßt«, sagte ich. »Das war Hcis Schuld.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Cuwignaka lächelnd. »Aber niemand wird mir glauben.«

»Hci ist im Lager bestens bekannt«, sagte ich. »Du wärst sicher überrascht, wie viele Kaiilakrieger eher dir glauben würden als ihm.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Cuwignaka lächelnd.

»Mach dir keine Sorgen!« sagte ich. »Vielmehr solltest du stolz sein.«

»Wieso?«

»Immerhin hast du vier Ladungen Fleisch ins Dorf transportiert. Ich glaube nicht, daß ein anderer soviel geschafft hat.«

»Ganz nett, nicht wahr?«

»Großartig!«

»Männer sind immerhin stärker als Frauen«, sagte Cuwignaka. »Sie können besser Fleisch schneiden.«

»Aber die Männer werden für die Jagd benötigt«, sagte ich.

»Ja«, stimmte mir Cuwignaka zu.

»Und du bist ein Mann.«

»Ja, ich bin ein Mann.«

»Dann sollten wir jetzt die Kaiila holen«, sagte ich. »Es wird Zeit, ins Dorf zurückzukehren.«

»Vier Ladungen, das ist ganz nett, nicht wahr?«

»Großartig!« versicherte ich ihm.

»Ich bin bereit, ins Lager zurückzukehren«, sagte Cuwignaka.

»Gut.«

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