19

»Nimm die Lanze!« schrie ich.

Erstaunt waren wir herumgefahren, wenige Meter von unserem Zelt entfernt, aus dem Cuwignaka soeben die Lanze geholt hatte.

Vorgebeugt und mit gesenkter Lanze galoppierte der Gelbmesserkrieger auf uns zu, und die trommelnden Hufe seiner Kaiila ließen den Staub aufwirbeln.

Cuwignaka duckte sich zur Seite und hob dabei die Arme; seine Fäuste führten die eigene Lanze. Holz erschauderte, als die beiden Waffen, Cuwignakas auf der Innenseite, sich gegeneinander drehten. Die gegnerische Lanzenspitze fuhr zwischen Cuwignakas Arm und Hals hindurch. Cuwignakas Lanze riß den Angreifer vom Rücken seiner Kaiila, die herrenlos weiterlief.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka und blickte zu Boden.

»Zieh deine Lanze heraus«, sagte ich.

Mein Freund stellte dem Mann den Fuß auf die Brust und zerrte die Lanzenspitze frei.

»In einer solchen Situation«, sagte ich, »ist es sicherer, von außen zuzustechen, und die andere Lanze wegzudrücken, um dann darüber hinweg anzugreifen.«

»Er ist tot«, wiederholte Cuwignaka.

»Hätte er die Lanze weiter rechts ausschwingen lassen«, sagte ich, »hättest du dich genau in ihre Bahn bewegt.«

»Ich habe ihn umgebracht«, sagte Cuwignaka.

»Schade, daß wir die Kaiila nicht halten konnten«, stellte ich fest.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.

»Hör doch, was ich dir sage!«

»Ja, Tatankasa«, sagte Cuwignaka.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. »Wir sind gleich bei Grunts Zelt.«


»Alles in Ordnung?« fragte ich Wasnapohdi beim Eintritt in Grunts Zelt.

»Ja«, sagte das Mädchen, das angstvoll zwischen einigen Ballen kniete. »Was ist los?«

»Watonka hat das Lager verraten«, sagte ich. »Es wird von Tarnkämpfern und Gelbmessern angegriffen. Ist Grunt inzwischen zurückgekehrt?«

»Nein, Cuwignaka, bist du verletzt?«

»Nein«, antwortete er zitternd. »Das Blut stammt nicht von mir.«

»Wo sind meine Waffen?« fragte ich Wasnaphohdi.

»Ich habe einen Mann getötet«, murmelte Cuwignaka.

»Hier«, sagte Wasnapohdi, holte ein Bündel von der Außenwand des Zeltes und öffnete es. Darin lagen mein Gürtel mit Schwertscheide und Messerhülle; außerdem erblickte ich den kleinen Bogen, den ich vor langer Zeit in Kailiauk erworben hatte, samt seinem Köcher mit zwanzig Pfeilen.

»Tatankasa«, sagte Cuwignaka.

»Ja?« fragte ich und griff nach dem Waffengurt. Seit ich Cankas Sklavenkragen trug, hatte ich ihn nicht mehr umgehabt.

»Bewaffne dich nicht«, sagte Cuwignaka. »Als Sklave wirst du vielleicht verschont.«

Ich schnallte den Gürtel um. Ich zog das Kurzschwert ein Stück aus der Scheide und ließ es wieder hineinfallen. Ich testete das Messer: Die Scheide saß fest, aber die Klinge ließ sich mühelos ziehen. Dann beugte ich den Bogen und spannte ihn. Den Köcher warf ich mir über die Schulter. Zwei Pfeile nahm ich mit dem Bogen in die Hand, einen dritten setzte ich auf die Bogensehne.

Ich schaute Cuwignaka an.

»Das Lager ist groß und bevölkert. So ohne weiteres läßt es sich nicht erobern, auch nicht mit einem Überraschungsangriff. Es wird Widerstand geben.«

Cuwignaka schüttelte wie benommen den Kopf. »Ich kann nicht kämpfen«, sagte er. »Das konnte ich nie.«

»Komm, Wasnapohdi«, sagte ich zu dem Mädchen. »Wir wollen versuchen, andere zu finden. Vielleicht kann ich dich zu Grunt bringen.«

Sie stand auf.

»Wenn nötig«, sagte ich zu ihr, »wirfst du dich vor Gelbmessern auf die Knie. Vielleicht geben sie sich damit zufrieden, dich zu versklaven.«

»Ja, Herr«, sagte sie.

Am Zeltausgang wandte ich mich noch einmal zu Cuwignaka um.

»Ich habe einen Mann getötet«, sagte dieser erschaudernd. »Das könnte ich niemals wieder tun. Es ist zu schrecklich.«

»Der erste Gegner ist der schwerste«, sagte ich.

»Ich kann nicht kämpfen«, behauptete er.

»Wenn du hierbleibst, mußt du bereit sein, dich wehrlos zu ergeben oder mit den Unschuldigen zu sterben.«

»Respektierst du mich, Tatankasa?« fragte er.

»Ja«, erwiderte ich. »Der Tod wird dich aber nicht respektieren. Der hat vor niemandem Respekt. Vor gar nichts.«

»Bin ich ein Feigling?«

»Nein.«

»Irre ich mich?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin völlig durcheinander.«

»Ich wünsche dir alles Gute, Mitakola, mein Freund«, sagte ich. »Komm, Wasnapohdi.«

Ich schaute mich kurz draußen um und verließ das Zelt. Wasnapohdi folgte mir. Wir bahnten uns unseren Weg zwischen Zelten hindurch, von denen etliche brannten. Gefüllte Fleischgestelle waren umgestoßen worden. Zum Trocknen aufgespannte Felle hatte man eingerissen und zertrampelt. Einmal wandte ich mich kurz um. Hinter mir war Cuwignaka aufgetaucht, der noch immer sehr mitgenommen wirkte. Er umklammerte seine Lanze mit beiden Händen. »Ich komme mit«, sagte er. Dann setzten wir unseren Weg fort.


»Zurück!« flüsterte ich. »Runter!«

Wir traten zurück und suchten hinter einem Zelt Schutz. Elf Reiter trabten vorüber.

»Gelbmesser«, sagte ich.

Etliche Krieger hatten blutige Skalps am Gürtel hängen.

»Wenn du nicht kämpfst«, fragte ich Cuwignaka, »wer soll dann die Schwachen und Unschuldigen beschützen?«

»Ich kann nicht kämpfen«, sagte er. »Ich kann nicht anders, es geht einfach nicht.«

»Wohin wollen wir, Herr?« fragte Wasnapohdi.

»Wir nähern uns dem Ratszelt.«

»Dort liegt sicher das Zentrum des Angriffs«, sagte Cuwignaka.

»Wir haben keine Kaiila für die Flucht«, gab ich zurück. »Wenn sich überhaupt Widerstand herausbildet, dann logischerweise dort, besonders wenn es sich um organisierten Widerstand handelt. Das Ratszelt ist der Mittelpunkt des Lagers. Man kommt leicht dorthin – und kann von dort auch ohne weiteres einen Ausfall machen.«

»Da hast du recht«, meinte Cuwignaka.

»Dann komm«, sagte ich.


»Vorsichtig!« mahnte ich flüsternd. »Ganz still jetzt. Da vorn scheint ein Sammelpunkt zu sein.«

»Wie schrecklich wir Mädchen doch behandelt werden!« japste Wasnapohdi. »Wie Holzstücke werden wir aneinandergefesselt.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da wurde eine weiße nackte Sklavin zu den anderen Gefangenen gestoßen. Ihr Häscher, ein Gelbmesser, stieg von seiner Kaiila, löste seinen kleinen Lederbeutel von seinem Gürtel, tauchte einen Finger hinein und drehte ihn. Dann legte er den Sack fort. Sein Finger war schwarz gefärbt. Er hielt das Mädchen mit der linken Hand an der Schulter fest und zeichnete ein Mal auf ihre linke Brust. Einen Augenblick lang betrachtete er sein Werk, wischte dann seinen Finger ab und verstaute den Beutel. Das schluchzende Mädchen schaute ebenfalls auf das Zeichen – das Symbol ihres neuen Herrn. Gleich darauf war der Krieger wieder auf seine Kaiila gestiegen und davongaloppiert.

»Einige gefangene Frauen sind rothäutig«, sagte ich zu Cuwignaka, »zweifellos ehemalige freie Frauen der Kaiila.«

»Frauen sind dazu geboren, den Männern zu dienen«, sagte Cuwignaka.

»Schau sie dir an«, sagte ich zu Wasnapohdi. »Da sind all die Frauen, nackt und gefesselt, reine Beutestücke.«

»Ja, Herr.«

»Sicher bemitleidest du sie sehr.«

»Ja, Herr.«

»Gleichwohl erregt dich ihr Anblick. Möchtest du an ihrer Stelle sein?«

»Nein, Herr«, antwortete sie. »Ich bin ja bereits mit Sklavenherren zusammen.«

»Ich bin kein solcher Herr«, sagte Cuwignaka.

»Ist er einer?« fragte ich Wasnapohdi. Sie war eine Frau. Sie mochte meine Frage beantworten können.

»In ihm steckt etwas, das zu einem wahren Sklavenherrn gehört«, sagte Wasnapohdi. »Ich spüre es deutlich.«

»Ich trage ein Frauenkleid«, wandte Cuwignaka ein. »Und weigere mich zu kämpfen.«

»In dir steckt etwas, das dich zum Herrn über Sklaven und Gegner machen könnte«, sagte Wasnapohdi.

»Absurd!«

»Du allein mußt darüber entscheiden«, sagte sie.

»Wir wollen weiter«, schaltete ich mich ein. »Wir müssen in das Zentrum des Lagers.«


»Das Tanzzelt«, sagte ich.

Rechts von uns erhob sich das große runde Bauwerk aus Zweigen und Holz. Es umschloß eine festgetretene Tanzfläche von etwa fünfzig Fuß Durchmesser. Stämme und Zweige bildeten die Decke. In der Mitte, durch ein in das Gezweig gerissenes Loch deutlich zu erkennen, erhob sich der schmale, borkenlose, zweifach gegabelte Stamm, den Winyela vor einigen Tagen gefällt hatte. Der Stamm war offenbar mit Messern und Äxten traktiert worden. Auf allen Seiten zeigten sich die Wände eingerissen; möglicherweise waren die Gelbmesser durch diese Öffnungen eingedrungen. Drinnen zeigten sich hier und dort Blutflecke im Staub; Spuren wiesen darauf hin, daß Körper aus dem Zelt gezerrt worden waren.

»So wie ich die Dinge sehe, war dieser Ort für dein Volk etwas Heiliges«, sagte ich. »Er ist entehrt worden.«

»Ich kann trotzdem nicht kämpfen«, sagte Cuwignaka kopfschüttelnd.


»Schau nicht hin«, sagte ich warnend zu Cuwignaka. »Es wird dich erschüttern.«

»Tatankasa!« sagte er.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte ich. »Komm weiter.«

Aber schon kniete Cuwignaka zwischen den Toten nieder und wiegte den kleinen Körper in den Armen.

»Gehen wir!« sagte ich.

»Er war noch ein Kind«, sagte er klagend.

Wasnapohdi wandte den Blick ab. Ihr schien übel zu sein. Es war kein hübscher Anblick.

»Wir haben ihn gekannt«, sagte Cuwignaka.

»Dort liegt die Mutter«, sagte ich.

»Wir kannten ihn!« wiederholte mein Freund.

»Ja«, sagte ich beruhigend. Ein kleiner Junge der Kaiila: Cuwignaka und ich hatten ihn gut gekannt. Oft hatten wir für ihn den Reifen geworfen, den er mit seinen kurzen Pfeilen sicher durchschossen hatte.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, sagte ich.

»Warum hat man ihm das angetan?« fragte Cuwignaka und wiegte die kleine Leiche in den Armen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. In gewisser Weise konnte ich die Kampfriten der roten Wilden verstehen, soweit sie sich zwischen erwachsenen Kriegern abspielten. Sie gaben einer gewissen Erleichterung Ausdruck, sie waren Zeichen des Lebens, des Sieges, des Triumphs. Nicht verstand ich, daß oft Frauen und Kinder davon betroffen waren.

»Er war doch noch ein Kind«, sagte Cuwignaka verzweifelt. »Warum haben sie das getan?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich ratlos.

»Gelbmesser haben dies getan!« sagte er.

»Vielleicht auch jene Krieger, die man Kinyanpi nennt«, wandte ich ein. »Ich weiß es nicht.«

»Feinde haben dies getan«, sagte Cuwignaka.

»Ja.«

Langsam legte Cuwignaka den toten Jungen hin. Dann schaute er mich an. »Lehre mich zu töten«, sagte er.

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