»Es ist fast soweit! Aufwachen!« rief Cuwignaka und schüttelte mich an der Schulter. »Bald ziehen wir los.«
Ich ließ mich in meiner Robe herumrollen und öffnete die Augen. Ich sah die Zeltstäbe, die über meinem Kopf zusammentrafen, die allesumschließenden Felle. Der Himmel, den ich durch das Rauchloch sehen konnte, war beinahe noch schwarz.
»Beeil dich!« drängte Cuwignaka.
Ich warf die Felle zur Seite und richtete mich auf. Im vagen Licht erblickte ich Cuwignaka, der sein Kleid über den Kopf streifte und aufstand, um es an sich herabzuziehen. Vor einigen Tagen hatte er die Ärmel abgerissen. Wochen zuvor, noch auf dem Schlachtfeld, hatte er es gekürzt und an der linken Seite eingerissen, um sich besser bewegen zu können. Die roten Wilden schlafen im allgemeinen nackt. Auch ich war unbekleidet – bis auf Cankas Kragen. Als Sklave durfte ich ihn nicht abnehmen.
»Wakapapi«, sagte Cuwignaka zu mir, das Kaiila-Wort für Dörrmasse. Ein weiches Etwas wurde mir in die Hand gedrückt. Ich zerkrümelte es. Im Winter können solche Fleischkuchen natürlich steifgefroren sein; man bricht sie in kleinere Stücke, wärmt sie in Hand und Mund auf und ißt sie stückweise. Ich hob die zerbröckelte Dörrmasse an den Mund und aß davon. Die verschiedensten Arten Dörrmasse sind denkbar, je nach Zusätzen von Kräutern, Gewürzen und Gemüse. Ein gebräuchliches Rezept sieht etwa so aus: Kailiaukfleisch wird in kleine Streifen geschnitten, an Stangen in der Sonne getrocknet und dann fast pulverförmig zermahlen. Der Mischung werden dann zerdrückte Früchte beigegeben, im allgemeinen Kirschen. Das Ganze wird mit Kailiaukfett vermengt und dadurch erhärtet, um schließlich in kleine, flache rundliche Kuchen zerschnitten zu werden. Der Fruchtzucker in der Mischung liefert schnelle Energie, während das Fleisch für langfristig wirkende wertvolle Proteine sorgt. Die Masse wird, wie das pure Trockenfleisch, roh oder gekocht gegessen. Es ist durchaus üblich, beides mit auf die Jagd zu nehmen.
»Ich schaue nach den Kaiila«, sagte Cuwignaka, »und schirre das Lastengestell an.«
Ich nickte.
Er wischte sich mit dem Unterarm über den Mund. Er hatte im Halbdunkel dicht neben mir gehockt, nur an seinem weißen Kleid zu erkennen, und ebenfalls vom Dörrfleisch gegessen.
Ich lächelte vor mich hin. Beide Kaiila – das Tier, das ihm von seinem Bruder Canka überlassen worden war, und die schwarze Kaiila, die früher mein Eigentum gewesen war und mir jetzt mit Erlaubnis meines Herren Canka von meinem Freund, dem Händler Grunt, überlassen wurde – waren nur wenige Fuß von der Schwelle der Unterkunft entfernt angebunden. Die beiden Lastengestelle, die wir für diesen Tag vorbereitet hatten, lagen ebenfalls griffbereit. Cuwignaka hatte es eilig.
Ich saß auf den Roben und aß Dörrmasse.
Ich hörte, wie ringsum das Lager zum Leben erwachte. Meine Gedanken wanderten zu Sklavinnen, die ich als freier Mann besessen hatte, Mädchen wie Constance, Arlene, Sandra, Vella und Elicia. Sie alle waren heißblütig und boten in ihren Sklavenkragen einen erregenden Anblick. Unter ihnen war keine, deren Lippen ein Mann nicht gern geküßt hätte. Ich dachte an eine andere Frau, olivenhäutig, grünäugig, schwarzhaarig: Talena, die verstoßene Tochter Marlenus’, des Ubar von Ar. Wie stolz sie gewesen war! Wie heftig sie mich abgelehnt hatte, als sie mich hilflos wähnte! Trotz der räumlichen und zeitlichen Entfernung wallte Zorn in mir auf. Ich fragte mich, wie sie sich als entkleidete, gefesselte Sklavin zu meinen Füßen ausmachen würde.
Auf den Roben sitzend, verzehrte ich die Trockenmasse. Meine Gedanken waren bei Talena. Sie hatte einmal Rask aus Treve gehört. Zweifellos hatte er ihr das Los der Sklaverei beigebracht; doch war ich überzeugt, ich hätte einen besseren Lehrmeister abgegeben. Heute lebte sie frei, doch zurückgezogen und entehrt in der Stadt Ar, im Zentralzylinder, dem womöglich bestverteidigten Turm in jener riesigen Stadt. Ein unmöglicher Gedanke, sie dort herauszuholen! Nein, ich mußte sie mir aus den Kopf schlagen. Ich erinnerte mich an ihre Eitelkeit und Arroganz, an ihren Stolz. Im Zentralzylinder war sie vor den Armfesseln und Schlingen räubernder Tarnreiter sicher. Gewiß kam dort niemand an sie heran. Ich dachte an den Spott, die Verachtung, die sie mir bezeugt hatte.
Eines Tages, so überlegte ich, mochte ich in Ar mein Glück versuchen. Angeblich gibt es dort gutaussehende Frauen. Ich fragte mich, ob sich nicht in meiner eigenen Festung ein Platz für eine solche Frau finden ließe, zum Beispiel in meiner Küche. Natürlich konnte ich sie auch als wertloses Etwas, das mich persönlich nicht im geringsten interessierte, einem der unwürdigsten und geizigsten Tavernenwirte Port Kars überlassen. Dieser Gedanke amüsierte mich.
Ich kaute die letzten Brocken Dörrfleisch.
»Bist du noch nicht fertig?« fragte Cuwignaka, der ins Zelt zurückkehrte. »Bist du noch nicht angezogen?«
»Gleich«, sagte ich.
Ich streckte den Arm aus, nahm meine Tunika und zog sie mir über den Kopf. Dann stand ich auf und zupfte den Stoff zurecht.
Cuwignaka verschwand wieder nach draußen.
Die Dörrmasse hatte mich durstig gemacht.
»Bereitet eure Pfeile vor!« hörte ich einen Ruf außerhalb. »Bereitet eure Pfeile vor! Ebenso die Messer! Wir werden Fleisch erringen! Wir werden Fleisch erringen!« Ein Ausrufer der Sleensoldaten mit Namen Agleskala, Gestreifte Echse, wanderte durch das Dorf.
Ich schob mich zur Seite und tastete nach dem Wasserbeutel. Es war ein Beutel, den ich auf meiner Pack-Kaiila mitgebracht hatte. Daß der Beutel und etliche andere Utensilien und Güter im Zelt lagerten, war Grunt zu verdanken. Verschiedene andere Dinge waren von Canka an Cuwignaka oder andere Mitglieder der Isbu verschenkt worden, im allgemeinen an Kampfgefährten. Das eigentliche Fellzelt war ihm von Akihoka geschenkt worden. Mann-der-geschickt-ist, einem von Cankas besten Freunden. Bei den roten Wilden gehört es zu den guten Sitten, füreinander einzustehen. Unser Haushalt war zwar etwas bescheiden ausgestattet, aber es reichte. Eine Robe kam sogar von Mahpiyasapa, dem Zivilhäuptling der Isbu, der auf diese Weise mit gutem Beispiel vorangegangen war und damit, was aus Cuwignakas Sicht noch wichtiger war, sein Recht auf weitere Stammeszugehörigkeit bekräftigt hatte.
Draußen bewegten sich mehrere Kaiila vorbei. Wahrscheinlich Kundschafter, die mit den Herdenwachen Kontakt aufnehmen wollten.
Ich fragte mich, warum die Kailiauk dieses Jahr so früh kamen.
Langsam blickte ich mich im Fellzelt um, das keinen untypischen Anblick bot. Die Stützstangen waren etwa fünfundzwanzig Fuß lang. Sie bestanden aus Tem-Holz, das gute Trocknungseigenschaften besitzt und daher sehr langlebig ist. Die Rinde wird entfernt, wenn die Stangen zugeschnitten und auf eine zumeist einheitliche Dicke gebracht werden. Ihr Umfang beträgt im allgemeinen zwölf Zoll. Der letzte Meter zum oberen Ende hin wird zugespitzt, um das Zusammenziehen und Festbinden zu erleichtern. Beim Bau der Unterkunft werden drei oder vier Stangen zusammengebunden und aufgerichtet, ein Gebilde, das etwa wie ein Dreifuß aussieht. Die anderen Stangen werden in entsprechendem Abstand dagegengelehnt. Eine lange Lederschnur, vom Boden ausgehend, mehrfach umwunden, verbindet schließlich die primären und sekundären Stangen miteinander. Das Ende dieser Schnur hängt in der Nähe des Eingangs, wo man im Notfall sehr schnell mit dem Abbau beginnen kann. Die Abdeckung des Zelts besteht aus mehreren zusammengenähten Kailiaukfellen. Je nach Größe des Baus und der verfügbaren Felle braucht man etwa neunzehn oder zwanzig Felle. Zwei lange Stangen, leichter als die Stützstangen, werden an dieser Zeltdecke festgemacht. Mit Hilfe dieser leichteren Stangen wird die Decke angebracht; sie hängen schließlich in der Nähe des Eingangs. Sie werden nicht nur dazu benutzt, die Felle an Ort und Stelle zu bringen, zurechtzurücken oder zu entfernen, sondern auch um die Rauchöffnung in der Zeltspitze zu regulieren, was natürlich von Außentemperatur und Windrichtung abhängt. Pflöcke halten die Felle am Boden fest. Im Winter wird noch eine Fell-Innenwand gezogen, im allgemeinen etwa fünf Fuß hoch, im Notfall auch durch eine Art Holzzaun als Schneebremse ergänzt. Im Sommer lassen sich die Zeltwände, wie erwähnt, hochrollen und verwandeln den Bau in eine Art Sonnendach.
Das Äußere der Unterkunft kann der Bewohner nach Belieben bemalen. Dabei werden oft Jagd- und Kampfthemen gewählt. Das Zelt ist also eine sehr persönliche Wohnstatt. Nicht alle Stämme verwenden die gleiche Zahl von Zeltstangen. Die Flieher nehmen zwanzig, die Sleen zweiundzwanzig und die Kaiila vierundzwanzig. Auch ihre Lagerplätze wählen die Stämme nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Die Kaiila sind meistens in der Nähe von Wasser zu finden, doch im Freien, einen oder zwei Pasang vom nächsten Wald entfernt. Sie scheinen die Gefahr eines Überfalls besonders zu fürchten. Die Flieher ziehen es ebenfalls vor, im Freien zu lagern, doch in Waldnähe, wahrscheinlich wegen des Feuerholzes. Die Gelbmesser schlagen ihr Lager oft in dünn bewaldeten Bereichen auf, während Sleen eine dichte Bewaldung oder gar Dickichte vorziehen. Was einem Stamm die gefährliche Möglichkeit eines Überfalls zu eröffnen scheint, ist für den anderen der Inbegriff an Schutz und Sicherheit.
Auch die Mokassins sind bei den Stämmen unterschiedlich gestaltet. Von frischen Spuren kann man oft ablesen, ob hier ein Kaiila- oder Flieher-Mokassin entlanggegangen ist. Bei kriegerischen Einsätzen werden solche Besonderheiten zuweilen ausgenutzt, indem man Mokassins mit feindlichen Mustern trägt. Die beim Zeltbau verwendeten Häute sind natürlich durchscheinend, so daß man sich bei Tageslicht im Innern gut orientieren kann, während man bei Nacht von draußen die Schatten der Bewohner erkennt. Von seinem Feuer erleuchtet, kann das Lederzelt dann einen hübschen Anblick bieten – ein Eindruck, der sich bei einer ganzen Gruppe solcher Unterkünfte natürlich verstärkt.
Übrigens geht es in einem Lager nachts gewöhnlich sehr laut zu. Für einen Gelehrten wäre es nicht die richtige Zuflucht. Daß der rote Wilde schweigsam sei, ist ein Gerücht, das vorwiegend auf Begegnungen in angespannter Situation zurückgeht, bei Konfrontationen mit Fremden, die ihm Unbehagen bereiten, oder bei Tauschgeschäften, bei denen er auf der Hut sein muß. In seinen Dörfern ist der Wilde offen, gut gelaunt und lebhaft. Er liebt es, zu wetten, anderen Streiche zu spielen und Geschichten zu erzählen. Man könnte ihn als den idealen Gast bezeichnen – und den bestmöglichen Gastgeber, gehört es doch zu seinen größten Freuden im Leben, Freunde zu beschenken und zu bewirten.
Ich trank einen großen Schluck aus dem Wasserbeutel, den ich wieder verschloß und an der Zeltwand verstaute. Das Zelt hat einen Durchmesser von etwa fünfzehn Fuß und ist daher ziemlich geräumig. In solchen Zelten haben Familien von fünf bis acht roten Wilden bequem Platz. Gewiß, der größte Teil der Zeit wird im Freien verbracht, außerdem mögen Lebensumstände dem einen, der aus einer bestimmten Kultur kommt, beengt erscheinen, während sie einem anderen mit anderer Herkunft genau richtig und sogar gemütlich erscheinen. Das Aufeinanderleben in Familie und Gemeinschaft, mit all seinen Vor- und Nachteilen, ist typisch für die Existenz des roten Wilden. Ich nahm nicht an, daß er es sich anders wünschte. Gewiß kommt es vor, daß ein Mann gelegentlich die Unterkunft seiner Kriegergemeinschaft aufsucht, wohin ihm Kinder und Frau nicht folgen dürfen. In seinem Klub, wenn man das so bezeichnen kann, findet er dann ein wenig Frieden und Ruhe, die ihm zu Hause fehlen. Außerdem sind die Meditation und das Erstreben von Visionen und Träumen einsame Tätigkeiten. Man kann anzeigen, daß man meditiert, indem man sich einfach eine Decke über den Kopf zieht, selbst wenn dies mitten in einem überflüllten Lager geschieht. Dann wird der Betreffende in Ruhe gelassen. Träumen und Visionen geht man allerdings eher in der Wildnis nach.
»Howo, Tatankasa!« sagte Cuwignaka und schob den Kopf ins Zelt. »Komm, komm, Roter Bulle!«
»Ich komme ja schon«, sagte ich und trat ins Freie. Obwohl es noch völlig dunkel war, vermochte ich Gestalten auszumachen, die sich ringsum bewegten. Cuwignaka hatte die beiden Lastengestelle bereits angeschirrt.
Im Lager herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Ich verschwand zwischen zwei Zelten.
»Wo hast du gesteckt?« fragte Cuwignaka bei meiner Rückkehr.
»Was glaubst du?« fragte ich. »Ich bin dem Ruf der Natur gefolgt!«
Zwei rote Wilde ritten vorbei. Es waren Sleensoldaten. In einem der beiden erkannte ich Hci.
»Wir brechen jeden Moment auf«, sagte Cuwignaka. »Das bezweifle ich«, widersprach ich. Hci zog seine Kaiila herum und ließ sie vor uns halten. Er trug eine lange Lederhose und Mokassins. Um seinen Hals baumelte ein Band aus Sleenklauen, und das Haar war zu Zöpfen geflochten. An der linken Hüfte führte er den noch nicht gespannten Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Am Gürtel steckte ein Messer in einer perlenbesetzten Scheide. Hcis Kaiila besaß ein Zaumseil, das hinten über den Hals führte; ein Hilfsmittel, das beim Kampf oder auf der Jagd allerdings kaum benutzt wird. Der Reiter lenkt das Tier vorwiegend mit den Knien. Auf diese Weise sind seine Hände frei für den Einsatz des Bogens oder anderer Hilfsmittel. Über dem Hals hängt allerdings ein loses Stück Seil, das seitlich hinter die Kaiila geworfen wird. Sollte der Reiter im Gewirr der Jagd zu Boden müssen, kann er sich vielleicht die Kontrolle über sein Tier zurückholen, indem er das Seil oder einen Steigbügel packt und hastig wieder aufsteigt. Hci ritt übrigens ein ausgezeichnetes Tier, was durch die eingekerbten Ohren angezeigt wurde. Bei erstklassigen Tieren werden beide Ohren gekennzeichnet.
»Denk daran, hübsche Siptopto«, sagte Hci spöttisch zu Cuwignaka, »du darfst nicht mitjagen! Du mußt dich im Hintergrund halten. Deine Aufgabe ist es, mit den anderen Frauen Fleisch zu schneiden.« ›Siptopto‹ war ein beleidigender Spitzname, den Hci manchmal gegenüber Cuwignaka benutzte, ein Name, wie er einer Sklavin gegeben werden konnte. Das Wort bedeutete ›Perlen‹.
»Ich bin keine Frau«, sagte Cuwignaka.
»Du hältst dich beim Jagen im Hintergrund«, sagte Hci. »Du wirst mit den anderen Frauen Fleisch schneiden. Du und dein Sklave.«
Dann drehte Hci seine Kaiila und folgte den anderen Reitern.
»Bereitet eure Pfeile vor!« wurde gerufen. »Bereitet eure Pfeile vor! Schärft eure Messer! Schärft eure Messer! Wir werden Fleisch erringen!« Langsam ritt Agleskala, der Ausrufer der Sleensoldaten, durch das Lager.
Hinter ihm folgten in einer Reihe etliche Jäger aus der Gemeinschaft der Sleensoldaten. Sie waren ähnlich wie Hci gekleidet und ausgerüstet. Zwei Männer aber trugen anstelle von Pfeil und Bogen kurze breite Jagdlanzen.
Hinter den Soldaten, sorgsam darauf bedacht, nicht zu weit nach vorn zu geraten, erschienen die ersten Jäger und passierten uns auf ihren Reittieren.
Einige Meter weiter vorn wartete bereits eine Gruppe von Kaiilareitern, unter ihnen ein älterer Mann, Mitglied der Sleensoldaten. Er richtete das Wort an eine Gruppe von fünf oder sechs jungen Männern, beinahe noch Knaben. Für sie war dies wohl die erste Jagd, die sie nicht nur aus der Ferne verfolgen durften, sondern bei der sie sich auch zwischen die Tiere begeben mußten. Ich schritt aus, bis ich verstehen konnte, was gesprochen wurde. »Denkt daran«, sagte der ältere Mann, »ihr jagt heute nicht für euch. Ihr jagt für andere. Sicher wird es Jäger geben, die heute keine Beute machen. Ihr werdet für sie jagen. Und dann jene in den Lagern, die zu schwach und zu gebrechlich sind. Eure Jagd gilt auch ihnen. Und dann die Kranken und Verwundeten. Für sie alle und viele andere, für Männer, die weniger gut dran sind als ihr, geht ihr heute auf die Jagd. Denkt immer daran, daß dies alles nicht nur für euch geschieht. Man jagt niemals für sich allein. Man jagt für die Kaiila.«
»Howe, howe!« riefen die Jungen.
»Gute Jagd!« sagte er zu ihnen. »Oglu waste! Viel Glück!«
Dann zogen alle die Kaiilas herum, um ihren Platz in der Jagdgruppe einzunehmen.
Die Beute seiner allerersten Jagd schenkt ein Junge an andere weiter. Nur die Zunge des ersten Tieres, das beliebteste Fleisch, steht ihm für seine Tüchtigkeit und seinen Mut zu. Diese Sitte scheint die jungen Leute von Anfang an dazu anregen zu wollen, die gebührende Großzügigkeit und Fairneß des Kriegers zu üben.
Ich kehrte zu Cuwignaka zurück.
»Wir ziehen bald los«, sagte er.
»Ich glaube, du hast recht«, erwiderte ich.
Bei einer solchen Jagd werden die Zelte übrigens nicht abgebrochen. Die Pte, eine Herde dieser Größe, bewegt sich so langsam, daß sie drei oder vier Tage lang in Reichweite sein würde. Natürlich ließe sich das gesamte Lager der roten Wilden schnell auflösen; es dauert weniger als zwanzig Ehn, bis ein solches Lager eingerissen, verpackt und weitergezogen ist. Natürlich hat dies auch mit der Bauweise der Zelte zu tun. Ohne Hilfe vermag eine Frau einen solchen Bau in fünfzehn Ehn zu errichten – und in drei Ehn wieder einzureißen.
»Canka«, sagte Cuwignaka beim Anblick des Bruders, der seine Kaiila vor uns verhielt.
»Sei gegrüßt, mein Bruder!« erwiderte Canka.
»Sei gegrüßt, Bruder!« rief Cuwignaka fröhlich. »Was gedenkst du heute früh zu tun?«
»Ich glaube, ich sehe mir mal die Pte an«, antwortete Canka lächelnd.
»Wo ist Winyela?« erkundigte sich Cuwignaka. »Reitet sie mit? Soll sie uns begleiten? Wir achten auf sie.«
»Sie zieht mit«, antwortete Canka. »Aber ich schicke sie mit Wasnapohdi, der Sklavin des Händlers Wapeton. Wasnapohdi hat die Jagd schon einmal mitgemacht und wird sich nicht zu weit vorwagen. Sie kann Winyela zeigen, wie Fleisch geschnitten wird.«
»Winyela ist eine Weiße«, sagte Cuwignaka. »Sie wird sich beim erstenmal übergeben. Sie wird nicht viel zustande bringen.«
»Wenn sie Fleisch verkommen läßt, wird sie bestraft«, sagte Canka.
»Du hast sie doch noch nie bestraft!« behauptete Cuwignaka.
»Wenn sie Fleisch verkommen läßt, soll sie die Peitsche spüren.«
»Gut«, meinte Cuwignaka.
»Wie ich sehe, kleiner Bruder, willst du auch mitziehen.«
»Natürlich!«
»Komm nicht zu nahe an die Herde heran!«
»Nein, keine Sorge!«
Cankas Warnung machte mich ein wenig nervös. Bisher hatte ich angenommen, daß allein die Jäger sich in Gefahr begaben. Aber natürlich war nicht ausgeschlossen, daß die Herde oder Gruppen von Kailiauk Haken schlugen oder im Kreis liefen, womit sie dann in die Nähe der Transportgestelle und Frauen geraten konnten. In einem solchen Fall mußte man sofort die Haltegurte der Gestelle durchschneiden, aufsteigen und so schnell wie möglich verschwinden. Gewiß, am gefährdetsten waren natürlich die Jäger, die zwischen die dahinlaufenden Ungeheuer reiten und ihren Todesstoß anbringen mußten, wenn sie knapp außerhalb der Reichweite der Dreizack-Hörner waren, beinahe dicht genug heran, um das Tier zu berühren.
»Du und Tatankasa, ihr werdet dort draußen allein sein. Ich kann mich nicht in eurer Nähe aufhalten.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Cuwignaka.
»Nimm dich vor Hci in acht!« sagte Canka warnend.
»Gewiß«, bestätigte Cuwignaka, und mir sträubten sich die Nackenhaare.
»Hast du einen meiner Pfeile gesehen?« fragte Canka. »Einer fehlt.«
»Nein«, antwortete Cuwignaka.
»Ich muß ihn verlegt haben.«
»Ja.«
»Ich muß an meinen Platz«, sagte Canka.
»Ich wünsche dir eine gute Jagd«, sagte Cuwignaka. »Sei vorsichtig! Oglu waste!«
»Oglu waste!« gab Canka zurück und ritt weiter.
Agleskala machte seine dritte und letzte Runde durch das Lager und schrie seine Botschaft hinaus. »Wir werden Fleisch erringen!«
Mehrere Reiter fielen in diese Worte ein.
»Wir werden Fleisch erringen!« rief auch Cuwignaka fröhlich.
Die Reihe der Sleensoldaten, die vor Beginn der Morgendämmerung von keinem Jäger überholt werden durfte, verließ das Lager. Ihr folgten die Jäger aus den Reihen der Isbu, Casmu, Isanna, Wismahi und Napoktan, jeweils in Fünferreihen. Von den Hufen ihrer Kaiila stieg Staub auf. Dann kamen die Frauen mit Kaiila und Transportgestellen, deren schleifende Stangen Spuren in den Staub malten. Dieser Gruppe schloß sich Cuwignaka an, und ich folgte ihm.