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»Dort ist sie«, sagte Grunt und deutete schräg nach vorn. »Siehst du sie?«

»Ja«, antwortete ich. »Und ich fühle sie.« Deutlich spürte ich das Beben der Erde durch die Pfoten und Beine meiner geschmeidigen, hochmütigen Kaiila.

»Bisher habe ich sie erst einmal gesehen«, bemerkte er.

Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, die die Vibrationen weitergaben. Vorhin, als wir noch nicht aufgestiegen waren, hatten wir die Hände flach auf den Boden gelegt und eine erste Vorahnung der Erscheinung wahrgenommen, aus einer Entfernung von etwa zwanzig Pasangs.

»Sie kommen!« hatte Cuwignaka fröhlich gerufen.

»Ich bin ein wenig verwirrt«, äußerte Grunt. »Sie kommt früh, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Cuwignaka, der links von mir im Sattel seiner Kaiila saß.

Wir schrieben den Mond des Takiyuhawi, den Mond, in dessen Verlauf der Tabuk sich paart.

»Sie ist eigentlich erst im Kantasawi fällig.« Dies war der Mond, bei dem die Pflaumen rot werden, im Ödland die heißeste Zeit des Jahres, gegen Ende des Sommers.

»Ich weiß nicht, warum sie so früh kommt«, sagte Cuwignaka.

Unsere Kaiila bewegten sich unruhig hin und her. Das Gras der Anhöhe reichte ihnen bis zu den Knien.

»Vielleicht irren wir uns«, meinte ich. »Vielleicht kommt die Vibration von etwas anderem.«

»Dabei gibt’s keinen Irrtum«, sagte Grunt.

»Nein«, fügte Cuwignaka fröhlich hinzu.

»Könnte es sich um eine andere handeln?« fragte ich.

»Nein«, antwortete Cuwignaka.

»Diese Dinge sind wie Sommer und Winter«, erklärte Grunt, »wie die Mondphasen, wie Tag und Nacht.«

»Warum kommt sie dann aber so früh?« wollte ich wissen.

»War sie jemals früh hier?« wandte sich Grunt an Cuwignaka.

»Solange ich zurückdenken kann, nicht«, antwortete dieser. »In den alten Überlieferungen ist die Rede davon, daß sie einmal zu spät kam, doch an ein frühes Eintreffen erinnere ich mich nicht.«

»Sieht aus, als ob es dort drüben regnet«, bemerkte ich.

»Das ist Staub, der vom Wind bewegt wird«, erklärte Cuwignaka. »Die Hufe lassen ihn aufsteigen.«

»Sie ist da«, sagte Grunt. »Es gibt keinen Zweifel mehr.«

Ich schaute in die Ferne. Es war wie ein Fluß aus Hörnern und Fellen.

»Wie lange ist sie?« fragte ich, denn ich vermochte das Ende nicht zu erkennen.

»Wahrscheinlich etwa fünfzehn Pasangs«, erwiderte Grunt. »Und vier bis fünf Pasangs breit.«

»Es würde fast einen Tag dauern, sie zu umreiten«, stellte Cuwignaka fest.

»Wie viele Tiere machen eine solche Gruppe aus?« fragte ich.

»Wer zählt die Sterne, wer die Grashalme?« fragte Cuwignaka.

»Die Größe«, sagte Grunt, »wird auf zwei bis drei Millionen Tiere geschätzt.«

»Sicher die größte Gruppe ihrer Art im Ödland«, meinte ich.

»Nein«, sagte Grunt. »Es gibt größere. Boswell behauptet, eine Gruppe beobachtet zu haben, die für das Durchschwimmen eines Flusses fünf Tage brauchte.«

»Wie lange würde diese Gruppe dazu brauchen?«

»Zwei bis drei Tage.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Der Boswell, von dem er sprach, war mit dem Mann identisch, nach dem der Boswell-Paß in den Thentis-Bergen benannt war. Er war einer der ersten Erforscher des Ödlandes, zu denen auch Diaz, Hogarthe und Bento zählten.

»Ein prächtiger, eindrucksvoller Anblick«, sagte ich. »Reiten wir näher heran!«

»Aber mit Vorsicht«, sagte Cuwignaka. Er stieß einen Freudenschrei aus, hieb seiner Kaiila die Fersen in die Flanke und galoppierte den Hang hinab.

Grunt und ich sahen uns an und grinsten. »Er ist noch ein Kind«, sagte Grunt.

Wir folgten Cuwignaka. Etwa zur Mittagsstunde zügelten wir unsere Tiere neben ihm auf einer anderen Anhöhe. Die Tiere, die unter uns dahinzogen, waren nur noch drei oder vier Pasangs entfernt.

»Es ist die Pte!« rief Cuwignaka fröhlich und schaute zu uns zurück.

»Ja«, sagte Grunt.

Wir konnten die Tiere deutlich riechen. Mein Reittier, eine hochgewachsene schwarze Kaiila mit seidigem Fell, trippelte nervös hin und her. Sie hatte die Nüstern gebläht und die Sturmlider geschlossen, die den großen runden Augen eine gelbliche Färbung verliehen. Die Kaiila, vor einigen Wochen in der Stadt Kailiauk in der Grenzzone erstanden, hatte wohl noch nie solche Tiere gerochen, und auf keinen Fall in solcher Zahl. Staub umwallte uns, und ich mußte blinzeln. Die Nähe solcher Ungeheuer war beeindruckend. Ich wagte mir nicht vorzustellen, wie es wäre, dieser Herde noch näher zu kommen. Will man einzelne Tiere aus der Masse töten, muß man beinahe auf Berührungsnähe heran, damit die Lanze fest genug gestoßen werden kann oder der Pfeil tief genug eindringt.

»Gibt es immer soviel Staub?« fragte ich und mußte ein wenig die Stimme heben, so laut bellten die Ungeheuer und dröhnten die Hufe.

»Nein«, antwortete Cuwignaka ebenso laut. »Im Augenblick ist die Herde in Marsch und grast nicht.«

»Sie ist früh dran«, wiederholte ich.

»Ja«, sagte Grunt. »Das ist interessant. Sie muß mehr als normal in Bewegung gewesen sein.«

»Ich schaue mir die Tiere mal an«, sagte Cuwignaka.

»Sei vorsichtig!« ermahnte Grunt.

Wir schauten zu, wie Cuwignaka seine Kaiila den Hang hinabtrieb. Er würde sich nicht zu dicht an die Tiere heranbegeben, wofür es grundlegende traditionelle Gründe gab.

»Die Tiere gleichen einer Flut«, sagte ich, »einem gewaltigen Erdrutsch; sie sind wie Wind oder Donner: ein Naturereignis.«

»Ja«, sagte Grunt.

Die Bewegung dieser Herde war im Lager der Isbu-Kaiila, der Kleine-Steine-Bande des Kaiila-Stammes, seit gut zehn Tagen auf einer primitiven Karte verfolgt worden, mit eingekerbten Stöcken, deren Markierungen die Tage angaben und deren Position das Vorrücken der Tiere am fraglichen Tag darstellten. Kundschafter der Sleensoldaten, einer Kriegergemeinschaft der Isbu, behielten die Tiere im Auge, seit sie vor gut zwei Wochen Kaiila-Gebiet erreicht hatten. Es war ein Monat, in dem die Sleensoldaten im Lager die Polizeigewalt innehatten mit der Verantwortung für viele verschiedene Dinge: Kundschafterei und Wachestehen, Aufsicht im Lager und das Schlichten kleiner Streitigkeiten. Zu den anderen Pflichten der Sleensoldaten gehörten natürlich die Planung, Organisation und Überwachung der großen Wanasapi, der großen Jagd.

Wenige Ehn später zügelte Cuwignaka seine schweißbedeckte Kaiila neben uns; obwohl er schwitzte, war er bester Laune.

»Herrlich!« rief er.

»Gut«, sagte Grunt, der sich über die Begeisterung des jungen Mannes freute.

Wer diese Dinge nicht genau kennt, wird kaum begreifen, welche Bedeutung der Pte oder Kailiauk für die roten Wilden hat. Sie verehren und lieben dieses Tier, das für sie eine wichtige Rolle spielt; ein großer Teil ihres Lebens kreist darum. Der Kailiauk ist für sie mehr als Fleisch für den Magen und Kleidung für den Rücken; das Tier ist ein Mysterium und eine besondere Wesenheit; es ist überladen mit Medizin, es ist eine Gefahr, es bietet Sport, es ist eine Herausforderung – und eine Herzensfreude, wenn man es frühmorgens jagt, eine Lanze oder einen Bogen in der Hand, eine schnelle, eifrige Kaiila zwischen den Knien.

»Schaut!« sagte Grunt und deutete nach rechts.

In schnellem Galopp näherte sich ein Reiter, ein roter Wilder. Er trug Lendenschurz und Mokassins. Vor der Brust baumelte eine Kette aus Sleenklauen. Er hatte keine Federn im Haar, und weder er noch sein Tier waren bemalt. Er hatte auch keine Lanze und keinen Schild bei sich. Er war nicht in kriegerischer Absicht unterwegs, obwohl an seinem Sattel ein Bogenetui mit Köcher baumelten und an seiner Hüfte eine perlenbesetzte Scheide mit einem Tauschmesser hing.

»Das ist Hci«, sagte Cuwignaka. Es gab eigentlich keine genaue Übersetzung für den Ausdruck ›Hci‹. Am ehesten konnte man ihn noch als Scharte übersetzen, wie sie beispielsweise in der Schneide einer Axt entsteht. Im weiteren Sprachgebrauch bedeutet das Wort ›Kerbe‹, wie man sie mit einer Axt in einen Baum schlägt, oder auch ›Narbe‹. Und aus dieser Bedeutung leitet sich der Name offensichtlich her. Hcis linke Gesichtshälfte war von einer unregelmäßigen, gezackten Narbe entstellt, etwa zwei Zoll lang. Zugezogen hatte er sie sich vor mehreren Jahren, mit siebzehn, bei seinem zweiten Einsatz auf dem Kriegspfad. Ein Gelbmesserkrieger hatte sie ihm im Verlauf eines berittenen Kampfes mit einem langgriffigen Steintomahawk beigebracht. Zuvor ein zugänglicher junger Mann, hatte er auf eigenen Wunsch den Namen Hci erhalten und war mürrisch und grausam geworden. Er hatte sich auf die Kameradschaft und die Rituale und Zeremonien der Sleensoldaten geworfen und schien von nun an keinen anderen Lebensinhalt mehr zu haben als Überfälle und Kampf. Mitglieder der eigenen Gemeinschaft hatten Angst, mit ihm zu reiten, so schnell, so energisch setzte er sich ein, ungeachtet jeder Gefahr. Bei einem Kampf gegen Flieher-Krieger war er einmal von der Kaiila gesprungen und hatte die Lanze durch seine eigene, am Boden schleifende Kampfschärpe getrieben, wie seine Organisation sie zu tragen pflegte. Auf diese Weise hatte er sich praktisch inmitten der angreifenden Flieher bewegungsunfähig gemacht. »Ich gebe diesen Boden nicht preis!« hatte er gebrüllt. Die fliehenden Angehörigen seiner Kampfgemeinschaft hatten sich bei diesem Anblick ein Herz gefaßt und die Flieher angegriffen, obwohl sie zahlenmäßig unterlegen waren. Die Flieher hatten schließlich den Kampfschauplatz verlassen, da ihnen der Preis des Sieges über solche Kämpfer zu hoch erschien. Beim Abrücken hatten sie vor dem jungen Krieger grüßend die Lanzen erhoben. Ein solcher Mut findet im Ödland Anerkennung – sogar durch den Feind.

Hci zügelte seine wiehernde Kaiila in einer Staubwolke vor uns.

Die Entstellung war wirklich sehr auffällig. Der scharfe Canhpi hatte das Jochbein durchschlagen.

»Was machst du hier?« wollte Hci im Dialekt der Kaiila wissen. Nach längerem Zusammensein mit Grunt und Cuwignaka und nach meinem Aufenthalt im Isbu-Lager konnte ich den Gesprächen einigermaßen folgen. In gewissem Maß vermochte ich mich in dieser ausdrucksvollen, zischelnden Sprache selbst schon auszudrücken.

»Wir wollen uns die Pte ansehen«, antwortete Cuwignaka.

Ich blickte an Hci vorbei auf die Tiere, die zwei oder drei Pasangs entfernt vorbeizogen. Der Kailiauk ist ein großes, zottiges, trottendes, dreifach gehörntes Wandertier. Es besitzt vier Mägen und ein Herz mit acht Kammern. Es ist gefährlich und gesellig, hat kleine Augen und ein aufbrausendes Temperament. Männchen erreichen in den Schultern eine Höhe von zwanzig bis fünfundzwanzig Hand und wiegen bis zu viertausend Pfund.

»Du hast kein Recht, hier zu sein«, sagte Hci zornig.

»Wir schaden niemandem«, gab Cuwignaka zurück.

»Niemand wird bis zur großen Jagd einen Pte erlegen«, sagte Hci. »Erst dann geht es los. Die Isbu werden jagen. Die Casmu werden jagen. Ebenso die Isanna und die Napoktan und die Wismahi! Und auch die Kaiila werden erst dann jagen!«

Die Namen kennzeichneten die fünf Banden, aus denen sich der Kaiila-Stamm zusammensetzt; dabei ist die Herkunft dieser Namen nicht immer bekannt. Wahrscheinlich bezogen die Isbu oder Kleine-Steine-Bande und die Casmu oder Sand-Bande ihre Namen von geographischen Besonderheiten, wie sie sich in der Nähe bestimmter Flußlager fanden. Die Wismahi- oder Pfeilspitzen-Bande hatte ihr Winterlager angeblich am Zusammenfluß zweier Wasserläufe errichtet, einer Stelle, die der Spitze eines Pfeils ähnlich sah. Andere behaupten, die Gruppe habe früher in einer feuersteinreichen Gegend gewohnt und einen lebhaften Handel mit den benachbarten Stämmen getrieben. Die Armband-Bande, die Napoktan, tragen kupferne Bänder am linken Handgelenk. Außerhalb des Kaiila-Stammes wird diese Bande oft auch Mazahuhu-Bande genannt, das ist der Staubfuß-Name für ›Armband‹. Unbekannt ist mir, woher der Name für die Isanna kommt, die Kleine-Messer-Bande. Zuweilen leiten sich solche Bezeichnungen – wie ich es auch bei den Napoktan vermutete – von den Besonderheiten bestimmter Anführer her, vielleicht auch von einzigartigen geschichtlichen Ereignissen und vielleicht sogar von Träumen. Träume, insbesondere von wichtigen Ereignissen, werden von den roten Wilden sehr ernst genommen. Geschieht es denn nicht in den Träumen, daß man sogar die eigentliche Medizinwelt betreten darf? Stimmt es nicht, daß man in Träumen an den Feuern der Toten sitzen und mit ihnen sprechen kann? Und ist es nicht so, daß man im Traum sogar die Sprache der Tiere verstehen kann? Und sich plötzlich in fernen Ländern wiederfindet, Monde entfernt, nur um dann in der eigenen Unterkunft wieder zu erwachen, vor der eigenen Feuersglut, im Schutz der eigenen Zeltstangen und Häute ringsum?

»Wir sind hier, um uns die Pte anzusehen«, sagte Cuwignaka, »nicht um zu jagen.«

»Das ist gut für dich«, antwortete Hci ärgerlich, »denn du weißt, welche Strafen auf unerlaubtes Jagen stehen.«

Cuwignaka ließ sich zu einer Antwort nicht herab. Gewiß, die Strafen waren nicht von der Hand zu weisen. Man konnte öffentlich entehrt und sogar verprügelt werden. Man konnte seine Waffen verlieren, ebenso Kleidung und sonstiges Eigentum. Nach Auffassung der roten Wilden geht das Wohl des Ganzen, des Stammes, dem Wohlergehen des einzelnen unbedingt vor. In den Augen der roten Wilden steht das Recht, die Gemeinschaft zu gefährden und zu beschränken, nicht dem Individuum zu.

»Verschwinde!« sagte Hci und schwenkte ärgerlich den Arm.

Cuwignaka erstarrte auf dem Rücken seiner Kaiila.

»Das ist ein Befehl«, sagte Grunt auf Goreanisch zu Cuwignaka. »Und er hat die Macht, ihn durchzusetzen. Er ist ein Sleensoldat, und es gehört zu seinen Aufgaben, den Kailiauk aufzuspüren und zu beschützen. Du darfst nichts Persönliches darin sehen. Er tut als Sleensoldat nur seine Pflicht. An seiner Stelle würdest du sicher ähnlich handeln.«

Cuwignaka nickte.

Wir zogen die Kaiila herum, um uns zu entfernen.

»Frauen, Sklaven und Weiße dürfen nicht zu den Pte reiten, auch nicht um sie nur anzuschauen!« rief Hci hinter uns her.

Cuwignaka wendete aufgebracht seine Kaiila. Ich folgte seinem Beispiel und hielt ihn am Arm fest.

»Ich bin keine Frau!« sagte Cuwignaka.

Hci lachte. »O doch!« rief er. »Du solltest Kriegern zu Gefallen sein!«

»Ich bin keine Frau!«

»Du trägst keinen Lendenschurz«, sagte Hci. »Du bist nicht mit auf den Kriegspfad gekommen.«

»Ich hatte keine Händel mit den Fliegern!«

»Du bist bei den Isbu nicht willkommen. Du trägst das Kleid einer Frau und tust Frauenarbeit. Ich glaube, ich werde dir einen Frauennamen geben, ich werde dich Siptopto nennen.«

Cuwignakas Fäuste ballten sich um die Zügel seiner Kaiila. ›Siptopto‹ ist eine allgemein gebräuchliche Bezeichnung für Perlen.

»Ich bin ein Isbu«, sagte Cuwignaka. »Ich bin ein Isbu-Kaiila!«

Mit festem Griff verhinderte ich, daß Cuwignaka den anderen angriff.

»Man hätte dich angepflockt liegen lassen sollen«, sagte Hci. »Das wäre für die Kaiila besser gewesen.«

Cuwignaka zuckte die Achseln. »Mag sein«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«

Cuwignaka trug die Überreste eines weißen Kleides, das aus der Beute eines vernichteten Wagenzuges stammte. Als Sklave hatte er Soldaten gedient, die die Wagen begleiteten. Ursprünglich ein Isbu-Kaiila, hatte er sich zweimal geweigert, gegen die Flieher, Erbfeinde der Kaiila, in den Kampf zu ziehen. Nach dem erstenmal hatte man ihn in Frauenkleider gesteckt, ihn Frauenarbeit tun lassen und ihm den Namen Cuwignaka – ›Frauenkleid‹ – gegeben. Nach seiner zweiten Kampfweigerung war Cuwignaka gefesselt in der Ihanke, in der Grenzzone zwischen dem Ödland und den Ländereien der Bauern und Viehzüchter, an Weiße verkauft worden. In der Grenzzone hatte er die goreanische Sprache erlernt. Später wurde er von Soldaten gekauft und als Dolmetscher ins Ödland mitgenommen, zurück in seine ehemalige Heimat. Nach der Vernichtung des Wagenzuges war er den Siegern in die Hände gefallen. Unerhörte Vergehen wurden ihm zur Last gelegt: Er war ins Ödland zurückgekehrt, er war Sklave des verhaßten Feindes gewesen. Die Folge war, daß man ihn am Boden festpflockte. Er sollte sterben. Eine unzerbrochene Lanze wurde mit der Spitze nach oben neben ihm in den Boden gestoßen – eine Art Respektbezeigung durch Cuwignakas Bruder Canka, Feuerstahl. Canka hatte auch das Kleid aufgehoben, das Hci verächtlich neben ihn auf den Boden geworfen hatte, und es um die Lanze gewickelt. Auf diese Weise hatte Canka die Stelle wie mit einer Fahne auffällig markiert.

Ich war der Ansicht, daß Canka damit die Aufmerksamkeit auf seinen Bruder hatte lenken wollen, damit er befreit würde; vielleicht wollte er auch selbst später zurückkommen, um seinen Bruder loszubinden, obwohl das auch für ihn ein Leben als Geächteter bedeutet hätte. Wie es sich ergab, waren Grunt und ich, die durch das Ödland reisten, auf den Jungen gestoßen und hatten ihn befreit. Kurze Zeit später wurden wir von einer seltsamen Gruppe von Verbündeten gefangengenommen – Angehörige der Sleen, Gelbmesser und Kaiila, die sich im Angedenken an die Große Erinnerung, wie sie genannt wurde, zum Angriff auf den Wagenzug und die Soldaten zusammengetan hatten.

Grunt hatte eine Kette weißer Sklavinnen als Packtiere und Tauschware ins Ödland gebracht. Er hatte außerdem zwei Gefangene gemacht, zwei frühere Feinde, Max und Kyle Hobart, eigentlich Geschenke von Kriegern des Staubfuß-Stammes. Die Sleen nahmen neben den Hobarts zwei seiner Mädchen als Beute, Ginger und Evelyn, ehemalige Tavernenmädchen aus der Ihankenstadt Kailiauk. Vier weitere Mädchen wurden von einem Krieger der Gelben Messer fortgeführt, zwei Amerikanerinnen, Lois und Inez, eine Engländerin namens Priscilla und Corinna, eine kleine dunkelhaarige Französin.

Die Kaiila-Krieger hatten vorwiegend der Kriegergemeinschaft der Kampfgefährten angehört, vergleichbar den Sleensoldaten der Isbu-Kaiila. Sie standen unter dem Befehl Cankas, der Cuwignakas Bruder war. Zu der Gruppe hatte ein weiterer Mann gehört, ein älterer Krieger mit Namen Kahintokapa, Mann-der-vorausgeht, ein Angehöriger der berühmten Kaiila-Reiter. Er gehörte zu den Casmu, der Sand-Bande.

Grunts wertvollstes Gut an der Kette, eine wunderschöne Rothaarige, eine ehemalige Debütantin aus Pennsylvanien mit dem Erdennamen Millicent Aubrey-Welles, wurde von Canka als persönliche Sklavin erwählt. Seine letzte Sklavin durfte Grunt behalten, die dunkelhaarige Schönheit Wasnapohdi oder Pickel, die er gegen drei Beile von Staubfuß-Kriegern eingetauscht hatte. Daraus schloß ich, daß Canka uns im Grunde nichts Böses wollte. So wie ich die Lage heute beurteilte, freute er sich wahrscheinlich, daß wir Cuwignaka befreit hatten. Vielleicht hatte er Wasnapohdi auch bei Grunt gelassen, weil sie den Kaiila-Dialekt fließend beherrschte. Das hatte ihn sicher beeindruckt.

»Sklave«, sagte Hci und musterte mich verächtlich.

Ich begegnete seinem Blick nicht. Natürlich hatte ich Cuwignaka losgebunden. Mein Messer hatte die Fesseln durchtrennt, ein Umstand, den Canka als Blotanhunka, als Führer dieser Kriegergruppe, nicht hatte übersehen können. Unabhängig von seiner eigenen Einstellung in dieser Sache konnte er diese Tat nicht durchgehen lassen. Ein Gefangener der Kaiila war befreit worden. Dafür mußte jemand büßen. Ich hatte diesen Preis bezahlt, indem ich mich in die Sklaverei der roten Krieger begab.

»Weiße Männer!« rief Hci verächtlich und deutete auf mich und Grunt.

»Ja«, sagte Grunt freundlich.

»Wie kommt es«, wandte sich Hci an Cuwignaka, »daß ein Sklave Mokassins trägt und eine Kaiila reitet?«

»Canka hat das erlaubt«, sagte Cuwignaka.

»Steig ab!« forderte mich Hci auf. »Zieh deine Mokassins aus, entledige dich deiner Kleidung.«

»Er ist nicht dein Sklave!« rief Cuwignaka.

»Auch nicht deiner«, erwiderte Hci.

Ich stieg ab, entkleidete mich und zog auch die Mokassins aus, die Canka mir gegeben hatte. So stand ich vor Hcis Kaiila und trug nichts anderes als den perlenbesetzten Lederkragen, der mir vor etwa zwei Wochen umgelegt worden war. Das Muster der Perlen wies mich als Cankas Eigentum aus; in den letzten Tagen hatte ich erfahren müssen, daß dies alles in allem von Vorteil war. Canka war ein angesehener, bedeutender junger Krieger; bei der kürzlichen Aktion im Westen hatte er sogar als Blotanhunka der Kampfgefährten gewirkt. Dies verlieh mir ein gewisses Prestige, zumal mich Canka selbst offenkundig mit Respekt behandelte. Er nannte mich Tantankasa, Roter Bulle, aus Sicht der Kaiila ein ehrenvoller Name. Er gab mir Mokassins und ließ mich bekleidet gehen. Er hatte mir sogar den Gebrauch meiner ehemaligen Kaiila zugestanden. Ich brauchte nicht in seinem Bau zu wohnen, sondern blieb bei Cuwignaka in einem heruntergekommenen Lederzelt. In gewisser Weise konnte ich mich im Dorf frei bewegen.

»Knie nieder!« befahl Hci verächtlich.

Ich gehorchte.

»Neig den Kopf zur Erde!«

»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte Cuwignaka.

»Halt den Mund, Siptopto!« sagte Hci. »Sonst befehle ich dir, Männern zu Gefallen zu sein.«

»Ich habe keine Angst vor dir!« rief Cuwignaka.

»Du sprichst kühn für eine Frau«, sagte Hci.

»Ich bin ein Mann«, gab Cuwignaka zurück. »Und was ihn betrifft, da werde ich Canka Bescheid sagen.«

»Ja, sorg dafür!« sagte Hci ärgerlich und wendete seine Kaiila. Der von den Hufen aufwirbelnde Staub stieg mir in Mund und Nase. »Und jetzt verschwindet von hier, zurück ins Lager!« Anscheinend herrschte keine große Sympathie zwischen Hci und Canka. Wahrscheinlich sah Hci in Canka den Verantwortlichen dafür, daß Cuwignaka frei war und sich dem Stamm angeschlossen hatte, was viele Isbu, so auch Hci, ärgerlich und beschämend fanden. Indem er mich erniedrigte, einen Sklaven, den Canka respektvoll behandelte, rächte er sich gewissermaßen an Canka. Canka seinerseits mochte Hci nicht sehr, vor allem wegen dessen Feindseligkeit gegenüber seinem Bruder Cuwignaka. In Cankas Augen war Hcis Verachtung gegenüber Cuwignaka extremer und starrer, als angebracht schien. Cuwignaka lebte und kleidete sich wie eine Frau, er mußte Frauenarbeit tun und durfte keine Kinder zeugen. Was wollte Hci darüber hinaus?

Ich vermutete, daß es um mehr ging als um Hcis Stammesstolz und Sinn für das Angemessene. Canka war ein schnell aufsteigender junger Krieger im Stamm. Schon hatte er als Blotanhunka einer Kriegergruppe gewirkt. Obwohl Hci geschickt und mutig war, hatte er diese Ehre noch nicht empfangen. Dies mochte Hci um so mehr gekränkt haben, als er der Sohn Mahpiyasapas war, des Zivilhäuptlings der Isbu. Einem Mann seiner Position hätte ein solcher Auftrag eher zufallen müssen – statt dessen wurde er ihm verwehrt. Der Grund, warum Hci noch keine Kriegergruppe hatte befehligen dürfen, sah ich nicht darin, daß man ihn bei den Isbu nicht bewunderte oder mochte oder daß seine Fähigkeiten bei der Spurensuche und im Kampf nicht angesehen waren, sondern in dem Umstand, daß man seinem Urteil nicht traute. Die Unbesonnenheit, mit der er auftrat, und seine Mißachtung persönlicher Gefahr sprachen nicht gerade für seine Fähigkeit, als Anführer verantwortungsvoll zu handeln.

Übrigens hatte ich nicht das Gefühl, daß Hcis Feindseligkeit gegenüber Canka mit der hübschen weißhäutigen, rothaarigen Sklavin Winyela zu tun hatte, die Canka als Beute für sich beansprucht hatte, der ehemaligen Millicent Aubrey-Welles, die Grunt für Hcis Vater Mahpiyasapa ins Ödland gebracht hatte. Hci brauchte solche Sklavinnen nicht; er versorgte sich anderweitig. Mahpiyasapa dagegen war sehr erzürnt gewesen, daß Canka seine Kriegsrechte gegenüber dem Mädchen durchgesetzt hatte, obwohl er von ihrer vorgesehenen Bestimmung unterrichtet worden war. Mahpiyasapa war, wie erwähnt, Zivilhäuptling der Isbu.

Bei den roten Wilden gibt es verschiedene Häuptlinge, vor allem den Kriegshäuptling, den Medizinhäuptling und den Zivilhäuptling. Interessanterweise kann man niemals mehr als ein Häuptling gleichzeitig sein. Diese Bestimmung gehört wie der regelmäßige Wechsel der Polizeimacht zwischen Kriegergruppen zu den Sicherungsventilen der Stammesregierung. Ausgleichend wirkten auch andere Dinge wie Traditionen und Gebräuche, die Nähe zwischen Regierenden und Regierten, die vielschichtigen Beziehungen zwischen Familien, die Häuptlingswahlen, die Abhängigkeit von Ratsbeschlüssen bei wichtigen Angelegenheiten und schließlich die Möglichkeit, den Stamm in größeren oder kleineren Zahlen verlassen zu können. Wegen aller dieser Institutionen ist Despotismus bei den roten Wilden nicht zu finden; er ist unpraktisch, und dieser Umstand ist eine viel sicherere Garantie gegen sein Auftreten als jede noch so laute negative Rhetorik.

»Geh!« befahl Hci.

»Gibst du mir diesen Befehl als Hci oder als Sleensoldat?« fragte Cuwignaka ärgerlich.

»Geh!« sagte Hci drohend.

»Ich gehorche dir als Sleensoldat«, sagte Cuwignaka. »Ich werde gehen.«

»Wenn die Jagd beginnt«, sagte Hci zu Cuwignaka, »darfst du nicht daran teilnehmen. Du wirst mit den Frauen Fleisch schneiden.«

»Das ist mir bekannt.«

»Denn du bist eine Frau!« rief Hci spöttisch.

»Nein, ein Mann!«

»Hübsch ist sie ja, nicht wahr?« wandte sich Hci an Grunt.

Dieser antwortete nicht.

»Wenn sie dir nicht zu Gefallen ist«, sagte Hci zu Grunt, »mußt du sie schlagen wie jede andere Frau.« Brüsk zog er sein Reittier herum. Die Kaiila-Pfoten trommelten gegen den Boden, ein Geräusch, das schnell leiser wurde.

»Verfolge ihn nicht!« sagte Grunt zu Cuwignaka.

»Ich bin ein Mann«, sagte Cuwignaka ärgerlich. »Ich muß gegen ihn kämpfen!«

»Nein«, sagte Grunt. »Das wäre nicht klug. Er ist einer der besten Krieger der Isbu.«

»Steh auf, Mitakola!« sagte Cuwignaka zu mir. »Er ist fort.«

Ich erhob mich und wischte mir mit dem rechten Unterarm über das Gesicht. Grunt reichte mir Kleidung und Mokassins, die ich anlegte. Anschließend stieg ich wieder auf meine Kaiila.

»Hast du keine Lust, ihn zu töten?« fragte mich Cuwignaka verbittert.

Ich zuckte die Achseln. »Mit seiner Attacke meinte er nicht mich«, sagte ich, »sondern Canka.«

»Am liebsten würde ich ihn umbringen«, sagte Cuwignaka.

»Nein, das willst du nicht«, widersprach Grunt. »Er gehört den Isbu an, deiner eigenen Bande.«

»Mögen muß ich ihn aber nicht«, sagte Cuwignaka und begann plötzlich zu lachen.

»Das stimmt«, antwortete Grunt lächelnd.

Ich blickte Hci nach, der mir ein von Gefühlen aufgeputschter, verbitterter junger Mann geworden zu sein schien – eine Entwicklung, die vermutlich mit der Narbe ihren Anfang genommen hatte. Seit jener Zeit schien er für kaum etwas anderes zu leben als für das Töten und die Rache – nicht nur gegen Gelbmesser, sondern gegen jeden Feind oder angeblichen Feind des Kaiila-Stammes.

»Verrückt ist er«, sagte Cuwignaka.

»Ich halte ihn für verbittert«, sagte ich.

Hcis Reaktion auf seine Entstellung fand ich interessant. Viele Krieger hätten sich wegen einer solchen Narbe kaum Gedanken gemacht, zumal sie davon nicht wesentlich behindert worden wären. Andere hätten darin ein willkommenes Symbol für ihren Mut gesehen, ein klares Zeichen für ihren Einsatz im Nahkampf. Andere hätte die Narbe als wilde, brutale Steigerung ihres Äußeren empfunden. Nicht aber Hci. Wie so mancher rote Wilde war er ziemlich eitel gewesen, was sogar dazu führt, daß manche junge Männer ihr Haar fetten und zu Zöpfen flechten und im Lager vor Stammesgenossen stolz herumreiten – wobei es ihnen natürlich besonders um die Mädchen geht. Für Hci kam es nicht mehr in Frage, sich, seine Kaiila und seine tadellos gepflegte Ausrüstung im Lager zur Schau zu stellen. Das Canhpi des Gelbmessers hatte mehr getan, als nur Fleisch und Knochen zu treffen; die Klinge hatte irgendwie auch seine Eitelkeit, seinen Stolz getroffen. Er war gutaussehend gewesen und hatte als Sohn des Zivilhäuptlings Mahpiyasapa eine hohe Position im Stamm innegehabt. In einem einzigen blutigen Augenblick war dies alles zerstört worden. Auch sein Umgang mit den Mädchen hatte sich verändert; schon lange kam Hci nicht mehr zu ihren Unterkünften und spielte dort die Liebesflöte. Gleichwohl gab es viele Mädchen, denen seine Narbe nichts ausgemacht hätte, die sie eher reizvoll fanden.

»Beunruhige dich nicht wegen Hci!« sagte Grunt zu Cuwignaka. »Dein Bruder Canka hat schon Schwierigkeiten genug mit Mahpiyasapa.«

»Du hast recht«, sagte Cuwignaka.

Ich dachte an die schlanke rothaarige Winyela, die ehemalige Debütantin aus Pennsylvanien, jetzt Cankas Sklavin. Grunt hatte sie an Mahpiyasapa verkaufen wollen, der sich für rothaarige Frauen interessierte; der Preis war auf fünf Felle des gelben Kailiauk festgesetzt gewesen.

Cuwignaka und Grunt und ich wandten uns schließlich wieder den Pte zu.

»Die Herde scheint kein Ende zu nehmen«, sagte ich.

»Ein prächtiger Anblick!« rief Cuwignaka.

»Ja«, sagte Grunt. »Prächtig!« Grunt, stämmig gebaut, rundlich und muskulös, trug noch immer den breitkrempigen Hut, an den ich mich gut erinnerte; ich hatte ihn überhaupt noch nie ohne diese Kopfbekleidung gesehen.

»Wir müssen reiten«, sagte Cuwignaka. »Wir müssen ins Lager zurück.«

Wieder schaute ich in die Richtung, in der Hci verschwunden war. Den Mann, der ihm die Narbe beibrachte, hatte er getötet.

»Prächtige Tiere!« rief Cuwignaka, wendete seine Kaiila und ritt den flachen Hang hinab, in Richtung Lager.

Grunt und ich verhielten noch einen Augenblick lang auf der Anhöhe und beobachteten das eindrucksvolle Schauspiel in der Ferne.

»Bist du sicher?« fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Das ist die Bento-Herde.«

»Sie ist früh dran«, wiederholte ich.

»Ja.«

»Warum?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er.

Dann trieben auch wir unsere Kaiila an und folgten Cuwignaka zum Lager.

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