15

»Wo ist Grunt?« rief ich.

Erschrocken hob Wasnapohdi den Kopf. Sie kniete in dem Zelt, das Mahpiyasapa seinem Freund Grunt zur Verfügung gestellt hatte.

»Er ist nicht hier«, antwortete sie.

»Wo steckt er?«

»Ich weiß es nicht!« rief sie und schien verängstigt zu sein. »Hast du schon gehört, was Canka getan haben soll?«

»Ja, aber ich glaube es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte sie. »So etwas ist unmöglich.«

»Warum bist du allein im Zelt? Warum arbeitest du nicht?«

»Ich verstecke mich.«

»Du brauchst keine Angst zu haben. Cankas Probleme haben mit dir nichts zu tun.«

»Nicht deswegen habe ich Angst.«

»Hast du eine Ahnung, wo Grunt sein könnte?«

»Vielleicht bei Mahpiyasapa. Er hat das Zelt verlassen, nachdem er von Cankas angeblichem Anschlag erfahren hatte.«

»Das ist ein guter Gedanke!« rief ich. »Ich gehe zu Mahpiyasapas Zelt!« Als ich mich schon zum Gehen wandte, fuhr ich noch einmal zu dem Mädchen herum. »Warum versteckst du dich?«

»Ich habe ihn gesehen!« flüsterte sie.

»Canka?« fragte ich überrascht.

»Nein. Waiyeyeca, Mann-der-viel-findet, meinen früheren Herrn!«

»Du hast schon im Besitz mehrerer Herren gestanden«, sagte ich.

»Ich habe dir von ihm erzählt, als wir uns kennenlernten, kurz nachdem mich mein Herr Grunt am Tauschpunkt erstanden hatte.«

»Der Junge?« fragte ich.

»Ja.«

»Ich erinnere mich.« Vor langer Zeit, an einer Handelsstelle der Staubfüße, hatte Grunt Wasnapohdi gegen drei gute Äxte eingetauscht. Bei unseren anschließenden Gesprächen hatte sie mir einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Sie war in einem Waniyanpi-Lager der Kailiauk geboren und später von einem Kaiila-Krieger gekauft worden – im Alter von acht Jahren. Der Mann hatte sie mit nach Hause genommen und seinem zehnjährigen Sohn als Sklavin überlassen. So hatte sie es früh gelernt, Männern zu dienen und sie zu beruhigen. Als Kinder waren die beiden aber noch eher Spielgefährten gewesen, ehe sie ihre wahre Beziehung zueinander entdeckten.

Wasnapohdi senkte zitternd den Kopf.

Der junge Herr und seine Sklavin hatten sich damals wohl sehr geliebt. Seine Zuneigung zu dem Mädchen, die nur eine Sklavin war, hatte ihm von seinesgleichen viel Spott eingetragen – und in diesem Punkt sind rote Krieger sehr empfindlich. So hatte er sie schließlich, vermutlich gegen das eigene Gefühl, verkauft, wonach sie mehrere Herren gehabt hatte. Schließlich war sie, wie erwähnt, von Grunt gekauft worden.

»Er heißt Waiyeyeca?« fragte ich.

»Ja.«

»Aus welcher Bande?«

»Napoktan, die Armbandbande.«

»Aha.« Das Gebiet dieser Krieger liegt ungefähr nordwestlich des Kaiila-Flusses, im Norden seiner nördlichen Abzweigung, allerdings östlich des Schlangenflusses. Napoktankrieger tragen im allgemeinen zwei Kupferbänder am linken Unterarm.

»Hat er dich gesehen?« wollte ich wissen.

»Nein.«

»Liebst du ihn noch immer?«

»Ich weiß es nicht. Schließlich ist das alles lange her, viele Jahre. Er hat mich verkauft!«

»Und warum versteckst du dich?«

»Ich habe Angst, daß er mich sieht. Er hat mich verkauft, obwohl ich ihn liebte! Ich möchte diese alten Wunden nicht wieder aufreißen!«

»Unsinn!« sagte ich. »Du suchst nur nach einem Vorwand, deine Arbeit liegenzulassen. Was hatte Grunt dir aufgetragen?«

»Ich sollte seine Waren säubern«, antwortete sie.

»Im Zelt oder draußen?«

»Wahrscheinlich draußen, damit ich besser sehe, was ich tue.«

»Dann geh nach draußen und befolge den Befehl!«

Ich stand auf und eilte weiter. Ich wollte Grunt finden, um ihn nach der Bedeutung der von Oiputake erhaltenen Informationen über die Identität der Gelbmesser zu befragen.

»Tatankasa!« rief ein kleiner Junge. »Wirf mir den Ring! Wirf mir den Ring!«

»Hast du den Händler Wopeton gesehen?« fragte ich.

»Nein. Aber wirf mir den Ring!«

»Verzeih mir, kleiner Herr«, sagte ich. »Aber ich habe Dringendes zu tun.«

»Na schön.«

Im Eilschritt näherte ich mich dem Zelt Mahpiyasapas.

»Halt!« rief ein junger Mann.

Ich blieb stehen und sank vor dem Rufer auf die Knie. Es war der leitende Bewacher der Sklavinnen, aus deren Mitte ich mir das blonde Mädchen herausgesucht hatte – bevollmächtigt durch die perlenbesetzte Peitsche.

»Sei gegrüßt«, sagte er.

»Sei gegrüßt, Herr.«

»Die blonde Sklavin, die du dir nahmst«, sagte er, »ist nicht mehr bei der Herde. Sie wurde verschenkt, und ihr neuer Herr ist angeblich sehr zufrieden mit ihr. Anscheinend dient sie ihm jetzt als wertvolle Sklavin in seinem kleinen Zelt.«

»Das ist eine gute Nachricht, Herr«, sagte ich.

»Diesen Aufstieg hat sie bestimmt dir zu verdanken«, sagte der junge Mann. »Du hast das Eis in ihrem Bauch schmelzen lassen. Du hast sie zu einer Frau gemacht, die die Männer braucht.«

»Danke, Herr.«

»Sie hat den Namen Oiputake erhalten.«

»Ja, Herr«, sagte ich und fügte plötzlich hinzu: »Herr?«

»Ja?«

»Warum bist du im Lager – ich meine, warum ausgerechnet um diese Tageszeit?«

»Die Mädchen sind ins Lager geholt worden«, sagte er, »an den Rand der Siedlung.«

»Und die Wächter und Tierherden?«

»Wurden ebenfalls ins Lager geholt.«

»Warum?«

»Watonka hat das alles angeordnet«, antwortete der junge Mann.

»Somit ist die Westgrenze des Lagers unbewacht«, sagte ich. Die Isanna waren für die Sicherheit des Außenbezirks verantwortlich.

»Keine Sorge«, sagte der Junge, »wir haben die Zeit der Feste.«

»Hast du den Händler Wopeton gesehen?« fragte ich.

»Nein.«

»Darf ich gehen?«

»Aber ja doch«, sagte der junge Mann verwirrt.

Ich sprang auf und setzte meinen eiligen Weg zu Mahpiyasapas Zelt fort. Dabei kam ich bis auf hundert Meter an das große Tanzzelt heran, das aus hoch aufragenden Astmauern bestand. Drinnen befand sich der Stamm, drinnen tanzten die jungen Krieger, angemalt und herausgeputzt.


»Mahpiyasapa ist nicht hier«, sagte die Frau, die in der Nähe seines Zeltes kniete – eine seiner Ehefrauen. Ihre knochigen Finger umklammerten ein Gerbmesser. Sie schärfte das Gerät auf einem Stein. Das Messer wies sechs Punkte auf, die anzeigten, das es schon sechs Jahre in Gebrauch war. Zwei Finger waren am ersten Gelenk abgeschnitten: sie hatte zwei Söhne verloren.

»Weißt du, wo er ist?« fragte ich.

»Nein.«

»Danke, Herrin.« Ich stand auf und trat zurück. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte, an wen ich mich noch wenden konnte.

»Warum sollte er nicht im Rat sein?« fragte sie, ohne den Kopf zu heben.

»Natürlich!« rief ich. »Sei bedankt, Herrin!«

»Es wird dir nichts nützen«, meinte sie. »Du kannst ihn nicht sprechen, wenn er dort ist. Das ist nicht gestattet.«

»Eigentlich suche ich ja Wopeton. Könnte der auch im Rat sein?«

»Möglich ist es«, sagte sie achselzuckend, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

»Vielen Dank, Herrin, du bist sehr freundlich zu mir gewesen.«

»Wenn er im Rat ist, wirst du ihn ebensowenig sprechen können.«

Ich wandte mich ab und eilte weiter. Sie hatte mir sehr weitergeholfen. Stets daran denkend, daß dies der Tag des großen Tanzes war – vermutlich wegen Cuwignakas großer Vorfreude darauf – und daß die von Oiputake erhaltenen Informationen wirklich Schlimmes verhießen, hatte ich völlig vergessen, daß heute auch der Friedensrat stattfinden sollte, ein Tag, der zumindest ansatzweise die Ratifikation eines Friedensvertrages zwischen den Gelbmessern und den Kaiila bringen sollte. Mit schnellen Schritten näherte ich mich dem Ratszelt. Ich wußte nicht, ob ich Mahpiyasapa aus dem Rat würde rufen können, oder ob dies überhaupt ratsam war, doch ich war zuversichtlich, daß ich irgendwie an Grunt herankommen könnte, wenn er sich dort befand.


Grob stießen mich die beiden Krieger zurück. »Knie nieder!« fauchte einer.

Hastig gehorchte ich. Blanker Messerstahl funkelte.

»Verzeiht, ihr Herren«, sagte ich. »Ich muß unbedingt Wopeton sprechen.«

»Er ist nicht drinnen«, sagte ein Krieger.

»Dann gebt bitte weiter, daß ich dringend mit Mahpiyasapa sprechen muß!«

»Mahpiyasapa ist ebenfalls nicht im Bau«, sagte der Krieger.

»Keiner der beiden?«

»Nein.«

»Verzeiht, ihr Herren.«

»Vielleicht kommen sie später noch«, meinte einer der Wächter. »Die Ratsversammlung hat noch nicht begonnen.«

»Ja, ihr Herren«, sagte ich. »Vielen Dank, ihr Herren.« Auf den Knien kroch ich ein Stück zurück und behielt dabei die Messer im Auge. Dann stand ich auf und entfernte mich rückwärtsgehend. Die Wächter steckten die Messer fort und kehrten an ihren Posten vor dem Eingang des großen Zeltes zurück. Mit verschränkten Armen standen sie da. Die Stützstangen des Baus waren etwa fünfzig Fuß lang und von über hundert Kailiaukhäuten bedeckt.

Ich sah mich um. Wieder wußte ich nicht, was ich tun sollte. Am besten wartete ich wohl ab, bis Grunt oder Mahpiyasapa auftauchte. Ich hätte angenommen, daß sie sich längst im Inneren des Ratszeltes befanden. Die Versammlung mußte bald beginnen.

»Sklave«, sagte ein Mann, der einige Meter entfernt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden hockte.

Ich folgte seinem Winken, und er deutete auf eine Stelle neben sich. Ich kam der Aufforderung nach und kniete mich nieder. Er schliff einen Stein, der ein Hammerkopf werden sollte. Dabei wird eine angefeuchtete Lederschnur immer wieder geduldig über die harte Fläche gezogen. Ich schaute dem Mann bei der Arbeit zu. »Heute«, sagte er, »wird der Rat auf die Stimme Mahpiyasapas verzichten müssen.«

»Warum wird der Rat auf seine Stimme verzichten müssen?«

»Heute«, sagte der Mann und zog die Lederschnur über den Stein, »ist Mahpiyasapa in Trauer. Er hat das Dorf verlassen, um sich zu reinigen.«

»Warum sollte er in Trauer sein?« wollte ich wissen. Die Auskunft, daß er nicht im Lager sei, behagte mir ganz und gar nicht.

»Ich glaube, es hat damit zu tun, daß Canka ihn umbringen wollte«, antwortete der Mann und beobachtete das Hin und Her des Lederbandes.

»Oh«, sagte ich. Ich kannte diesen Mann nicht und sah daher keine Veranlassung, ihm meinen Verdacht über die wahren Ereignisse um den fehlenden Pfeil zu eröffnen.

»Du bist doch Cankas Sklave, nicht wahr?« fragte der Mann.

»Ja.«

»Und du wurdest nicht gefangengenommen oder getötet.«

»Nein.«

»Interessant«, sagte er und tauchte die Schnur in Wasser und anschließend in Sand.

Ich war überzeugt, daß Mahpiyasapas Kummer von Hcis verräterischem Verhalten herrührte und nicht von einem angeblichen Verrat Cankas. Ähnliche Gedanken, das ahnte ich, bewegten den Mann, der seine Worte an mich richtete. Er war kein Dummkopf. In seiner Beschämung und Trauer war Mahpiyasapa nicht in die Ratsversammlung gegangen. Vielleicht hatte er das Gefühl, seinen Genossen nicht gegenübertreten zu können. In der Enge eines Schwitzzeltes, mit Fasten und Dampf und heißen Steinen, würde er versuchen, die Ereignisse zu verarbeiten. Anschließend mochte er einen einsamen Ort aufsuchen, um einen Traum oder eine Vision zu empfangen, die ihm den weiteren Weg aufzeigte.

»Herr«, sagte ich.

»Ja?«

»Ist dir bekannt, ob Wopeton Mahpiyasapa begleitet hat?«

»Das nehme ich an«, antwortete der Mann, der vermutlich schon mehr als zwei Tage an seinem Stein arbeitete: Ich sah die Anfänge der Kerbe an der Oberfläche entstehen.

»Vielen Dank, Herr«, sagte ich.

»Und das ist ebenfalls interessant«, sagte der Mann.

»Ja, Herr.« Die Steine, die für ein Schwitzzelt bestimmt sind, werden in einem außerhalb befindlichen Feuer angeheizt und auf Stöcken ins Innere getragen, wo sie, mit Wasser übergossen, Dampf und Hitze erzeugen. Kühlt sich ein Stein wieder ab, wird er neu aufgeheizt. Dieser Teil der Arbeit wird im allgemeinen nicht von dem oder den Insassen des Zeltes verrichtet, sondern von einem Helfer. Ich war ziemlich sicher, daß Grunt seinem Freund Mahpiyasapa entsprechend aushalf, der in seiner Schande und Betrübtheit Mitglieder seines Stammes nicht um sich haben wollte.

Ich rutschte ein Stück auf den Knien rückwärts, stand auf und wandte mich von dem Mann ab, der geduldig an seinem Stein arbeitete. Einen letzten Blick warf ich auf das riesige Ratszelt. Die beiden Wächter standen noch immer vor dem Eingang. Verschiedene Männer gingen zwischen ihnen hindurch und betraten den Bau. Bei einer solchen Versammlung wurden natürlich nicht nur die Zivilhäuptlinge der verschiedenen Kaiila-Banden erwartet, sondern auch ihre führenden Männer, die Räte der einzelnen Gruppierungen sowie hochangesehene Krieger und andere weise Berater. Versammlungen dieser Art standen allen Stammesangehörigen offen, die schon etwas geleistet hatten. So würde sich in jenem Zelt an diesem Nachmittag die Elite der Kaiila-Nation versammeln, gewissermaßen die Aristokratie. Wie absurd erschienen mir angesichts dieser Entwicklung meine Verdächtigungen und Ängste! Wo so zahlreiche kluge Männer zusammentraten, konnte gewiß nichts schiefgehen. Wer war ich schon, ein ignoranter Sklave aus dem Stamm, mich in die Angelegenheiten dieser Persönlichkeiten zu mischen? Oiputake mußte sich geirrt haben! Die Gelbmesser, die sich im Lager aufhielten, konnten unmöglich Kriegshäuptlinge sein. Das ergäbe keinen Sinn!

Ich entfernte mich aus der Nähe des Ratszeltes.

»Wo ist Watonka?« hörte ich einen Mann fragen.

»Er ist noch nicht eingetroffen«, antwortete jemand.

»Macht er Medizin für die Versammlung?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er wartet darauf, daß der Schatten schrumpft«, meinte ein Dritter. »Dann erst kommt er zur Versammlung.«

Ohne recht zu wissen, warum, machte ich mich auf den Weg zu den Isanna-Zelten.

Mit verschränkten Armen standen die drei Männer in der Nähe Watonkas, der sich auf eine kleine Anhöhe unweit der Isanna-Zelte begeben hatte. Ich war sicher, daß es sich um Gelbmesser handelte. Nicht daß sie sich auf den ersten Blick von den Kaiila-Kriegern unterschieden. Vielmehr schienen sie im Gesamteindruck anders zu sein, zweifellos das Zusammenwirken zahlreicher kleiner Einzelheiten – vielleicht die Anordnung der Perlenbestickung ihrer Kleidung, die Art und Weise, wie gewisse Ornamente geschnitzt waren, die Einkerbung ihrer Ärmel, die Art der Beinbefransung, die Bindung der Federn im Haar, Schnitt und Stil der Mokassins. Dieser Männer waren keine Kaiila. Sie waren Fremde. Starr und ausdruckslos standen sie da. Watonka schaute in südöstlicher Richtung zum Himmel empor. Zu seinen Füßen steckte ein dünner Stock im Boden. Ringsum waren zwei Kreise in den Staub gezeichnet, ein kleiner und ein großer. Am Morgen, wenn die Sonne hoch genug stand, um einen Schatten zu werfen, reichte dieser Schatten vermutlich bis zum Außenkreis. Zur Mittagszeit würde die Sonne ihren kürzesten Schatten werfen, der dann innerhalb des Innenkreises enden mußte. Begann sich der Schatten wieder auszudehnen, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten. Ich schaute zur Sonne empor und dann auf den Stock und seinen Schatten. Meiner Schätzung nach war es noch eine halbe Ahn bis zur Mittagszeit.

Im deutlichen Gegensatz zu den drei Kriegern, die ich für Gelbmesser hielt, war Watonka nervös. Er schaute auf die Krieger und dann wieder in den Himmel. Es war ein heller, klarer Tag. Unweit der Männer standen auch Bloketu und Iwoso. Bloketu schien sich ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Dagegen machte Iwoso wie die drei fremden Krieger einen gelassenen Eindruck. Diese sechs Gestalten – wie auch etliche andere Isanna-Krieger, die in der Nähe warteten, hatten sich mit gelben Schärpen geschmückt, die von der linken Schulter zur rechten Hüfte führten. Vermutlich sollten diese gelben Tücher sie als Mitglied der Friedensgruppe identifizieren und schützen. Die gelben Streifen mochten darüber hinaus eine Medizinwirkung haben, wie sie möglicherweise einem Beteiligten im Traum eingefallen war.

Ich wußte nicht, ob man Bloketu zur Ratsversammlung zulassen würde. Normalerweise haben Frauen an solchen Orten keinen Zutritt. Die roten Wilden hören sich zwar oft aufmerksam an, was ihre freien Frauen zu sagen haben, und begegnen ihnen ehren- und respektvoll, doch verzichten sie auf kein Quantum ihrer Oberherrschaft. Sie allein treffen alle Entscheidungen. Sie sind die Männer. Die Frauen gehorchen. Von Iwoso dagegen nahm ich an, daß sie im Ratszelt unentbehrlich sein würde. Wahrscheinlich war sie im Lager die einzige Person, die die Gelbmesser- und Kaiila-Sprachen fließend beherrschte. Interessanterweise trug sie ein dünnes, geschmeidiges Seil zusammengerollt an der Hüfte. Nach der Sonne und dem Schatten des Stocks zu urteilen, hätten sich Watonka und seine Begleiter längst auf den Weg zum Ratszelt machen müssen. Soweit ich wußte, sollte der Rat zur Mittagszeit zusammentreten. Mir fiel außerdem auf, daß die Art und Weise, wie die Männer ihre gelben Schärpen gebunden hatten, ihnen die größte Bewegungsfreiheit des Waffenarms gewährte, sollten sie Rechtshänder sein.

»Bloketu«, sagte ich und trat vor das Mädchen hin.

»Herrin!« forderte sie.

»Herrin.«

»Warum kniest du nicht nieder?«

Ich fiel auf die Knie. »Ich möchte bitte mit dir sprechen«, sagte ich.

»Es war dein Herr Canka«, sagte sie tadelnd, »der heute früh Mahpiyasapa umbringen wollte.«

»Kann ich dich mal sprechen?«

»Ja.«

»Allein.«

Iwoso warf mir einen scharfen Blick zu.

»Du kannst vor meiner Zofe sprechen«, sagte Bloketu. »Warum auch nicht? Warum sollte sich ein Sklave nicht vor einer anderen Sklavin äußern können?«

»Verzeih mir, Herrin«, sagte ich. »Vielleicht bin ich ein Dummkopf und ein Narr.«

»Das erscheint mir nicht unwahrscheinlich.«

»Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß die drei Männer bei deinem Vater, die Gelbmesser, nicht das sind, was sie zu sein vorgeben.«

»Was meinst du?«

»Ich glaube, sie sind nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, sondern möglicherweise Kriegshäuptlinge.«

»Lügnerischer Sklave!« fauchte Iwoso, stürzte sich auf mich und schlug zu. Sofort schmeckte ich Blut in meinem Mundwinkel.

»Was geht hier vor?« fragte Watonka und blickte uns an.

»Dieser Sklave ist ein amüsanter Dummkopf«, sagte Bloketu lachend. »Er meint, unsere Gäste wären nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, die bald unsere Freunde sein werden, sondern Kriegshäuptlinge.«

Die Worte wurden den Gelbmessern von Iwoso übersetzt. Ihre Mienen blieben unbeweglich.

»Das ist absurd!« rief Watonka und sah sich hastig um. »Ich verbürge mich persönlich für diese Männer.«

»Du kannst unmöglich solche Informationen haben«, sagte Bloketu zu mir.

»Im Lager gibt es eine Sklavin«, sagte ich, »ein blondes Mädchen, das früher im Eigentum von Gelbmessern stand. Sie hat die Männer erkannt. Von ihr habe ich meine Informationen.«

»Sie muß sich offenkundig irren«, sagte Bloketu. Unser Gespräch wurde den Gelbmessern von Iwoso übersetzt.

»Lügenhaften Sklaven kann die Zunge herausgeschnitten werden«, sagte Watonka ärgerlich und zog seine Klinge.

In diesem Augenblick legte einer der Gelbmesser Watonka eine Hand auf den Arm. Er sagte etwas, und seine Worte wurden uns allen von Iwoso übersetzt.

»Tu dem Sklaven nichts«, sagte er. »Dies ist für uns alle eine Zeit des Glücks und des Friedens.«

Erstaunt hob ich den Kopf. Der Mann mußte wirklich ein Friedenshäuptling sein.

»Laß ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.

»Verschwinde!« sagte Watonka aufgebracht.

»Ja, Herr«, sagte ich und stand auf.

»Schlagt ihn!« befahl Watonka zwei Isanna-Kriegern.

Diese gingen an die Arbeit und hämmerten mit den Schäften ihrer Lanzen auf mich ein. Ich hob die Hände an den Kopf und brach in die Knie. Schmerzhafte Schläge trafen mich an Schultern und Körper.

»Laßt ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.

»Geh!« rief Watonka.

Ich mühte mich hoch und stolperte mit blutendem Gesicht und schmerzendem Leib fort. Hinter mir brandete Gelächter auf. Man hatte mich tüchtig durchgeprügelt. Anscheinend waren mir dabei keine Knochen gebrochen worden. Dafür mußte meine Haut bald schwarz und blau sein. Beinahe verlor ich das Bewußtsein, nahm mich aber zusammen und torkelte weiter. Ich hatte getan, was ich konnte: Ich hatte Oiputakes Information einem Manne überbracht, der im Kaiilastamm einen hohen Posten bekleidete, Watonka, dem Zivilhäuptling der Isanna. Es wollte mir scheinen, ich hätte nicht mehr erreichen können, außer vielleicht mit Mahpiyasapa zu sprechen. Plötzlich wallte irrationaler Zorn auf Mahpiyasapa und Grunt in mir auf, wie auch auf Canka und sogar meinen Freund Cuwignaka. Sie alle hatte ich nicht erreichen können. In meinem elenden Zustand wollte mir fast scheinen, als wären sie gewissermaßen für die Prügel verantwortlich, die ich bezogen hatte. Schließlich verbannte ich diesen törichten Gedanken aus meinem Kopf und machte mich auf den Rückweg zu dem Zelt, das ich mit Cuwignaka teilte.

Ich schätzte die Zeit auf etwa eine Viertel-Ahn vor der Mittagsstunde.

Загрузка...