14

»Canka!« rief ich. »Wo ist Canka?«

Der junge Krieger war nicht in seinem Zelt. Ganz in der Nähe hockte im Schneidersitz eine Gestalt auf dem Boden, die Robe halb über das Gesicht gezogen, und wiegte den Oberkörper hin und her.

»Akihoka!« rief ich. »Wo ist Canka?«

»Auf der Jagd«, antwortete Akihoka.

»Wann ist er zurück?«

»Er dürfte nicht wiederkommen!« rief Akihoka klagend und wiegte sich hin und her. »Er war mein Freund!« jammerte er. »Er war mein Freund.«

»Ich verstehe das alles nicht. Was ist passiert?«

»Du bist heute nicht der erste, der ihn sucht«, erwiderte Akihoka, weit vorgebeugt, unter der Robe kaum zu erkennen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ich habe Informationen. Ich muß ihn sprechen. Vielleicht bedeuten sie ja nichts, vielleicht aber sehr viel!«

»Sleensoldaten wollten ihn abholen!« klagte Akihoka. »Aber er war nicht hier. Er war auf der Jagd.«

»Warum sollten Sleensoldaten Canka abholen wollen?« fragte ich erschrocken.

»Er hat versucht, Mahpiyasapa zu töten«, jammerte Akihoka.

»Das ist lächerlich!«

»Sie haben den Pfeil, der auf Mahpiyasapa abgeschossen wurde«, fuhr Akihoka fort und setzte die kummervolle Bewegung fort. »Es ist ein Pfeil Cankas. Außerdem hat Hci Canka vom Tatort fliehen sehen.«

»Canka würde niemals auf Mahpiyasapa schießen«, sagte ich. »Mahpiyasapa ist sein Häuptling.«

»Angeblich hatte er Angst, Mahpiyasapa würde ihm die rothaarige Frau wegnehmen.«

»Mahpiyasapa würde das niemals gegen seinen Willen tun«, sagte ich. »Und Canka weiß das.«

»Hci behauptete gestern abend das Gegenteil«, meinte Akihoka.

»Hci hat im Zorn gesprochen.«

»Hci sah ihn vom Tatort fliehen«, sagte Akihoka bekümmert.

»Hast du nicht gesagt, Canka wäre auf die Jagd gegangen?«

»Es wird behauptet, er habe auf Mahpiyasapa geschossen und wäre dann jagen gegangen.«

»Absurd!« rief ich. »Niemand schießt auf seinen Häuptling einen Pfeil ab und reitet dann auf die Jagd.«

»Der Pfeil gehört Canka«, sagte Akihoka, und seine Stimme klang schrill vor Sorge. »Hci sah ihn wegrennen.«

»Wer hat ihn noch gesehen?« wollte ich wissen.

»Niemand.«

»Erscheint dir das wahrscheinlich – in einem überfüllten Lager?«

»Es war Cankas Pfeil. Man hat seinen Pfeil. Und Hci sah ihn fliehen.«

»Hci lügt!«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Er hat auf seinen Schild geschworen.«

»Es muß Hci selbst gewesen sein, der den Pfeil abschoß«, meinte ich.

»Mahpiyasapa ist Hcis Vater«, gab Akihoka zu bedenken. »Hci würde ihn niemals töten wollen!«

»Das nehme ich auch nicht an«, sagte ich. »Ich glaube, Hcis Absicht läuft darauf hinaus, lediglich den Eindruck zu erwecken, auf seinen Vater sei ein Anschlag verübt worden.«

»Das würde Hci niemals tun.«

»Warum nicht?«

»Hci ist ein Kaiila«, sagte Akihoka. »Schande! Schande!« jammerte er los. »Schande für Canka. Schande für die Kampfgefährten. Ich trauere um Canka. Er war mein Freund. Er war mein Freund.«

»Hci«, sagte ich entschlossen, »hat Canka nicht vom Tatort fliehen sehen.« Mir fiel ein, daß sich Canka am ersten Morgen der großen Jagd bei Cuwignaka erkundigt hatte, ob er einen seiner Pfeile gesehen habe. Schon damals schien Hci also seinen Plan in der Brust bewegt zu haben. Bei der offenen Lebensart der roten Wilden, die nichts verstecken oder verschließen und für die Diebstahl etwas Undenkbares und höchst Überraschendes ist, wäre es sicher keine Schwierigkeit, sich einen Pfeil zu beschaffen.

»Hci kann seine Aussagen beschwören.«

»Ein Meineid!«

»Er schwört auf seinen Schild.«

»Dann leistet Hci auf seinen Schild einen Meineid.«

Akihoka erstarrte. Er zog die Robe vom Kopf, legte sich den Stoff um die Schultern. »Du bist ein Weißer«, sagte er. »Du bist nur ein Sklave. Du weißt nichts von diesen Dingen.«

»In deinem Herzen weißt du so gut wie ich«, entgegnete ich, »daß Canka niemals den Versuch machen würde, Mahpiyasapa zu töten. Ich bin sicher, im Grunde seines Herzens ist Mahpiyasapa derselben Überzeugung.«

»Aber Hci hat auf seinen Schild geschworen!«

»Dann war das ein Meineid!«

»Aber wie wäre das möglich?« fragte Akihoka verwirrt.

»Zweifellos spielt Hcis Eitelkeit eine Rolle – und sein Haß auf Canka.«

Der andere schaute zu Boden. Als Kaiila-Krieger waren solche Dinge für ihn kaum vorstellbar, mochten sie auch noch so plausibel klingen. Es war, als wären seine Überzeugungen, sein Vertrauen in gewisse wesentliche Dinge in ihren Grundfesten erschüttert.

»Bei der Liebe, die du für Canka empfindest«, sagte ich, »mußt du ihm nachreiten. Triff dich mit ihm. Finde ihn. Sag ihm, was geschehen ist. Ich versichere dir, er weiß davon nichts. Zu der Anklage ist es bestimmt auch nur gekommen, weil er das Lager verlassen hatte.«

Akihoka hob den Blick.

»Du mußt ihn vor den Sleensoldaten finden«, beharrte ich. »Vielleicht hängt sein Leben davon ab. Kläre ihn über die Ereignisse auf. Dann muß er entscheiden, was geschehen soll.«

»Er wird zurückkehren«, sagte Akihoka.

»Dann soll er in vollem Bewußtsein der Ereignisse zurückkommen. Nun reite schon los!«

»Ich weiß, wo er jagen würde.«

»Beeil dich!«

Akihoka warf seine Robe zu Boden. »Ich reite.«

»Wo ist Winyela?« fragte ich.

»Keine Ahnung.«

»Ist sie von Sleensoldaten abgeholt und womöglich in Mahpiyasapas Zelt gebracht worden?«

»Nein.«

»Siehst du?« sagte ich. »Selbst in dieser Situation läßt Mahpiyasapa das Mädchen nicht zu sich bringen. Selbst unter diesen Umständen betrachtet er sie noch als Cankas Eigentum. Er weiß bestimmt, daß Hci lügt.«

Akihoka machte kehrt und eilte zwischen den Zelten davon. Er würde die Leine seiner Kaiila lockern und mit einem Satz auf den Rücken des Tiers springen. Kurze Zeit später würde er sich außerhalb des Lagers befinden.

Ich schaute in die Richtung, in die Akihoka gelaufen war; ich konnte ihn schon nicht mehr sehen.

Eine kühle Brise umspielte mich. Mahpiyasapa tat mir leid. Es mußte für einen Vater schrecklich sein zu erkennen, daß sein geliebter Sohn gegen die Ehrenvorstellungen des Stammes verstoßen hat.

Dann fielen mir die Informationen ein, die ich eben erst von der hübschen blonden Sklavin Oiputake erhalten hatte. Ich steckte hübsch in der Klemme. Natürlich hatte ich gehofft, Canka einweihen zu können. Dies schien mir nicht nur deswegen angemessen, weil er genau genommen mein Herr war, sondern weil er zugleich bei den Kampfgefährten eine hohe Position bekleidete. Er hätte die Situation beurteilen, die Information abschätzen können. Noch lieber wäre ich zuerst zu Cuwignaka gegangen, weil ich ihn am besten kannte und Hochachtung empfand vor seinem Durchblick und seinem Urteilsvermögen, aber dieses Vorgehen kam nicht in Frage, weil er gerade mit den anderen jungen Männern im großen Zelt tanzte. So wußte ich nun nicht, was ich tun sollte. Natürlich konnte ich vor irgendeinem Passanten niederknien und ihm das Erfahrene mitteilen, aber ich hatte Angst, als Dummkopf abgewiesen zu werden, der sinnloses Zeug faselte. Wer würde auf einen Sklaven hören, der seine Weisheit zudem noch von einer anderen Sklavin bezogen hatte? Wenn sie sich nun irrte – was dann?

Grunt! dachte ich. Grunt! Er weiß bestimmt, was zu tun ist. Außerdem ist er mit Mahpiyasapa eng befreundet. Mahpiyasapa wird ihn anhören. Ich mußte Grunt finden!

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