»Sie kommen! Sie kommen!« riefen Stimmen. »Die Kinyanpi kommen!«
Am Nachmittag waren schon mehrmals die Kampfpfeifen erklungen, die aus den Flügelknochen der krallenfüßigen Herlits geschnitzt werden, mehrmals hatten sich die gefiederten Kampfstäbe gehoben und gesenkt und damit ihre Signale an die Kampfteilnehmer weitergegeben, nicht nur an die Kaiila, sondern auch an die Gelbmesser. Ich kannte die Bedeutung der Signale im einzelnen nicht, ebensowenig kannte sich Cuwignaka aus, dem die Ausbildung für die wendige Kampftaktik seines Volkes fehlte. Hci dagegen – und viele andere – fühlte sich damit ausgesprochen heimisch, so wie jeder goreanische Soldat die Bedeutung bestimmter Standartenbewegungen und Trompetensignale und Tarntrommelwirbel zu deuten weiß. Wir folgten dem Beispiel der anderen. Bisher hatte Mahpiyasapa, der seine Befehle durch Pfeifen und Kampfstäbe übermitteln ließ, seinen mutigen Kämpfern kein einzigesmal gestattet, die zurückweichenden Gelbmesser zu verfolgen. Dies war eine kluge Maßnahme, denn soweit ich ausmachen konnte, waren uns die Gegner zahlenmäßig hoch überlegen. Gewiß, von Zeit zu Zeit hatten sich frische Gelbmesser in den Kampf gestürzt. Andere waren auf nahegelegenen Hügeln aufgetaucht. Der vorgetäuschte Rückzug, der die Verfolger aus ihren Positionen lockt, ist eine beliebte Taktik der roten Wilden. Außerdem wollten wir das Lager halten, in dem sich Frauen und Kinder aufhielten – und das Fleisch, das die Kaiila durch den bevorstehenden Winter bringen sollte.
»Sie kommen!« gellten Rufe. »Die Kinyanpi!«
»Vielleicht sind das kleinere Vögel, die schon viel dichter heran sind«, sagte ein Mann.
Kampfpfeifen schrillten.
»Es sind die Kinyanpi!« sagte ein Mann.
»Wir wollen aufsteigen«, sagte Cuwignaka und schluckte ein Stück Dörrmasse.
Ich wischte in aller Ruhe die Flanken meiner Kaiila ab.
Ringsum bestiegen Krieger ihre Tiere, die zum großen Teil bis zum Bauch mit Staub bedeckt waren. Das Haar am Unterkinn vieler Kaiila war steif von getrocknetem Blut, das auf die heftige Bewegung der Zügel zurückzuführen war. Vielfach klebte auch Blut an den geflochtenen Lederriemen.
Ich hörte Männer in meiner Nähe. Einige zählten sich selbst noch einmal ihre Coups auf. Einige gingen ihre Medizinhelfer um Beistand an. Andere sangen ihre Kriegsmedizin. Dann gab es Kämpfer, die auf ihre Schilde und Waffen einsprachen und ihnen mitteilten, was sie von ihnen erwarteten. Viele sangen ihre Todeslieder. »Auch wenn ich sterbe, wird die Sonne weiter am Himmel stehen. Auch wenn ich sterbe, wird das Gras wachsen. Obwohl ich sterbe, wird der Kailiauk kommen, sobald das Gras am höchsten steht.«
Ich machte den Zügel wieder an der Unterlippe meiner Kaiila fest. Dann stieg ich auf, Schild und Lanze im Arm.
»Glaubst du, wir haben eine Chance gegen die Kinyanpi?« fragte Cuwignaka.
»Ich nehme es an«, antwortete ich. »Kahintokapa hat alles gut vorbereitet.« In der Deckung von Zelten und Roben lagen an der Westseite des Lagers zahlreiche Bogenschützen auf der Lauer – zwischen den Kinyanpi und unserer Hauptstreitmacht. Wenn die Kinyanpi ihre Angriffstaktik beibehielten, würden sie bei diesem Anflug ganz überraschend auf einen Pfeilhagel stoßen, der aus nächster Nähe abgeschossen wurde. Sollten sie dann immer noch nicht abdrehen, würden sie anschließend gegen die Seile prallen, die zwischen einigen Zelten aufgespannt worden waren. Sie hatten denselben Zweck wie die frei schwingenden, beinahe unsichtbaren Tarndrähte, die zuweilen in den großen Städten hingen, Drähte, die einem Vogel die Flügel abreißen können oder einem Reiter Kopf oder Arm. Außerdem ließen sich angespitzte Pfähle, auf kürzeren, quer übereinander liegenden Stangen ruhend, an ihrem Fuße ein Pfeilschütze, in die Bahn des Angriffs richten. Damit hofften wir nicht nur Krallenattacken verhindern zu können, sondern auch Zweikämpfe auf engstem Raum, wie ihn die roten Wilden lieben.
Wir gingen davon aus, daß die Kinyanpi aus der Entfernung weitaus weniger wirksam kämpfen konnten. Aus einer Höhe von fünfzig oder hundert Fuß schoß sich nicht so leicht durch das Netzwerk aus Seilen und Tüchern, das nun zwischen etlichen Zelten hing. Solche Vorsorge verwirrte hoffentlich die schnell fliegenden Bogenschützen. War ein Ziel doch erkannt, blieb im allgemeinen nicht mehr genug Zeit für den Schuß. Der am Boden wartende Bogenschütze, der Verteidiger, hat festen Grund unter den Füßen und kann, weil er den Öffnungen im Tarnnetz so nahe ist, den Anflug des Gegners gut verfolgen und gezielt schießen. So gesehen befindet er sich gewissermaßen hinter einem Fenster.
»Glaubst du, die Gelbmesser werden ihren Angriff mit den Kinyanpi abstimmen?« fragte ein Mann.
»Logisch wäre es«, antwortete ich.
»Ich glaube eher, sie haben vom Kämpfen im Moment die Nase voll«, sagte Cuwignaka. »Ich glaube, sie werden abwarten, wieviel Arbeit die Kinyanpi ihnen abnehmen können.«
»Mag sein«, sagte ich.
»Ich sehe sie«, meldete Cuwignaka und ließ seine Kaiila im Kreis gehen. »Die Reiter sind deutlich auszumachen. Sie nähern sich auf dem bekannten Weg.«
»Ich glaube, dies ist das letztemal, daß die Kinyanpi ein Kaiila-Lager so unvorsichtig angreifen werden«, meinte ich.
Daraufhin wandten wir uns den Gelbmessern zu, die etwa dreihundert Meter entfernt warteten. Die Kämpfer auf beiden Seiten bildeten lange Linien, die auf unserer Seite zwei und drei Mann tief waren. Zwischen den Reitern hielten wir eine Lanzenlänge Abstand, womit wir die Treffsicherheit der Kinyanpi zu verringern hofften. Die Kaiila bewegten sich unruhig unter uns. Unter dem Netz aus Seilen und Tüchern warteten wir geduldig ab. Ich vernahm Kriegsgesang.
Plötzlich ertönte der entsetzliche Schrei eines aufgespießten Tarn.
»Schilde über die Köpfe!« brüllte ich.
Ein Tarn, etwa zwanzig Fuß über uns, schlug dröhnend durch die Luft, dichtauf gefolgt von einem zweiten Reittier.
Andere Tarns wechselten plötzlich die Richtung oder begannen wieder zu steigen.
Unsere Kaiila drehten sich unruhig und stampften nervös auf.
»Behaltet die Gelbmesser im Auge!« rief ich Cuwignaka zu.
»Sie rühren sich nicht von der Stelle«, antwortete er. »Sie halten die Position.«
In diesem Moment verfing sich ein Tarn an den Seilen. Kreischend riß er sich los und zerrte Leder und Stoffetzen mit. Sein Reiter, von Pfeilen durchbohrt, die Knie unter dem Sattelgurt festgeklemmt, schwankte leblos auf seinem Rücken. Zwei weitere Vögel saßen in den Netzen fest, der eine mit gebrochenem Hals, der andere mit halb abgerissenem Flügel. Die Reiter hatten ihr Unglück nicht überlebt. Der Tarn mit dem verletzten Flügel schnappte mit dem Schnabel nach seinen Angreifern und wurde mit Lanzen erledigt. Ein dritter Tarnreiter stürzte vom Rücken seines Tieres ab, als dieses im Flug gegen ein Hindernis prallte. Getroffen von Pfeilen, flogen andere Tarns ziellos herum. Mit einem schnellen Blick nach Westen überzeugte ich mich, daß die Gelbmesser noch immer nicht vorrückten.
»Wie viele waren es?« fragte ich Cuwignaka.
»Vierzig, fünfzig?« gab dieser zurück. »Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so viele wie beim ersten Angriff.«
Natürlich wußte ich auch nicht, wie viele Tarn beim ersten Überraschungsangriff teilgenommen hatten; ich schätzte ihre Zahl auf etwa zweihundert, die sich noch irgendwo in der Nähe befinden mußten. Cuwignakas Schätzung hinsichtlich der jetzigen Angreiferzahl deckte sich mit meinem Eindruck. Die Mehrzahl der Kinyanpi wurde offenbar aus irgendeinem Grund zurückgehalten. Dies verwirrte mich. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Versuchsangriff, der der Gegenseite über unsere Verteidigung Aufschluß geben sollte. Wenn das der Fall war, so überlegte ich grimmig, hatten die Tarnreiter einiges zu vermelden.
»Was meinst du, warum haben so wenige angegriffen?« fragte ich Cuwignaka.
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Wenn eine kleine Zahl von Kämpfern in den Kampf geht, ist der Ruhm größer.«
Ich lächelte vor mich hin. Vielleicht hatte Cuwignaka recht. Während ich mich mit militärischer Mathematik und Motivation abgegeben hatte, war mir vielleicht die Mentalität des Gegners aus dem Blickfeld geraten, die im Falle der roten Krieger auf jeden Fall von Exzentrizität geprägt war, zumindest von einer ungenügend eingeweihten oder fremden Perspektive. Wenn dem Feind Ruhm wichtiger ist als ein normales militärisches Ziel, das man in Kosten und Kämpferverlusten errechnen konnte, dann sollte man die eigene Einstellung in bezug auf diesen Gegner entsprechend umstellen.
»Aber so läuft unser Denken normalerweise nicht«, sagte Cuwignaka. »Das Überleben ist uns wichtiger als der Ruhm.«
»Warum haben dann nur so wenige an dem Angriff teilgenommen?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich war gereizt. Meine kunstvoll aufgebaute Erklärung war in sich zusammengebrochen. Nun begriff ich ebenso wenig wie Cuwignaka, was es mit dem jüngsten Angriff auf sich hatte.
»Schau!« rief er.
»Ich seh’s«, gab ich zurück.
Ein einzelner Tarnkämpfer bewegte sich hoch am Himmel auf die Gelbmesser zu und landete hinter ihren Reihen.
»Nun koordinieren sie bestimmt ihre Aktionen«, sagte Cuwignaka.
»Ich nehme es an«, sagte ich.