»Die Leiche wurde nie gefunden«, sagte ich.
»Das würde einem Tuchuk schon etwas ausmachen«, sagte Kamchak von den Tuchuks.
Ein kalter Wind wehte über das flache Dach des Justizzylinders in Ar.
Kalt waren die Steine, etwa zwanzig Pasangs westlich des Casmu-Kaiila-Lagers bei Zwei Federn.
Wieder hielt ich Gras und Erde mit Kamchak von den Tuchuks. Ich spürte sie kühl in der Hand, zwischen den Fingern.
Es begann zu regnen. Der Regen wusch mir Schmutz und Gras von den Händen. Die Brücken Tharnas hatten grau und kühl im gemächlichen Regen gelegen.
Aus der Ferne hörte ich das Gebrüll der Zuschauermassen im Tarn-Stadion von Ar.
Die Silbermaske schien unnatürlich groß zu sein. Die Frauenstimme, die dahinter erklang, schien von weither zu tönen. Dennoch vernahm ich den wütenden Unterton. »Wir werden uns wiedersehen!« sagte sie.
Der Tarn erhob sich vom Dach des Palasts. Eine frische Brise zupfte an meiner Kleidung.
Die Dorna war ein Schiff, ein Tarnschiff, ein Rammschiff mit geringem Tiefgang, geradem Kiel und einer Ruderebene. Es besaß ein Lateinersegel und war grün bemalt auf dem bewegten Wasser des Thassa vor Port Kar kaum auszumachen.
Lara, die ehemalige Tatrix von Tharna, kniete im Lager des Sklavenhändlers Targo auf einem roten Teppich vor mir und hielt mir unterwürfig zwei gelbe Schnüre entgegen.
Misk, der bei Nacht im Sardargebirge stand, herablassend, geschmeidig, ein großartiger Anblick vor den Monden, während der Wind seine Tentakel bewegte.
An jenem Abend hätte ich vielleicht in die Taverne Sapedons in Lydius zurückkehren müssen, um Vella beim Tanz zuzuschauen. Ich hatte Geschäfte erledigt.
»Ein Hurrikan aus Steinen!« brüllte Hassan, und der Wind zerrte an seinem Burnus.
»Vielleicht wird es heute nacht kalt«, sagte Imnak und beugte sich über die Schieferspitze seiner Harpune, die er im Licht einer kleinen Sleenöl-Lampe methodisch mit einem Stein schärfte.
»Ja«, stimmte ich ihm zu.
Über die tobende See des Nordens vernahm ich Ivar Gabelbarts mächtiges Lachen.
Blitze umzuckten die zerklüfteten Gipfel der Voltai-Berge.
»Peitscht ihn aus!« befahl Marlenus aus Ar.
Hiebe wurden ausgeteilt.
Meine Wange berührte die kalten, nassen Steine. Man verläßt den Ort der Visionen nicht. Es regnete. Ich streckte die Hand aus und umfaßte Eis. Prasselnd landete es ringsum, prallte von den Steinen zurück. Mein Rücken begann zu bluten. Der weiße Kalk, der meinen Körper bedeckte, wies zahlreiche Furchen auf. Ich bedeckte meinen Kopf und blieb auf den Steinen liegen. Man verläßt den Ort der Visionen nicht.
Es war heiß.
Ich hörte Vogelgeschrei im Dschungel der Ua.
»Wir wollen weitermarschieren«, sagte Kisu, und auf dem breiten Fluß, der sich zwischen den feuchten, verfilzten grünen Dschungeldickichten erstreckte, tauchten wir erneut unsere Paddel ein.
Mir war schwindlig. Vielleicht lag es an der Sonne. Ich lag auf dem Rücken. Die hochstehende, heiße Sonne der Tahari brannte erbarmungslos.
»Trink!« sagte Hassan, der sich über mich beugte. »Schade«, fügte er hinzu. »Der Wasserbeutel ist leer.«
»Wenigstens ist es jetzt kühler«, sagte Samos. »Das ist immerhin eine Erleichterung.«
»Ja«, sagte ich.
»Ein Sturm kommt auf, Kapitän«, meldete Thurnock. »Um diese Jahreszeit läuft ein vernünftiger Kapitän den Hafen an.«
Ich schlug das Schwert aus der Hand Marlenus’ aus Ar.
»Will man Medizinhelfer zu Gesicht bekommen, muß man bestimmte Wege beschreiten«, sagte Canka. »Wenn du etwas erreichen willst, mußt du auf die richtige Weise danach streben.«
»Ich werde auf deine Wünsche eingehen«, sagte ich.
»Es gibt keine Garantie, daß sich der Medizinhelfer wirklich blicken läßt«, sagte Kahintokapa.
»Das verstehe ich.«
»Die Sache ist nicht einfach«, sagte Cuwignaka.
»Das ist mir klar.«
Hcis Schild stieg empor wie ein Mond, unaufhaltsam, und entblößte ihn der Lanze des Gelbmessers. Der Mond bewegte sich schnell hinter den Wolken. Es gibt viele Möglichkeiten, das Gesehene zu deuten.
Ein kleines Paket, schwer, rechteckig, zwischen den Sachen in Grunts Zelt hervorgekramt, lag in meiner Nähe auf den Steinen. Ich versuchte mich auf den Steinen aufzurichten und stemmte dazu die Hände auf die Knie.
Ich spürte Regen.
Blitze zuckten am Himmel, Donner grollte wie eine Brandung zwischen den Küsten des Horizonts.
Kalter Regen, windgetrieben, prasselte herab, dröhnte auf die Steine, zerrte an den Blättern einiger Bäume.
»Wer ist die Frau?« fragte ich.
»Es heißt, sie war einmal die Tochter Marlenus’ aus Ar«, erhielt ich zur Antwort. »Weil sie ihn entehrte, wurde sie verstoßen.« Ihre Gestalt, die eine Verhüllungsrobe trug, war aus dem Korridor verschwunden.
Und wieder erhellten Blitze den Unwetterhimmel und die Regenbahnen, doch dann waren Blitze und Regen verschwunden, und es ertönten laute, widerhallende Schläge, und der schwere Hammer Krons, eines Mitglieds der Kaste der Metallarbeiter, hob und senkte sich und traf einen riesigen Amboß und ließ Funken durch die Nacht stieben, die in das stille Meer fielen und dort wie Diamanten funkelten, und ich ließ mich auf den Rücken rollen und bemerkte emporschauend, daß die Diamanten am Himmel hingen und Sterne waren.
Es beginnt im Schwitzzelt – ein kleiner Bau, oval und niedrig gebaut. Ein Mann kann im Innern nicht aufrecht stehen. Zuerst wird ein Astgerüst errichtet, das man dann mit Fellen bedeckt. Im Loch in der Mitte werden die draußen erhitzten Steine abgelegt und mit Wasser übergossen. Mit dem Schwitzzelt verbinden sich zahlreiche bedeutsame Rituale. Wichtig sind dabei die Steine, das Feuer, die Ausrichtung des Zelts, der Weg zwischen Zelt und Feuer, die Wassermengen und die Art und Weise des Gießens und die Häufigkeit, mit der das Zelt geöffnet wird. Ich will diese Dinge nicht im Detail ausführen und mich mit der Bemerkung begnügen, daß die Zeremonie des Schwitzzelts ein detailliertes, komplexes, durchdachtes und sehr symbolisches Ritual ist. Hauptziel ist die Reinigung des Badenden, seine Vorbereitung auf die schwierige Aufgabe, den Traum oder die Vision zu erlangen. Meine Helfer, die sich um das Feuer und die Steine kümmerten, waren Canka und Cuwignaka.
Ich folgte dem vorgeschriebenen Ritual nicht in jeder Beziehung; zum einen, weil ich gewisse Vorbehalte hatte und an die Existenz der Medizinwelt nicht recht glauben konnte, zum anderen, weil ich kein Kaiilakrieger war. Meine Überlegungen und Entscheidungen in diesem Punkt wurden von Canka und Cuwignaka respektiert. Gleichwohl hat man viel Zeit zum Nachdenken, während man da allein im abgedunkelten Innern des Schwitzzeltes sitzt, den Kopf zwischen die Knie gedrückt, um in der ungeheuren Hitze nicht ohnmächtig zu werden. Es ist sicher nicht übel, wenn der Mensch ab und zu allein ist und Zeit zum Nachdenken hat. Es ist jedenfalls eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Selbsterfahrung.
Nach Verlassen des Schwitzzelts begibt man sich zu einem Fluß und reinigt sich in kaltem Wasser von Kopf bis Fuß. Dann wird ein kleines Feuer aus Nadeln und Süßblättern entzündet, dessen Rauch man in seine Haut einmassiert. Schließlich reibt man sich mit weißem Kalk ein: Diese Dinge sollen den menschlichen Geruch verschwinden lassen. Angeblich mögen Medizinhelfer den Menschengeruch nicht.
Dann begibt man sich an den Ort der Visionen. Es ist eine hochgelegene, felsige Stelle. Einige Bäume stehen in der Nähe. Man kann über die Prärie hinwegschauen, deren Gras sich im Wind wiegt.
Dort fastet man. Dort wartet man.
Man darf ein wenig Wasser trinken. Das Verhungern dauert lange, wochenlang; Durst läßt den Tod schon viel früher eintreten.
Man wartet. Man weiß nicht, ob der Medizinhelfer kommen wird oder nicht.
Es ist einsam am Ort der Visionen.
Als ich erwachte, war es grau und kalt; die Morgendämmerung hatte eben eingesetzt.
Wie kommt es, daß diese Leute Visionen haben? fragte ich mich.
Vielleicht hat der mit Entbehrungen gepeinigte Körper irgendwann genug. Vielleicht fleht er dann das Gehirn um eine Vision an, die ihm Erleichterung bringen könnte.
Natürlich ist es hilfreich, an solche Visionen zu glauben und sie als Zeichen aus der Medizinwelt zu akzeptieren.
Am Ort der Visionen kommt es zu seltsamen Bewußtseinsverschiebungen; sicher hat das mit Hunger und Durst und der Einsamkeit zu tun. Manchmal fällt es schwer, zwischen Träumen, Visionen und Realitäten zu unterscheiden.
Man braucht nicht unbedingt eine Vision. Ein Traum erfüllt denselben Zweck.
Aber es gibt Menschen, die einfach keine Visionen haben können; andere wiederum können sich nicht daran erinnern, was sie im Traum erlebt haben. Sie wissen nicht mehr, was sie im Traumland taten – nur daß sie dort waren.
Aber solche Fälle behandeln die roten Wilden gnädig. Sie wissen, daß nicht alle Menschen gleich sind. Es genügt ihnen, wenn man den Versuch macht, zu träumen, die Vision zu erlangen. Schließlich steht es in der Entscheidung des Medizinhelfers zu erscheinen – oder aber auch nicht. Von einem Menschen kann man nicht mehr erwarten, als daß er sich an den Ort der Visionen begibt. Das ist sein Teil an der Sache. Was kann er mehr tun?
Der Medizinhelfer kommt nicht, redete ich mir ein. Ich habe getan, was ich konnte. Ich bin durch.
Dann vernahm ich ein Geräusch und fürchtete schon, es könnte ein Sleen sein.
Mühsam kämpfte ich mich in eine sitzende Stellung hoch. Stehen konnte ich nicht mehr. Ich hörte kleine Steine den Hang hinabklappern. Ich legte die Hand auf meinen Messergriff. Es war die einzige Waffe, die ich hier am Ort der Visionen hatte. Doch meine Finger vermochten sich kaum um den perlenbesetzten Griff zu schließen. Ich war zu schwach.
Den Kopf sah ich zuerst, dann den Körper des Geschöpfs. Wenige Fuß von mir entfernt hockte es sich nieder. Es war groß, größer als ein Sleen. Ich legte die Hände auf die Knie.
Das Wesen hob den lederumwickelten Gegenstand, den ich vor mir hingestellt hatte. Mit den Zähnen riß es die Umhüllung auf.
Im Zwielicht waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.
Es kam zu mir und nahm mich in die Arme. Es drückte die mächtigen Kiefer gegen mein Gesicht, holte aus seinem Vorratsmagen Wasser in seine Mundhöhle und gab mir Schluck für Schluck zu trinken. Auf ähnliche Weise übertrug es mir einen weichen Fleischbrocken, den es ebenfalls aus seinem Vorratsmagen heraufholte. Ich zwang mich dazu, den Brocken zu schlucken.
»Bist du der Medizinhelfer Kahintokapas?« fragte ich im Dialekt der Kaiila. »Bist du der Medizinhelfer des Mannes-der-vorausgeht?« wiederholte ich auf goreanisch.
»Ich bin Zarendargar«, tönte es auf goreanisch aus dem Übersetzungsgerät, »Kriegsgeneral der Kurii.«