Als Swan die Erde verließ, war sie ausgesprochen zufrieden mit sich, weil sie der qubischen Person beim Untertauchen geholfen hatte, und sie freute sich auch über Zashas Verhalten, was ihr sehr viel mehr bedeutete, als ihr bewusst gewesen war. Sie nahm den Weltraumaufzug in Quito und durchlebte einmal mehr die Satyagraha-Aufführung. Diesmal hinterließ der friedvolle letzte Augenblick den stärksten Eindruck bei ihr. Immer höher klomm die einfache Oktave, wie ein Meditationsgesang, der einen von den Füßen hob; und wenn man in der zum Ende hin immer weiter abnehmenden Schwerkraft tanzte, wurde das zu einem sehr körperlichen Gefühl, eine Art Taumel, getragen von den Schwingen der Musik.
Sie kehrte in einem Terrarium namens Henry David zum Merkur zurück. Es handelte sich um einen klassischen Neuengländer, mit ein paar kleinen schindelgedeckten Dorfhäuschen und vereinzelten Weideflächen, die die Laub- und Mischwälder auflockerten. Dort war es Oktober, und die Ahornblätter hatten sich herbstlich eingefärbt. Die Bäume standen in grellem gelbem, orangefarbenem, rotem und grünem Kleid, alle Farben durcheinander und über die gesamte Innenfläche des Zylinders verteilt. Blickte man nach oben, dann schien das bunte Gewölbe eine eigene Sprache aus Farben zu sprechen, flimmernd, immer knapp davor, eine Bedeutung zu offenbaren. Swan wanderte auf den Waldwegen und ging von einer freien Hügelkuppe zur nächsten. Einmal sammelte sie gefallene Blätter auf und arrangierte sie so auf einer Lichtung, dass sie einen sanften, stufenlosen Farbverlauf von Rot über Orange über Gelb über Gelbgrün bis Grün ergaben. Dieses bunte Band am Boden machte ihr große Freude, genauso wie der Wind, der es fortblies. Einen anderen Tag verbrachte sie damit, stundenlang einem schwarzen Bären und seinem Jungen zu folgen. Am Nachmittag kamen sie an einen verlassenen Apfelhain, wo ein uralter, verkrüppelter Baum trotz allem eine große Zahl Äpfel hervorgebracht hatte, so viele, dass einige Äste sich Richtung Boden neigten. Die Bären taten sich daran gütlich. Neben dem Baum stand aufrecht ein halbhohes Fass, das mit Regenwasser gefüllt war, und das Junge stieg hinein und nahm ein Bad. Sein glänzendes Fell wurde schwarz und stand in nassen Borsten ab.
Zurück auf dem Merkur fand sie sich wieder in ihrem Leben in Terminator ein. Sie erwachte draußen auf ihrem Balkon, frühstückte in der Morgenkühle, machte ihre Dehnübungen in Richtung Sonne und verneigte sich dabei leicht eingeschüchtert vor Sol Invictus. Sie ließ den Blick über die Stadt wandern und betrachtete all die vertrauten Wahrzeichen, die man wiederaufgebaut hatte, ebenso wie die neuen Bäume und Sträucher, die jeden Tag ein wenig größer aussahen, ein wenig mehr, als gehörten sie hierher. Sie hatte eine Postkarte genommen, die ihr Alex vor langer Zeit über einen Kurier zugestellt hatte, und sie über der Spüle an die Wand geheftet, wo Alex’ Handschrift täglich verkündete:
O Freude meines Geistes – uneingekerkert strahlt er Blitze
Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,
Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben.
Inzwischen war auch in Terminator Herbst, und die Reihe lohfarbener japanischer Ahornbäume zwei Terrassen unterhalb ihres Balkons trug ein rot schillerndes Kleid. Staub hatte sich über die königsblauen Dachziegel gelegt, die sie weiter unten sah. Das neue Wetterprogramm schien mehr windige Tage vorzusehen als das alte, und manchmal wurde es stürmischer, als sie es hier jemals erlebt hatte. Das gefiel ihr. Manchmal kam ein gewisser kalter, böiger Wind auf, der sie dazu verführte, alles stehen und liegen zu lassen und ihn auf einen langen Spaziergang durch die Stadt zu begleiten. Vorne wirkte Terminator sehr viel größer als zuvor, die Plattform reichte weiter und stellte mehr Platz für Park- und Farmland bereit. Im flachen Teil der Stadt und im Park gab es neue Kanäle. Brücken über Kanäle, Fahrradwege, breite Boulevards und Esplanaden. Ihre Stadt. Genauso, aber anders. Ihr kam in den Sinn, dass man die Stadt vorne noch weiter in die Nacht ausdehnen konnte; theoretisch konnten sie im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Schienen auf der gesamten Nachtseite des Merkur bedecken.
Den Großteil ihrer Tage verbrachte sie draußen in der Farm, wo sie am Teich und an den Feuchtgebieten arbeitete. Das neue Mündungsgebiet gedieh nicht besonders gut, es gab gewisse Uneinigkeiten über den richtigen Salzgehalt und den Einsatz einer kleinen hydraulischen Gezeitenmaschine. Genau genommen stritten sie sich. Und Swan versuchte noch immer zu verstehen, warum die Gibraltaraffen die Höhlen nicht mochten, die sie ihnen in einem kleinen Hügel mit einem Steilhang an der Westseite zur Verfügung gestellt hatten. Die Affen waren wunderschön, und normalerweise hatten sie keine Probleme nach Art der Menschen. Aber da saßen sie, auf den Platten unterhalb der Höhlen, und weigerten sich hineinzugehen. Früher oder später würde Swan wahrscheinlich selbst dort hochklettern müssen, um sich die Sache anzusehen.
Während sie dort draußen die Affen beobachtete, dachte sie über ihr Leben nach. Da war sie mit ihren 137 Jahren. Die meiste Zeit hatte sie ihren Körper ziemlich misshandelt; er würde nicht ewig halten, vielleicht nicht einmal mehr besonders lange. Andererseits machte die Medizin ständig Fortschritte und eröffnete Jahr für Jahr neue, ungeahnte Möglichkeiten. Mqaret war fast zweihundert Jahre alt. Man musste also zumindest darüber nachdenken.
Sie hatte nur wenige enge Bindungen, und vielleicht waren sie auch nicht mehr so besonders eng. Dennoch verfügte sie über alles, was sie brauchte; es ging ihr gut. Swans Tochter war irgendwo dort draußen und lebte ihr Leben auf ihre ganz eigene Art, ohne nennenswerte Pannen. Dann und wann meldete sie sich. Das war nicht das Problem. Anderen Menschen stand Swan näher, und das war in Ordnung. Ihr junger Freund Kiran war auf der Venus geblieben, er hatte drauf bestanden, und dort war er wieder mitten im Getümmel und schickte ihr regelmäßig Berichte. Es kam ihr mehr wie eine Beziehung vor als sonst etwas in ihrem Leben, und dort draußen warteten zweifellos noch mehr solche Beziehungen auf sie; irgendwie packten sie dauernd Leute am Arm und zogen sie in ihr Leben hinein. Die Leute von ihrer Farm waren klasse. Swan gefiel ihre Arbeit; sie mochte das Spiel und auch die Kunst, das Spielen, das Arbeit war. Also ging es um etwas anders. Es lief eigentlich auf eine recht philosophische Frage hinaus: Wie sollte man sein? Was sollte einem wichtig sein? Und wie wurde man ein bisschen weniger einzelgängerisch? Denn jetzt, wo Alex fort war, redete sie zwar mit vielen Menschen, doch letztlich fehlte ihr jemand, dem sie auf die Art etwas erzählen konnte, wie sie Alex immer etwas erzählt hatte.
Ach, du fehlst mir, Hettie Moore
Doch keinem hier kann ich davon erzählen –
Die Welt vor meinen Augen fällt ins Schwarz.
Allein auf der Farm sang sie die alte Ballade und überlegte, was sie tun musste, um alles wieder ins Lot zu bringen. Vielleicht nichts. Der Tod ließ das Leben schrumpfen. Teile starben vor dem Ganzen. Wenn ein geliebter Mensch starb, dann starb ein Teil von einem mit. Manche Leute waren, wenn sie abtraten, wie eine bestimmte Art von Wacholderbusch, die Swan einmal gesehen hatte und die nur noch aus einem lebenden Zweig an einem toten Stumpf bestanden. Dagegen ließ sich nichts machen.
Das einzige Glück lag in der Tugend. Nein, das stimmte nicht. Jeder Teil des dreieinigen Gehirns kannte seine eigene Art von Glück. Eidechsen in der Sonne, Säugetiere auf der Jagd, Menschen, die etwas Gutes tun. Gut ist das, was für das Land gut ist. Wenn man also arbeitete, als wäre man auf der Jagd, im Licht und in der Wärme, und dabei eine Landschaft erschuf – einen Ort, an dem Menschen für viele Generationen leben konnten –, dann war man dreifaltig glücklich. Das sollte doch wohl genügen.
Aber man wollte es auch teilen. Einfach nur, damit es jemanden gab, mit dem man zusammen zufrieden sein konnte. Alex war mit ihr zufrieden gewesen.
Sie hatte die umherreisenden Isolationisten gesehen, einzelgängerische alte Raumer, die allein umherzogen und keinerlei Partnerschaften mit anderen Menschen eingingen. Swan gehörte zu ihnen; ihr halbes Leben lang war sie schon eine von ihnen. Waren sie alle bloß auf der Suche? Sie erinnerte sich an etwas, das die Leute manchmal sagten: Ich möchte jemanden kennenlernen. Kennenlernen; damit meinten sie »mit jemandem zusammen sein«. Ich möchte mit jemandem zusammen sein. »Kennenlernen« war der zukunftsgerichtete Konjunktiv von »zusammen sein«, der Modus des Wünschens. Und wenn man die Augen offen hielt, sah man es: Die Partnerbindung ließ sich nicht unterkriegen. Es war ein konditionaler Futur, ein Verb im Konjunktiv: mit jemandem zusammen zu sein, um diesen jemand dann kennenzulernen. Etwas Atavistisches, als wären sie Schwäne oder irgendwelche anderen Geschöpfe mit einem genetischen Hang zur Zweisamkeit. »Swan ist kein Schwan«, verkündete sie ihren verblüfften Mitarbeitern im Park. Aber woher wusste sie das?
»Ich möchte jemanden kennenlernen«, sagte sie probeweise zu Mqaret.
Mqaret lachte sie aus. »Du magst diesen Kerl! Diesen Wahram vom Saturn. Vielleicht meinst du ja eigentlich: ›Ich habe jemanden kennengelernt.‹«
Swan glotzte Mqaret an. Ihr war noch immer nicht ganz klar, dass man geliebt werden konnte. Oder sogar lieben. »Aber ich habe ihn schon vor langer Zeit kennengelernt. Ich kenne ihn jetzt schon seit Jahren!«
»Umso besser«, erwiderte Mqaret. »Du kennst ihn. Tatsächlich musstest du sogar eine Menge Zeit mit ihm verbringen. Was ist in diesem Tunnel geschehen? Oder ist da etwa nichts geschehen?«
»Die meiste Zeit haben wir gepfiffen«, antwortete sie. »Aber ja. Es ist etwas geschehen.«
»Vielleicht ist es das, was eine Ehe ausmacht«, sagte Mqaret. »Zusammen pfeifen. Eine Art Darbietung. Also nicht bloß eine Unterhaltung, sondern wirklich eine Darbietung.«
»Die Ehe«, wiederholte Swan, voll Staunen über dieses Wort. In ihren Augen handelte es sich um ein Konzept aus dem Mittelalter, von der alten Erde – und der Gedanke daran brachte eine starke Assoziation mit Patriarchat und Besitzansprüchen mit sich. Nicht für den Weltraum gedacht, und nicht für ein langes Leben gedacht. Man bewegte sich in Epochen durch das Leben, jede war ein Abschnitt in der eigenen Lebensgeschichte, der einige wenige oder auch viele Jahre dauerte, und dann veränderten sich die Umstände und man befand sich in einem neuen Leben mit neuen Bekanntschaften. Das ließ sich nicht ändern, nicht wenn man dort draußen war und im großen Karussell mitfuhr; wenn man sein Leben deformierte, um eine Beziehung über ihre natürliche Dauer hinaus aufrechtzuerhalten, riskierte man, sie am Ende zu ruinieren, sodass sie der Länge nach splitterte und nichts als eine bittere Wunde und das Gefühl hinterließ, dass alles eine Lüge gewesen war, obwohl man eigentlich einfach seinen Weg fortsetzen und einen der kleinen Tode mit anschließender Verwandlung hätte durchlaufen sollen, die mit den kurzen Zeitaltern des Lebens einhergingen. So war das eben.
Zumindest war das ihr Eindruck, und auch der von vielen anderen, die sie kannte. Es war die Gefühlsstruktur ihrer Kultur und ihrer Zeit. Raumer waren freie Menschen, endlich frei und endlich Menschen. Dieses Gefühl teilten sie alle und bestärkten einander darin, und Swan hatte immer daran geglaubt und war immer der Meinung gewesen, damit recht zu haben. Aber Gefühlsstrukturen waren kulturell, historisch; sie veränderten sich mit der Zeit, genau wie sich Menschen veränderten; die Strukturen wurden selbst immer wieder neu geboren. Wenn sich Kulturen also im Laufe der Zeit änderten und ein Einzelner eine Veränderung in dieser Kultur miterlebte, dann … veränderte der Einzelne sich dann nicht auch? Konnte er das? Konnte sie das?
Aber war die Ehe nicht eine Art Versprechen, sich nicht zu verändern?
Sie stapfte durch die Feuchtgebiete und dachte immer weiter darüber nach. Eines Tages hüpfte ein Frosch, der die gleiche Farbe wie die Steine hatte, vor ihrer unachtsamen Hand davon und saß anschließend da und starrte zu ihr empor, wachsam und neugierig, ruhig, aber bereit zu einem weiteren Sprung. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe dich nicht gesehen.« Aber jetzt, wo sie den Frosch gesehen hatte, saß er da und glänzte deutlich stärker als die Steine, lebendig und atmend.
Sie ging auf Wanderschaft. Von Terminator aus ging sie nordwärts, in die Tricrena-Albedo. Hinaus in das verworrene Helldunkel der Tag-Nachtgrenze des Planeten, wo die schräg einfallenden Sonnenstrahlen mit einem Mal auf die geneigte Ebene fielen, so gleißend, dass das noch im Schatten liegende Land schwärzer aussah als dunkle Materie. Splitter von Schwarz und Weiß – ihr Auge war kaum dazu in der Lage, sie zu einer Landschaft zusammenzufügen. Genau so liebte sie es zuweilen. Ihr schizophrener Lebensraum.
Sie wurde zum Sonnenläufer, im Kopf die auswendig gelernten Karten. Während sie fast blind Richtung Westen stapfte, wusste sie also, dass sie bald über die Anhöhe nördlich von Mahler kommen und einige verlassene und von der Sonne gebrannte Ballard’sche Landebahnen passieren würde. Anschließend würde sie das obere Ende einer Abbruchkante erreichen, einen kleinen, vorstehenden Riss in der Landschaft, sehr alt, von dem aus man zweihundert Meter weit nach unten auf die Ebene schauen konnte. Glücklicherweise gab es in dem Steilhang eine Reihe schräger Simse, die als Treppe fungierten. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Dieser Steig wurde oft von Sonnenläufern verwendet, die hier entlangkamen, und war bereits seit Jahren von Staub und Geröll befreit. Es handelte sich um einen rissigen Weg aus sauberen Steinrampen, der sie im Zickzack zu der tiefer liegenden Ebene hinabführte. Sie fand, dass der Horizont sich auf dem Merkur in genau der richtigen Entfernung befand: Man konnte nicht einfach die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, aber man konnte zu ihm hingehen, um ihn sich näher anzusehen.
Jetzt gerade befand sich dort draußen eine Gruppe Sonnenläufer, die geduldig Richtung Westen stapfte. Kleine silberfarbene Gestalten, die sie an Inspektor Genette erinnerten und die soeben hinter dem Horizont verschwanden. Sie würden ein Weilchen wandern und sich dann in Karren oder auf Bahren legen, um zu schlafen, während die anderen sie weiterzogen. Zusammen wandern, die Schlafenden mitziehen – was für ein schönes Gefühl von Vertrauen und Fürsorge, wenn man sein Leben auf solch spielerische Art in die Hände von Fremden legte. Auch das machte es aus, ein Merkurianer zu sein. Lange Zeit hatte sie sonst keine Gesellschaft gebraucht, mit Ausnahme ihrer Stadt.
Sie erreichte den Fuß des Steilhangs und betrat die flache Geröllebene des Tricrena-Albedo. Hier verlor sich der Pfad, weil alle Wege gleich gut waren. Hier konnte sie in die Nacht hineinlaufen, vor der Dämmerung Boden gewinnen, sich auf den Yes Tor stellen und zusehen, wie die höchsten Punkte der Ebene wie Kerzen aufflackerten und von ihren leuchtenden Spitzen abwärts herunterbrannten. Auf ewig in der Morgendämmerung laufen, wie sehr es einem danach verlangen konnte! Wer mochte schon den Mittag oder die Abenddämmerung? Das Morgengrauen hinter sich lassen, in die Nacht zurückzulaufen. Den Tag aufschieben – wer wusste schon, was er bringen würde? Sie folgte keinem Plan, keiner Idee.
Eine ganze Weile rannte sie und dachte über nicht viel mehr nach als den Stein unter ihren Füßen und die Beschaffenheit des Geländes. Sonst brauchte sie nichts. Sie konnten dem Merkur die Eingeweide herausreißen, jedes wertvolle Mineral aus ihm herausholen, seine Oberfläche würde dadurch kein bisschen anders aussehen. Dieser Planet war bereits ein Backstein. Das schwer mitgenommene Gesicht eines alten Freundes. Überall waren Felsbrocken verteilt, Geröll, Müll, Auswurf. Die Staubdecke. Gold in den Bergen dort. Aber Freunde reden miteinander. Ich will mit jemandem reden können, und zwar so, dass es mir etwas bedeutet. Ich will Dinge hören, die mich interessieren, die mich überraschen, ganz egal, wie unmöglich es ist, mich zu überraschen. Nur dass es in Wahrheit ganz einfach ist, mich zu überraschen. Wie konnte es sein, dass niemand da war, um jemanden zu überraschen, der sich so leicht überraschen ließ?
Eine behäbige Person, eine saturnianische Person. Was, wenn es jemanden gab, auf den man sich verlassen konnte, jemanden, der ordentlich war, zuverlässig, vorhersehbar, bestimmt; entschieden, wenn er etwas hinreichend durchdacht hatte; großmütig; gütig. Jemand, der phlegmatisch war und dennoch zu kleinen Ausbrüchen der Begeisterung neigte, bei denen es meistens um ästhetische Freuden der einen oder anderen Art ging. Glücklich in der Gefahr, ein wenig trunken. Jemand, der eine Landschaft lieben konnte. Jemand, der gerne Tiere beobachtete und ihnen nachjagte, nur um einen Blick zu erhaschen. Jemand, der sie ansah, als wäre es ein interessantes Projekt, sie zu verstehen, und nicht nur ein zu lösendes Problem oder ein Stück Kulisse in einem wichtigeren Stück. Und der jeden, den er traf, mit derselben Aufmerksamkeit betrachtete. Oft mit einem kleinen Lächeln, das anscheinend Vergnügen an der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Zurückhaltend, aber freundlich. Wenn all unsere Bekanntschaften sich nur in Form von Sprache charakterisieren ließen, würden wir wie Geschöpfe erscheinen, die Widersprüche sammeln, Paradoxien, Oxymorons. Für jede Sache der einen Art gab es etwas Andersartiges, das sie aufwog. Menschen gab es in beide Richtungen. Bei jemandem wie ihm klang ein kleines, fröhliches Lachen geradezu ausgelassen.
Sie erreichte einen ihrer Lieblings-Goldsworthys, aus einer Zeit, als sie damit experimentiert hatte, Kugeln aus Blei und anderen Metallen, die in der Tageshitze schmelzen würden, auf Abhängen zu platzieren, in die sie Rinnen gekratzt hatte, sodass die Kugeln aus Blei, Kupfer oder Zinn, während der Tag über sie hinwegzog, in die Rinnen flossen und dabei Bilder oder Schriftzeichen bildeten, immer gestreckt, sodass sie von einem Aussichtspunkt auf einem nahe gelegenen Steilhang aus aufrecht zu stehen schienen. Bei dieser Skulptur, die sich nördlich von Mahler befand, hatte sie zwei Buchstabengruppen sorgfältig so angeordnet, dass sie einander überlappten und ihre Linien sich kreuzten, wobei die Passage zu dem einen oder dem anderen Wort gleich durchlässig waren. Wenn die Metallklümpchen in der Sonne schmolzen, staute das flüssige Metall sich an den Gabelungen, bis das eine oder das andere Gatter nachgab und das Reservoir sich leerte. Je nachdem, was an den Passagen passierte, konnten die Buchstaben der Installation also entweder das Wort »LEBEN« oder »STERBEN« bilden. Es handelte sich um die letzte einer Reihe von Antinomien, die sie in jenen Jahren der Landschaft und der Sonne ausgesetzt hatte, einschließlich aller sieben einander überlappenden Kardinaltugenden und Todsünden, die miteinander rangen wie Jakob mit Gott. Bislang stand das endgültige Urteil noch aus: Der Vorgang schien zufallsbestimmt zu sein. Aber in diesem speziellen Fall waren beide Passagen gleichzeitig durchbrochen worden, und der Metallstrom hatte nicht genügt, um alle Rinnen zu füllen. Manche waren zuerst vollgelaufen, und das Ergebnis, ein hell glitzerndes Silber- und Kupfergemisch, bildete das Wort »BETEN«.
Jetzt stand sie da und schaute von der Aussichtsplattform darauf hinab. Selbst damals war ihr dieses Ergebnis schon passend vorgekommen; und jetzt erschien es ihr geradezu zwingend. Man konnte nach wie vor die leeren Rinnen der einander überlappenden Worte sehen, das Leere L und R. Aber das Wort »BETEN«, das metallisch vor der dunklen Landschaft leuchtete, stach heraus. Wirklich sehr passend. Die Leute behaupteten, dass sie es mit Absicht so eingerichtet hatte, aber dem war nicht so: Die Dämme waren gleich stark gewesen und von alleine zur gleichen Zeit gebrochen, und gewisse Buchstaben waren zuerst vollgelaufen – ein Clinamen. Aber in gewisser Weise sagte es die Wahrheit aus. Weder lebten sie noch starben sie – sie taten beides zugleich –, und so beteten sie, um den Widerspruch zu versöhnen. Gleichzeitig blieb es eine Lüge. Und so logen sie und logen erneut. Man konnte also ebenso gut weitermachen.
Nach einer Weile wandte sie sich nach Süden, um zur nächsten Plattform zu gelangen, bevor die Stadt sich über den Horizont schob. Sobald sie über den niedrigen Rand des uralten Kraters Kenkˉo stieg, würde sie die Schienen Terminators sehen können, schwach schimmernd, im Tal zu ihren Füßen.
Vom Kraterrand des Kenkˉo aus stieg sie zur Südseite herab. Sie sah die Schienen, und eine einsame Gestalt, die sich ihr entgegen den Hang empormühte. Rund, groß: Und sie erkannte seine Art zu gehen im ersten Moment, o ja, sie kannte diese Art zu gehen!
Swan schaltete auf den offenen Kanal: »Wahram?«
»Ich bin’s, ich bin auf der Jagd nach dir.«
»Du hast mich gefunden.«
»Ja. Wolltest du bald in die Stadt zurückkommen? Ich habe nämlich nichts zu essen dabei.«
»Ja, das wollte ich. Wann bist du denn angekommen?«
»Gestern. Ich wandere erst seit ein paar Stunden. Die Stadt müsste jeden Moment in Sicht kommen.«
»Gut. Gut. Lass uns runtergehen, um sie abzupassen.« Sie ging zu ihm und nahm ihn in die Arme. Trotz ihrer Anzüge fühlte sein Körper sich vertraut an, rund und füllig, größer als sie. »Danke, dass du rausgekommen bist, um mich zu holen.«
»Glaub mir, das Vergnügen ist ganz meinerseits. Ich bin den ganzen Weg von Titan bis hierher gereist.«
»Das dachte ich mir schon. Wie geht es deinem neuen Bein?«
Er deutete nach unten. »Ständig trete ich damit auf und stelle fest, dass es nicht dort ist, wo ich es vermutet habe. Anscheinend reden die Phantomnerven des alten Beins immer noch mit mir und bringen alles durcheinander.«
»Genau wie mein Kopf!«, sagte Swan, ohne darüber nachzudenken, und lachte gequält. »Jedes Mal, wenn ich mir einen neuen wachsen lasse, ist er nicht mehr dort, wo ich es dachte.«
Wahram betrachtete sie lächelnd. »Angeblich gewöhnt man sich schnell daran.«
»Hmm.«
»Wo wir gerade von nachwachsenden Köpfen reden – hast du eigentlich schon über das nachgedacht, was ich gesagt habe, während wir im Weltraum verschollen waren? Und natürlich auch über das, was ich danach auf der Venus gesagt habe.«
»Ja, das habe ich.«
»Und?«
»Tja, ich weiß nicht.«
Wahram runzelte die Stirn. »Hast du mit Pauline darüber geredet?«
»Tja, ich denke schon.«
Eigentlich war sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen.
Wahram musterte sie. Schon bald würde die Sonne sie erreichen. Er sagte: »Pauline, willst du mich heiraten?«
»Ja«, sagte Pauline.
»He, Moment mal!«, rief Swan. »Ich bin diejenige, die ja sagen muss.«
»Ich dachte, das hättest du gerade«, erwiderte Wahram.
»Nein, das habe ich nicht! Pauline ist sehr wohl ein unabhängiges Wesen in meinem Kopf. Deshalb habt ihr mich ja auch von euren Konferenzen ausgeschlossen, nicht wahr?«
»Ja, aber ihr beiden seid eine Einheit. Deshalb konnten wir dich nicht teilnehmen lassen, ohne gleichzeitig auch sie teilnehmen zu lassen. Ich weise nicht als Erster darauf hin: Du hast Pauline programmiert und tust es auch weiterhin. Insofern ist sie eine Art Projektion von dir …«
»Absolut nicht!«
»… oder vielleicht lässt sie sich besser als eines deiner Kunstwerke beschreiben. Die sind oft sehr persönlich.«
»Meine Steinhaufen sind persönlich?«
»Ja. Nicht so persönlich wie eine Woche lang nackt auf einem Eisklotz zu sitzen und dein eigenes Blut zu trinken, aber trotzdem sehr persönlich.«
»Tja, Pauline ist aber kein Kunstwerk.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist sie so etwas wie eine Bauchrednerpuppe. Ist das nicht Kunst? Eine Vorrichtung, durch die man spricht. Insofern fühle ich mich sehr ermutigt.«
»Das solltest du nicht!«
Aber offensichtlich tat er genau das. Mit der Zeit, begriff Swan, würde das eine Rolle spielen – dass er an Pauline glaubte. Sie ging zum nächsten Bahnsteig hinab, und Wahram folgte ihr.
Nach einer Weile sagte er: »Danke, Pauline.«
»Nichts zu danken«, antwortete Pauline.